Zum 95. Geburtstag von Georg Ratzinger
Priesterlich im Dienst der Musik: Zum 95. Geburtstag von Georg Ratzinger
Quelle
Msgr. Georg Ratzinger – Div. weitere Beiträge
Von Thorsten Paprotny, 15. Januar 2019
Geistliche Musik, der “Widerschein der Schönheit Gottes” (Benedikt XVI.), trägt die Herzen empor. Gregorianische Choräle berühren und bewegen oft auch Menschen von innen her, die dem Glauben fernstehen. Kirchenmusik erzählt auf ihre Weise von Gottes Liebe. Musik, so sagte Benedikt XVI. anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Krakau am 4. Juli 2015, beschreibe Erfahrungsräume und erschliesse Dimensionen der Wirklichkeit, die sprachlich nur unzureichend oder gar nicht mehr erfasst werden könnten. In der Feier der Liturgie sei die Musik eine “grosse und reine Antwort”, eine “Begegnung mit der Wahrheit”, ja ein “Wahrheitsbeweis des Christentums”. Der emeritierte Papst mag bei diesen Worten besonders seinen Bruder im Sinn gehabt haben. Voller Dankbarkeit denken in diesen Tagen Musikfreunde und Christen im Bistum Regensburg und in aller Welt an den 95. Geburtstag von Georg Ratzinger.
Geboren wurde er am 15. Januar 1924 in Pleiskirchen. Er amtierte von 1964 bis 1994 im Hohen Dom zu Regensburg als Domkapellmeister und Chorleiter der Regensburger Domspatzen. Der Bruder des emeritierten Papstes Benedikt XVI. – Prälat, Apostolischer Pronotar und Kanonikus des Stiftes St. Johann – liebt Musik seit Kindertagen. Ein Schöngeist also? Ganz sicher, Priester und Musiker, von ganzem Herzen, zugleich bodenständig und lebensfroh. Erinnern tut er sich auch an kulinarische Köstlichkeiten, etwa an die bayerischen Dampfnudeln, die seine Mutter kochte, und die Süssspeisen: “Geliebt haben wir auch ihren Apfelstrudel.” Wenn Georg Ratzinger von “Wir” spricht, dann meint er, der Familienmensch, besonders die Geschwister Maria und Joseph. Es war eine Gnade, in den schweren Zeiten der Weimarer Republik in einem behüteten Zuhause aufwachsen zu dürfen, in einer aufrichtig gläubigen römisch-katholischen Familie, geradlinig, fromm und der Kirche treu ergeben – und so auch gegenüber dem aufziehenden Ungeist des Nationalsozialismus immun.
In jungen Jahren bereits komponierte Georg Ratzinger und spielte Geige, die Schwester Maria Harmonium. Bruder Joseph sass am Klavier. Die Geborgenheit in der Familie hat Papst Benedikt XVI. am 2. Juni 2012 in Mailand sorgfältig und sensibel beschrieben: “Besonders wichtig war für unsere Familie immer der Sonntag, aber der Sonntag begann schon am Samstagnachmittag. Unser Vater las uns die Lesung – die Sonntagslesung – aus einem Buch vor, das damals in Deutschland sehr verbreitet war und in dem die Texte auch erklärt wurden. So begann also der Sonntag: wir traten bereits in die Liturgie ein, in eine Atmosphäre der Freude. Tags darauf gingen wir zur Messe. Ich bin in der Nähe von Salzburg zu Hause, wir hatten also viel Musik – Mozart, Schubert, Haydn – und wenn das Kyrie anhob, dann war es, als würde sich der Himmel auftun. Wichtig war bei uns zu Hause natürlich auch das gemeinsame Mittagessen. Wir haben auch viel miteinander gesungen: mein Bruder ist ein grosser Musiker, schon als Junge hat er für uns alle komponiert, und so hat die ganze Familie gesungen. … Mit einem Wort: wir waren ein Herz und eine Seele, haben vieles gemeinsam erlebt und durchgestanden, auch in schweren Zeiten, weil damals die Zeit des Krieges war, davor die Zeit der Diktatur und dann der Armut. Aber diese Liebe, die uns verband, diese Freude auch an einfachen Dingen, war stark, und so konnte man auch diese Dinge ertragen und überwinden. Das erscheint mir sehr wichtig: dass auch kleine Dinge Freude machten, weil so das Innerste des Herzens des anderen zum Ausdruck kam. So sind wir also aufgewachsen in der Gewissheit, dass es gut ist, ein Mensch zu sein, denn wir konnten ja sehen, dass sich die Güte Gottes in unseren Eltern und Geschwistern widerspiegelte.” Die Schönheit eines solchen Familienlebens wie im Hause Ratzinger – eine wahre Hauskirche –, wird sichtbar, und so wird die Familie auch zu einem fruchtbaren Boden für geistliche Berufungen.
Im Alter von 10 Jahren bereits begleitete Georg Ratzinger auf dem Harmonium die Schulmesse. Die “Aschauer Pfarrchronik” verzeichnet am 20. Dezember 1934: “Ein Schüler der 5. Klasse begleitete prächtig die deutschen Singmessen und die lateinische Choralmesse.” Georg half also aus, denn der Musiklehrer und Kirchenmusiker, so erzählt er 2008 dem Historiker Michael Hesemann in dem kostbaren Buch “Mein Bruder, der Papst”, sei ein strammer Nazi gewesen, der für die Begleitung der heiligen Messe keine Zeit mehr hatte. Die Ratzingers verehrten Papst Pius XII. sehr, der “nicht nur eine Geistesgrösse, sondern auch eine geistliche Grösse war”. Damals habe es noch “keine antipäpstlichen Anwandlungen” gegeben. Am 29. Juni 1951 empfingen Georg und Joseph Ratzinger das Sakrament der Priesterweihe im Dom zu Freising. Joseph, zum Gelehrten berufen, wurde bald Dozent am Freisinger Priesterseminar. Georg studierte weiter Kirchenmusik in München und war zeitgleich als Kaplan in der Münchner Pfarrei St. Ludwig tätig. Nach Abschluss des Meisterkurses wurde er 1957 Chorregent in der Traunsteiner Pfarrkirche St. Oswald, in der er, wie sein Bruder, auch die Primizmesse gefeiert hatte. Als Nachfolger des am 15. November 1963 verstorbenen Dr. Theobald Schrems wurde er 1964 zum Domkapellmeister und Chorleiter der Regensburger Domspatzen bestellt. Dreissig Jahre lang übte er im Regensburger Dom, wie sein Bruder anlässlich des 85. Geburtstages sagte, eine “doppelte Berufung” aus – priesterlich im Dienst der Musik stehend –, die ihn mit dem Chor auch auf Konzertreisen durch Europa, nach Amerika und Asien führte.
Georg Ratzinger folgte der nachkonziliaren Liturgiereform zunächst mit grosser Skepsis. Der Regensburger Bischof Rudolf Graber und das Domkapitel zeigten sich sehr verständnisvoll. Der ehemalige Domkapellmeister berichtet über diese Zeit: “Wertvolle Dinge, die einmal als wichtig und gut empfunden wurden, soll man auch nicht so ohne Weiteres wegschenken. So wurde es uns nicht nur erlaubt, es wurde geradezu als Verpflichtung empfunden, das Alte weiterhin zu pflegen.” So sei im Dom St. Peter nicht ein “schmerzlicher Umbruch”, sondern eine “organische Entwicklung” erfolgt. Als Joseph Ratzinger 1969 auf den Lehrstuhl für Dogmatik an die Universität Regensburg berufen wurde, waren die drei Geschwister überzeugt, dass sie ein Zuhause in der Donaustadt gefunden hatten. Im Pentlinger Haus, das Joseph und Maria bezogen, fühlte sich auch Georg heimisch: “Wir haben damals wirklich geglaubt, Regensburg sei die letzte Station auf dem Weg meins Bruders. So sagten wir uns eines Tages, das Grab unserer Eltern ist so einsam in Traunstein, das holen wir jetzt nach Regensburg! 1974 liessen wir den Grabstein und ihre sterblichen Überreste überführen und sie auf dem Ziegetsdorfer Friedhof beisetzen. Doch dann kam wieder einmal alles ganz anders.” Über München und Freising führte Joseph Ratzingers Weg nach Rom. Die Schwester Maria starb 1991 in Pentling. Die Brüder Ratzinger verweilten ein letztes Mal 2006 gemeinsam im Gebet am Familiengrab.
Das Nachlassen der körperlichen Kräfte ertragen der emeritierte Papst und sein Bruder so gelassen wie möglich. Georg Ratzinger kommentierte dies gelegentlich mit dem ihm eigenen Humor: “Wie wir halt sind, wir alten Dackel.” Im Glauben der Kirche zu leben, heisst auch – dankbar und bewusst auf das “letzte Examen” zuzugehen.
Georg Ratzingers Wirken als Priester und Musiker stand und steht bis heute im Zeichen der Freude am Glauben. Diese gewinnt Gestalt in der Würde der Liturgie und in der leuchtenden Schönheit der Musik, in der auch die Güte und der Glanz der Wahrheit Gottes vernehmbar werden. Zwischen den Brüdern Ratzinger besteht in Bezug auf die Musik ein kleiner, doch wesentlicher Unterschied. Joseph, so erzählt Georg, habe zwar stets “Freude an der Musik” gehabt, sei der Musik aber nie “verfallen” gewesen. Und der Jubilar selbst? “Ich habe die Musik immer leidenschaftlich geliebt.”
Dem priesterlichen Kirchenmusiker im Weinberg des Herrn sei sehr herzlich zum 95. Geburtstag gratuliert. Wer Georg Ratzinger ein kostbares Geschenk machen möchte, der möge an ihn heute besonders im Gebet denken. Vielleicht würde er seinerseits dankend selbst, leise und bestimmt, einen Herzenswunsch äussern: Betet bitte zugleich für meinen lieben Bruder Joseph!
Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmässig in den “Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.”.
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