Was heisst Abendland?

Ein alter Ausdruck ist derzeit wieder als Schlagwort präsent. Woher kommt er? Wofür steht er?

Die Tagespost. 07. Januar 2015

Von Michael F. Feldkamp

Zu den strapazierten Begriffen der letzten Wochen gehört “Abendland” oder gar “christliches Abendland”. Täglich sind die Schlagworte durch die von Dresden ausgegangene Protestbewegung präsent, deren Abkürzung Pegida für “Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes” steht. Ausser im Namen kommt in dem 19 Punkte umfassenden Grundsatzpapier das Wort “Abendland” aber nicht mehr vor. Was verbirgt sich hinter dem Begriff und taugt er für eine zielführende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung?

Zum ersten Mal ist der Begriff “Abendland” im Jahre 1529 nachgewiesen. Der Strassburger Humanist und Historiker Kaspar Hedio kreierte ihn als Gegenbegriff zum “Morgenland”. Dies wiederum war eine Wortschöpfung Martin Luthers.

Luther hatte in seiner wortgewaltigen Bibelübersetzung über die Begegnung mit den “Magiern“ geschrieben, dass sie dem Stern, “den sie im Morgenland gesehen hatten” (Mt 2, 1), bis nach Bethlehem gefolgt seien. Wörtlich muss der zitierte Halbsatz jedoch lauten “Der Stern, den sie im Abendaufgang gesehen hatten, führte sie voran“. Bis zur heute gebräuchlichen revidierten Fassung von 1984 hat sich Luthers Wortschöpfung gehalten; ihr folgte gewissermassen zwangsläufig der Begriff “Abendland” Kaspar Hedios.

Noch im 18. Jahrhundert wurde “Abendland” fast ausschliesslich im Plural gebraucht. Für die deutschsprachigen Gelehrten des frühneuzeitlichen Mitteleuropas waren mit dem Begriff “Abendländer“ im Prinzip die Länder und Reiche gemeint, die im westlichen Teil des ehemaligen römischen Reiches lagen, sich also erst im Zuge der Völkerwanderung im ehemaligen Westrom gebildet hatten; dort wo die Sonne unterging. So blieb der Begriff “Abendländer” bis ins 19. Jahrhundert den Historikern vorbehalten, während schon die Schriftsteller der Romantik von “Europa” sprachen.

“Abendland“ war und ist ein rein deutscher Begriff geblieben. Er wird in anderen Sprachen als “Okzident“ zurückübersetzt und verliert dadurch jene Schlagkraft, die er in der kulturpolitischen Debatte des 19. und 20. Jahrhundert erhielt.

Angesichts des Endes des “Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ (1803/06) wurde der Begriff “Abendland” Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst synonym für Mittelalter verwendet. Friedrich Schlegel machte “Abendland” zu einer “historischen Kategorie” und schuf die Voraussetzung, dass es zum ideologischen Leitwort einer christlichen und europäischen Politik wurde (Ernst Wolf, Religion in Geschichte und Gegenwart, 1957). Damit verbunden war die Frage der Periodisierung der Geschichte. Bei Schlegel stand das abendländische Reich Karls des Grossen in der Kontinuität zum weströmischen Reich. Für Leopold von Ranke waren die römisch-germanischen Völker, die klassische Antike sowie das Christentum kennzeichnend für das ganze Mittelalter, das unter der Bedrohung durch den Islam sowie die heidnischen Sachsen und Friesen entstanden sei. Nach der Vorstellung des 19. Jahrhunderts hätten die von den Humanisten wiederentdeckte Antike und sogar das auch von diesen selbst stärker zurückgedrängte Christentum den “Geist des Abendlandes” geprägt.

Mit der Harmonisierung von Antike und Christentum zu einer “abendländischen Idee” wurde der Begriff “Abendland” vom Mittelalter gelöst und es gelang – auch nach den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen infolge der Erfindung des Buchdrucks, der Entdeckung Amerikas – den abendländischen Gedanken in die Neuzeit zu retten. Die abendländische Idee wurde zu einer epochenübergreifenden Idee, und es wurde damit eine vorgebliche Kontinuität bis in die Gegenwart hineininterpretiert. Aus dem auf das Mittelalter beschränkten geografischen Begriff entstand bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Vision von einer Welt mit einer christlichen Gesellschaftsordnung, die Sehnsucht nach einer vollkommenen Gesellschaft, einer “societas perfecta”. Umso schmerzvoller war für die Anhänger der abendländischen Idee das Erscheinen des Buches des bis dahin unbekannten Privatgelehrten Oswald Spengler im Jahre 1918, das bereits in seinem Titel den “Untergang des Abendlandes” herbeibeschwor. Mit doppeldeutigem Hintersinn wurde aus dem Land der untergehenden Sonne das untergehende Abendland. In Spenglers Werk wurde aus der abendländischen Idee eine dem Tod geweihte Fratze, ein Ausbund an schicksalhafter Dekadenz. Das Abendland schien seinem Ende entgegenzugehen. Es befand sich Spengler zufolge in einer unausweichlichen, weil gesetzmässigen Entwicklung. Darüber hinaus leugnete Spengler für seine Abendlandidee jedwede Voraussetzung in der griechisch-römischen und christlichen Kultur. Das machte es Spenglers Gegnern leicht, seinen historischen Fantasien zu widersprechen.

Der von Spengler verkündete Kulturpessimismus, getragen von der deprimierenden Nachkriegsstimmung in Deutschland, führte dazu, dass überwiegend Katholiken aus dem gesamten deutschsprachigen Raum eine Zeitschrift mit dem Titel “Abendland. Deutsche Monatshefte für europäische Kultur, Politik und Wirtschaft“ begründeten. In ihrer ersten Nummer vom Oktober 1925 riefen die Herausgeber zu “Friede und Gerechtigkeit im Reiche der Ordnung” auf und prangerten an: Heute sei eben dieses Ideal “vergessen und unwirksam geworden, auch bei den Katholiken, die die Aufgabe gehabt hatten, es zu hüten. In der Lehre wird es aber noch bewahrt. Und nun ist es an der Zeit, es wieder zur wirkenden Kraft zu machen in allen Bereichen, besonders aber in dem verwüstetsten: der Politik.” Europa sollte der christlich-abendländischen Idee verpflichtet sein und nach Karl dem Grossen “zum Segen der Welt seine dritte Wiedergeburt erleben”. Nicht ein Weltreich, sondern eine einheitliche christliche Weltordnung wurde herbeigesehnt. Oder wie Friedrich Schreyvogel es ausdrückte: “Das Abendland ist eine politische Konstruktion nach einem überpolitischen Baugesetz.” Dieses Baugesetz könne nur das Christentum und im engeren Sinne nur der Katholizismus liefern. An die abendländische Idee der Weimarer Republik war die deutsche Einheit und Einigkeit genauso geknüpft, wie die diffus beschriebene “bitterste Grenzlandnot” am Rhein.

Unter den Nationalsozialisten war die abendländische Idee, die inzwischen synonym für “christliches Abendland” stand, durch deutschtümelnde Tugenden und Moralvorstellungen ersetzt worden, sowie durch eine Rassenlehre, mit der die Judenvernichtung ideologisch vorbereitet und begründet wurde.

Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde – in einer vergleichbaren Situation wie in der Weimarer Zeit – schon im März 1946 die Zeitschrift “Neues Abendland” gegründet. Dieses Organ stellte sich in den “Dienst der Erneuerung Deutschlands aus christlich-universalistischem Geist, also im Sinne echter abendländischer Geisteshaltung; wohlwissend, dass nur ein wieder christliches und föderalistisches Deutschland heimfindet zur Mater occidentalis!” Bildungspolitisch wurde ein “christlicher Humanismus” eingefordert und der Bildungswert der alten Sprachen Latein und Griechisch herausgestellt.

Das Christentum galt als Fundament des Abendlandes und Europas; ja, es stand sogar Pate bei der Gründung der CDU in Deutschland. Mit Karl dem Grossen fing es an und sollte seine Fortsetzung im Europakonzept der Katholiken Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi finden. Dieser Gedanke wurde publizistisch vor allem von der katholischen Presse der Nachkriegsjahre vertreten. Aber über alle Konfessionsgrenzen hinaus haben Historiker, Soziologen und Theologen den Begriff benutzt, darunter Karl Adam, Ernst Robert Curtius, Alois Dempf, Herbert Grundmann, Romano Guardini, Theodor Haecker, Paul Egon Hübinger, Oskar Köhler, Percy Ernst Schramm und Alfred Weber.

Auch wenn der Begriff “Abendland” historisch unbrauchbar schien, so lag ihm in der Europavision der drei katholischen Politiker eine “geschichtliche Realität zugrunde” und damit wurde der Begriff “Abendland“ “historisch unentbehrlich“ (Oskar Köhler, in: Theologische Realenzyklika, 1977). Abendland war mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1957 fortan kein frommer Wunsch mehr. Erst im Zuge der Studentenunruhen wurde das “christliche Abendland“ als ein Adenauerscher Leitbegriff diskreditiert. Das gelang, weil sich das protestantische Deutschland nie mit der christlichen Abendlandidee identifiziert hatte.

Wie sehr religiös-konfessionell der Begriff “Abendland“ gebunden ist, wurde in der vor einigen Jahren geführten Debatte um eine deutsche Leitkultur deutlich, die ihn nicht verwendete und sich stattdessen am Begriff “Verfassungspatriotismus“ abarbeitete. Bei dieser Debatte ging es um die Frage der Abgrenzung zu anderen Kulturen oder gar einer Multikultur in Deutschland. Die Leitkulturdebatte war keine religiöse Auseinandersetzung. Sie war auf der Suche nach einer die deutschen Befindlichkeiten berücksichtigenden europäischen Kultur. Ein christlich-abendländisches Weltbild stand gar nicht mehr zur Diskussion, weil es seit der 1968er-Bewegung nicht mehr als tauglich erschien.

Erstmals in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Islam – und hier angesichts des extremistischen Islams oder Islamismus – wurde der Begriff “Abendland“ verwendet: Die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) überraschte im Wahlkampf zur Europawahl am 7. Juni 2009 mit dem Slogan “Abendland in Christenhand”. Sie wärmte die kulturpessimistische Abendlandidee Spenglers auf und verband diese unheilvoll mit dem Christlichen, wie es die Katholiken in der Weimarer Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gemeint hatten. Sie haben bei ihrer Abendlandidee nicht das Abgrenzende und Fremde, sondern das integrative europäisch-christliche Moment herausstellen wollen.

Heute besteht bei einer Verwendung des Schlagwortes vom “christlichen Abendland“ in einer Islamdebatte die ernste Sorge vor einer Vereinnahmung der Kirche Christi in ein antimuslimisches Lager. Diese Abendlandvorstellung widerspricht der Lehre von der Nächstenliebe und hat deswegen ja auch zu entschiedenen ablehnenden kirchlichen Stellungnahmen geführt, alleine schon um vorzubeugen, dass die katholische Kirche in Deutschland in einen fremdenfeindlichen Sog manövriert wird.

“Abendland“ bezeichnet bis heute einen aus Antike und Christentum gespeisten kulturellen Kontext. Von den Inhalten und Idealen beider Kulturepochen hat sich unsere heutige Gesellschaft entfernt. Seit der Wiedervereinigung wurde das “christliche Abendland“ in der Sprache bundesrepublikanischer Politiker beharrlich durch die Betonung einer “christlich-jüdischen Tradition und Kultur“ in Deutschland ersetzt. Das neue Schlagwort kam besonders zum Einsatz, um Bundespräsident Christian Wulff zu widersprechen, der in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 behauptete, der Islam gehöre zu Deutschland. Zum einen diente auch der neue Begriff von der “christlich-jüdischen Tradition“ zur Abgrenzung gegen den Islam. Zum anderen aber wurde auch noch die christlich-humanistisch-abendländische Idee, die explizit die griechische Philosophie mit einbezogen hatte, von der kulturpolitischen Fiktion einer “christlich-jüdischen Tradition“ abgelöst, ohne dass deren Bestandteile analysiert wurden. Immerhin wird mit Bezugnahme auf das Judentum die historische deutsche Verantwortung für den Holocaust in der politischen Diskussion demonstriert. Und neuerdings werden sogar Forderungen nach einem “abrahamischen Europa“ laut, deren Verfechter eine grosszügigere Einwanderungspolitik und eine starke Assimilierung des Christentums fordern.

Die christlich-abendländische Idee war mit Gründung der Europäischen Union Realität geworden. Ohne dass eine zukunftsfähige Europavision entwickelt wurde, wurden neue unspezifische und geschichtslose Termini eingeführt, die zu einem zusehends entchristlichten sowie gesichtslosen Europa beitragen. Als politischer Kampfbegriff eignet sich der stets als christliches Abendland verstandene Begriff aber nicht. Er sollte vielmehr mit Inhalt und Geist gefüllt werden, damit die christlich-abendländische Kultur Europas an ihrer Bedeutung für eine neue europäische Vision nichts eingebüsst.

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