Gerichtshof der Römischen Rota
Ansprache von Papst Benedikt XVI. anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres des Gerichtshofes der Römischen Rota
Sala Clementina, Samstag, 21. Januar 2012
Quelle
Gericht der römischen Rota – Vatikan
1994 – Jahr der Familie – Brief Papst Johannes Pauls II. an die Familien
‘Gratissimam sane’ – Apostolischer Brief zum Internationalen Jahr der Familie
Sapienti consilio
Liebe Mitglieder des Gerichtshofes der Römischen Rota!
Ich freue mich, euch heute zur alljährlichen Begegnung anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres zu empfangen. Mein Gruss ergeht an das Kollegium der Prälaten-Auditoren, angefangen beim Dekan, Bischof Antoni Stankiewicz, dem ich für seine Worte danke. Mein herzlicher Gruss gilt auch den Beamten, den Anwälten, den übrigen Mitarbeitern sowie allen Anwesenden. Bei dieser Gelegenheit bringe ich erneut meine Anerkennung zum Ausdruck für den schwierigen und wertvollen Dienst, den ihr in der Kirche durchführt und der immer wieder einen erneuerten Einsatz erfordert aufgrund der grossen Bedeutung, den er für die »salus animarum« des Gottesvolkes hat.
In der diesjährigen Begegnung möchte ich von einem wichtigen kirchlichen Ereignis ausgehen, das wir in einigen Monaten erleben werden: das Jahr des Glaubens, das ich auf den Spuren meines verehrten Vorgängers, des Dieners Gottes Paul VI., zum 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgerufen habe. Jener große Papst bestimmte – wie ich im Apostolischen Schreiben zur Ausrufung geschrieben habe – zum ersten Mal eine solche Zeit der Reflexion, »da er sich der schweren Probleme der Zeit – vor allem in bezug auf das Bekenntnis des wahren Glaubens und seine rechte Auslegung – wohl bewußt war«. [1]
An ein ähnliches Erfordernis anknüpfend gehe ich nun zu dem Bereich über, der euren Dienst an der Kirche direkter betrifft, und möchte heute über einen Grundaspekt des Dienstes im Gerichtswesen sprechen: die Auslegung des kirchlichen Gesetzes im Hinblick auf seine Anwendung.[2] Die Verbindung zu dem eben erwähnten Thema – die rechte Auslegung des Glaubens – ist natürlich nicht auf eine rein semantische Übereinstimmung beschränkt, da das Kirchenrecht in den Glaubenswahrheiten seine Grundlage und seinen Sinn hat und die »lex agendi« stets die »lex credendi« widerspiegelt.
Das Problem der Auslegung des kirchlichen Gesetzes ist darüber hinaus ein sehr weitgreifendes und komplexes Thema. Ich werde mich daher auf einige Anmerkungen beschränken. Zunächst einmal ist die Hermeneutik des Kirchenrechts eng mit der Auffassung vom kirchlichen Gesetz verbunden. Wenn man dazu tendieren würde, das Kirchenrecht mit dem System der kirchlichen Gesetze gleichzusetzen, dann bestünde die Kenntnis dessen, was in der Kirche rechtlich ist, im wesentlichen darin zu verstehen, was die Rechtstexte bestimmen. Auf den ersten Blick bringt dieser Ansatz dem menschlichen Gesetz scheinbar volle Wertschätzung entgegen. Aber diese Auffassung würde eine deutliche Verarmung mit sich bringen: Wenn man das Naturrecht und das positive göttliche Recht sowie die lebenswichtige Beziehung eines jeden Rechts zur Gemeinschaft und Sendung der Kirche praktisch vergißt, wird die Arbeit des Auslegers der lebenswichtigen Verbindung mit der kirchlichen Wirklichkeit beraubt. In letzter Zeit haben einige Denkströmungen vor einer übertriebenen Treue gegenüber den Gesetzen der Kirche, angefangen bei den Kodizes, gewarnt; sie fassen es als Ausdruck des Legalismus auf. Folglich wurden hermeneutische Wege vorgeschlagen, die einen Ansatz zulassen, der den theologischen Grundlagen und den auch pastoralen Anliegen der Kirchengesetzgebung besser entspricht. Dies hat zu einer Kreativität im rechtlichen Bereich geführt, bei der die einzelne Situation zum entscheidenden Faktor bei der Feststellung der wahren Bedeutung der Rechtsvorschrift im konkreten Fall wird. Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, »oikonomia« – sehr geschätzt in der östlichen Tradition – sind einige der Begriffe, auf die man bei dieser Auslegungstätigkeit zurückgreift. Es muß sofort gesagt werden, daß dieser Ansatz den Positivismus, den er anklagt, nicht überwindet, sondern sich darauf beschränkt, ihn durch einen anderen zu ersetzen, in dem die menschliche Auslegungstätigkeit sich zum Protagonisten aufschwingt bei der Bestimmung dessen, was rechtlich ist. Es fehlt das Bewußtsein für ein objektives Recht, nach dem gesucht werden muß, denn dieses bleibt Spielball von Überlegungen, die den Anspruch erheben, theologisch oder pastoral zu sein, am Ende jedoch der Gefahr der Willkür ausgesetzt sind. Auf diese Weise wird die Rechtshermeneutik ausgehöhlt: Im Grunde besteht kein Interesse daran, die Gesetzesweisung zu verstehen, da sie jeder Lösung dynamisch angepaßt werden kann, auch wenn diese dem Buchstaben des Gesetzes widerspricht.
Natürlich nimmt man in diesem Fall Bezug auf die Lebensphänomene; die ihnen innenwohnende rechtliche Dimension wird jedoch nicht erfaßt. Es gibt einen anderen Weg, auf dem das angemessene Verständnis des kirchlichen Gesetzes den Weg öffnet für eine Auslegungstätigkeit, die in die Suche nach der Wahrheit über Recht und Gerechtigkeit in der Kirche eingebunden ist. Wie ich vor dem Bundestag meines Landes im Berliner Reichstagsgebäude erläutert habe,[3] ist das wahre Recht untrennbar von der Gerechtigkeit. Dieses Prinzip gilt natürlich auch für das kirchliche Gesetz, in dem Sinne, daß es nicht in ein rein menschliches Normensystem eingeschlossen werden kann, sondern mit der rechten Ordnung der Kirche verbunden sein muß, in der ein höheres Gesetz gilt. Unter diesem Gesichtspunkt verliert das positive menschliche Recht die Vorrangstellung, die man ihm zuerkennen möchte, da das Recht nicht mehr einfach mit ihm gleichgesetzt wird; das menschliche Gesetz erhält dadurch jedoch Wertschätzung als Ausdruck der Gerechtigkeit, zunächst einmal für das, was es zum göttlichen Gesetz erklärt, aber auch für das, was es als rechtmäßigen Beschluß des menschlichen Rechts einführt.
Auf diese Weise wird eine Rechtshermeneutik ermöglicht, die wirklich rechtlich ist, in dem Sinne, daß man in Übereinstimmung mit der wirklichen Bedeutung des Gesetzes die entscheidende Frage stellen kann nach dem, was in jedem einzelnen Fall rechtmäßig ist. In diesem Zusammenhang sollte Folgendes angemerkt werden: Um die wirkliche Bedeutung des Gesetzes zu erfassen, muß man stets auf die Wirklichkeit blicken, die geregelt wird, und zwar nicht nur dann, wenn das Gesetz vorwiegend das göttliche Recht zum Ausdruck bringt, sondern auch dann, wenn es in konstitutiver Form menschliche Regelungen einführt. Diese müssen nämlich auch im Licht der Wirklichkeit ausgelegt werden, für die die Regelungen gelten und die stets einen Kern des Naturrechts und positiven göttlichen Rechts enthält, mit dem jede Norm im Einklang stehen muß, um vernünftig und wirklich rechtlich zu sein. Aus einer solchen realistischen Perspektive heraus erhält das – zuweilen sehr schwierige – Bemühen um Auslegung einen Sinn und ein Ziel.
Der Gebrauch der im Canon 17 des Codex des Kanonischen Rechtes vorgesehenen Auslegungsregeln, angefangen bei der »im Text und im Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung«, ist nicht mehr eine rein logische Übung. Es handelt sich um eine Aufgabe, die von einer echten Verbindung zur gesamten Wirklichkeit der Kirche belebt wird, die es gestattet, in den wahren Sinn des Buchstabens des Gesetzes einzudringen. Es geschieht also etwas ähnliches wie das, was ich zum inneren Prozeß des hl. Augustinus in der Bibelhermeneutik gesagt habe: »Die Überschreitung des Buchstabens [hat] den Buchstaben selbst glaubwürdig gemacht«.[4] So bestätigt sich, daß auch in der Gesetzeshermeneutik der wahre Horizont die rechtliche Wahrheit ist, die man lieben, suchen und der man dienen muß.
Daraus folgt, daß die Auslegung des kirchlichen Gesetzes in der Kirche geschehen muß. Es handelt sich nicht um eine rein äußerliche, das Umfeld betreffende Gegebenheit, sondern es verweist auf den »humus« des kirchlichen Gesetzes und der Wirklichkeiten, die von ihm geregelt werden. Das »Sentire cum Ecclesia« hat auch in der Disziplin einen Sinn, aufgrund der lehramtlichen Grundlagen, die in den Rechtsvorschriften der Kirche stets gegenwärtig und wirksam sind. Auf diese Weise wird auch auf das kirchliche Gesetz jene Hermeneutik der Erneuerung in der Kontinuität angewandt, über die ich in bezug auf das Zweite Vatikanische Konzil gesprochen habe,[5] das mit der gegenwärtigen kanonischen Gesetzgebung so eng verbunden ist. Die christliche Reife führt dazu, das Gesetz immer mehr zu lieben und es verstehen und treu anwenden zu wollen.
Diese Grundhaltungen gelten für alle Kategorien der Auslegung: von der wissenschaftlichen Forschung zum Kirchenrecht über die Arbeit der mit der Rechtsanwendung beauftragten Personen am Gericht oder in der Verwaltung bis hin zur täglichen Suche nach den richtigen Lösungen im Leben der Gläubigen und der Gemeinschaften. Es bedarf eines Geistes der Fügsamkeit, um die Gesetze anzunehmen und danach zu streben, die Rechtstradition der Kirche aufrichtig und hingabevoll zu studieren, um sich mit ihr und auch mit den von den Hirten erlassenen gesetzlichen Bestimmungen identifizieren zu können, insbesondere den päpstlichen Gesetzen sowie dem Lehramt zu kirchenrechtlichen Fragen, das von sich aus bindend ist in dem, was es über das Recht lehrt. [6] Nur auf diese Weise kann man die Fälle erkennen, in denen die konkreten Umstände eine ausgleichende Lösung verlangen, um zu der Gerechtigkeit zu gelangen, die die allgemeine menschliche Norm nicht vorhersehen konnte, und wird man in der Lage sein, im Geist der Gemeinschaft das aufzuzeigen, was dazu dienen kann, die rechtliche Lage zu verbessern.
Diese Überlegungen erhalten besondere Bedeutung im Bereich der Gesetze, die den konstitutiven Akt der Ehe und ihren Vollzug sowie den Empfang der Priesterweihe betreffen, und auch jener, die mit den entsprechenden Prozessen verbunden sind. Die Übereinstimmung mit dem wahren Sinn des kirchlichen Gesetzes wird hier zu einer Frage, die weitreichenden und tiefgehenden praktischen Einfluß auf das Leben der Personen und der Gemeinschaften nimmt und besondere Aufmerksamkeit verlangt. Insbesondere müssen auch alle rechtlich bindenden Mittel angewandt werden, die darauf ausgerichtet sind, jene Einheit in Auslegung und Anwendung der Gesetze zuzusichern, die die Gerechtigkeit erfordert: das diesen spezifischen Bereich betreffende päpstliche Lehramt, das vor allem in den Ansprachen an die Römische Rota enthalten ist; die Rechtsprechung der Römischen Rota, über deren Bedeutung ich bereits Gelegenheit hatte, zu euch zu sprechen; [7] die von anderen Dikasterien der Römischen Kurie erlassenen Normen und Erklärungen.
Diese hermeneutische Einheit in dem, was wesentlich ist, beeinträchtigt in keiner Weise die Funktionen der örtlichen Gerichte, die als erste mit den schwierigen Lebenssituationen konfrontiert werden, die in jedem kulturellen Umfeld vorhanden sind. Sie alle sind verpflichtet, mit einem Gespür für die echte Ehrfurcht gegenüber der Wahrheit über das Recht vorzugehen und müssen versuchen, in der Praxis der Gerichte und Verwaltungseinrichtungen die Gemeinschaft in der Disziplin, die ein wesentlicher Aspekt der Einheit der Kirche ist, vorbildlich zu praktizieren.
Zum Abschluß dieses Augenblicks der Begegnung und der Reflexion möchte ich die kürzlich eingeführte Neuerung erwähnen – auf die Bischof Stankiewicz Bezug genommen hat –, kraft derer die Zuständigkeiten für die Verfahren der Dispens von der gültigen, aber nicht vollzogenen Ehe sowie die Weihenichtigkeitssachen einem Amt an diesem Apostolischen Gerichtshof übertragen wurden.[8] Ich bin sicher, daß es auf diese neue kirchliche Aufgabe eine großherzige Antwort geben wird. In Ermutigung eurer wertvollen Arbeit, die einen treuen, täglichen und engagierten Einsatz verlangt, vertraue ich euch der Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria, »Speculum iustitiae «, an und erteile euch gern den Apostolischen Segen.
Anmerkungen
[1] Motu proprio Porta fidei, 11. Oktober 2011, 5: L’Osservatore Romano, 17.–18. Oktober 2011, S. 4; in O.R. dt., Nr.42 vom 21.10.2011, S. 10.
[2] Vgl. Can. 16, §3 CIC; Can. 1498, §3 CCEO.
[3] Vgl. Ansprache an den Bundestag der Bundesrepublik Deutschland, 22. September 2011: L’Osservatore Romano, 24. September 2011, S. 6–7; in O.R. dt., Nr. 39 vom 30.9.2011, S. 9.
[4] Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini, 30. September 2010, 38: AAS 102 (2010), S. 718, Nr. 38, in O.R. dt., Nr. 47 vom 26.11.2010, S. VI.
[5] Vgl. Ansprache an die Römische Kurie, 22. Dezember 2005: AAS 98 (2006), S. 40–53; in O.R. dt., Nr. 2 vom 13.1.2006, S. 9f.
[6] Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Römische Rota, 29. Januar 2005, 6: AAS 97 (2005) S. 165–166, in O.R. dt., Nr. 8 vom 25.2.2005, S. 7.
[7] Vgl. Ansprache an die Römische Rota, 26. Januar 2008: AAS 100 (2008), S. 84–88, in O.R. dt., Nr. 7 vom 15.2.2008, S. 7.
[8] Vgl. Motu proprio Quaerit semper, 30. August 2011: L’Osservatore Romano, 28. September 2011, S. 7; in O.R. dt., Nr. 41 vom 14.10.2011, S. 9.
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