Ökumenische Begegnung
Apostolische Reise des Heiligen Vaters nach Litauen, Lettland und Estland
(22.-25.September 2018)
Quelle/Video
Dom Riga
Dom zu Riga
Ökumenische Begegnung – Ansprache von Papst Franziskus – Dom zu Riga (Lettland)
Montag, 24. September 2018
Ich freue mich, euch in diesem Land begegnen zu können, das von einem Weg der Anerkennung, Zusammenarbeit und Freundschaft zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen geprägt ist. Sie waren in der Lage, Einheit zu schaffen und gleichzeitig ihren jeweiligen Reichtum und ihre Einzigartigkeit zu bewahren. Ich glaube, man kann sagen, dass dies „gelebte Ökumene“ ist, und dies stellt eines der besonderen Merkmale Lettlands dar. Ohne Zweifel ein Grund zur Hoffnung und zum Dank.
Ich danke Erzbischof Jānis Vanags, dass er uns die Tür dieses Hauses für unser Gebetstreffen geöffnet hat, dieses Domes, der seit mehr als achthundert Jahren das christliche Leben dieser Stadt beherbergt. Er ist ein treuer Zeuge so vieler unserer Brüder und Schwestern, die hierhergekommen sind, um Anbetung zu halten, ihre Bitten vor Gott zu bringen, die Hoffnung in Zeiten des Leidens aufrechtzuerhalten und Ermutigung zu finden, um Momenten grosser Ungerechtigkeit und schweren Leids zu begegnen. Heute beherbergt er uns, damit der Heilige Geist weiterhin kunstvoll Verbindungen der Gemeinschaft unter uns knüpfen kann und so auch uns zu Handwerkern der Einheit unter unseren Mitmenschen mache, damit unsere Unterschiede nicht zu Spaltungen führen. Lassen wir zu, dass der Heilige Geist uns mit den Waffen des Dialogs, des Verständnisses, der Suche nach gegenseitigem Respekt und Brüderlichkeit bekleidet (vgl. Eph 6,13-18).
In dieser Kathedrale befindet sich eine der ältesten Orgeln Europas, die zur Zeit ihrer Einweihung die grösste der Welt war. Wir können uns vorstellen, wie sie das Leben, die Kreativität, die Phantasie und die Frömmigkeit all jener begleitete, die sich von ihrem Klang berühren liessen. Sie war ein Werkzeug Gottes und der Menschen, um den Blick und das Herz zu erheben. Heute ist sie ein Wahrzeichen dieser Stadt und dieser Kathedrale. Für den, der an diesem Ort heimisch ist, ist sie mehr als eine monumentale Orgel, sie ist Teil seines Lebens, seiner Tradition, seiner Identität. Für den Touristen hingegen ist sie freilich nur ein weiteres Kunstwerk, das man anschauen und fotografieren kann. Und das ist eine Gefahr, der man immer ausgesetzt ist: dass man vom Einheimischen zum Touristen wird. Dass wir aus dem, was uns Identität verleiht, ein Objekt der Vergangenheit machen, eine Touristenattraktion, ein Museum, das uns an die Geschehnisse einer früheren Zeit erinnert, von hohem historischen Wert, das aber aufgehört hat, das Herz derer zu bewegen, die es hören.
Mit dem Glauben kann uns genau das Gleiche passieren. Es kann geschehen, dass wir uns im Glauben nicht mehr „heimisch“ fühlen und dann zu „Touristen“ werden. Man könnte sogar sagen, dass unserer gesamten christlichen Tradition dasselbe passieren kann: dass sie auf ein Stück Vergangenheit reduziert wird und – eingeschlossen in den Mauern unserer Gotteshäuser – keine Melodie mehr zu hören ist, die in der Lage wäre, das Leben und das Herz derjenigen, die sie hören, zu bewegen und zu inspirieren. Das Evangelium, das wir gehört haben, bekräftigt indes, dass unser Glaube nicht versteckt werden soll, sondern in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bekannt zu machen und zum Klingen zu bringen ist, so dass alle seine Schönheit betrachten und von seinem Licht beschienen werden können (vgl. Lk 11,33).
Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr in unserem Leben gespielt wird und zu einer schönen Partitur der Vergangenheit wird, wird sie nicht mehr die Monotonie durchbrechen können, welche die Hoffnung erstickt und all unsere Bemühungen steril werden lässt.
Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr unser Inneres in Schwingung versetzt, werden wir die Freude verlieren, die aus dem Mitgefühl entsteht, die Zartheit, die aus dem Vertrauen kommt, die Fähigkeit zur Versöhnung, die ihre Quelle in dem Wissen hat, dass uns vergeben wurde und dass auch wir vergeben sollen.
Wenn die Musik des Evangeliums in unseren Häusern, in der Öffentlichkeit, an unseren Arbeitsplätzen, in der Politik und der Wirtschaft nicht mehr zu hören ist, dann haben wir wohl die Melodie abgeschaltet, die uns herausfordert, für die Würde jedes Mannes und jeder Frau ungeachtet ihrer Herkunft zu kämpfen. Dann verschliessen wir uns im „Eigenen“ und vergessen darüber „das Unsere“: das gemeinsame Haus, das uns alle angeht.
Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr ertönt, werden wir die Klänge verlieren, die unser Leben in den Himmel geleiten, was uns in eines der schlimmsten Übel unserer Tage führt: in die Einsamkeit und die Isolation. Diese Krankheit, die bei denjenigen entsteht, die keine Bindungen haben, kann man bei den älteren Menschen antreffen, die ihrem Schicksal überlassen sind, sowie bei den jungen Menschen ohne Bezugspunkte und Möglichkeiten für die Zukunft (vgl. Rede vor dem Europäischen Parlament, 25. November 2014).
Vater, »alle sollen eins sein, […] damit die Welt glaubt« (Joh 17,21). Diese Bitte erklingt weiterhin kraftvoll in unserer Mitte, Gott sei Dank. Es ist Jesus, der vor seiner Selbsthingabe den Vater darum bittet. Es ist Jesus, Jesus Christus, der im Blick auf sein Kreuz und das Kreuz so vieler unserer Brüder und Schwestern nicht aufhört, den Vater anzuflehen. Das andauernde ruhige Wiederholen dieses Gebetes markiert den Pfad und weist uns den Weg, den wir gehen sollen. Eingetaucht in sein Gebet finden wir – als die an ihn und seine Kirche Glaubenden, die »die Gnadengemeinschaft wollen, die dem Plan des Vaters von Ewigkeit her entspricht« (Hl. Johannes Paulus II., Enzyklika Ut unum sint, 9) – dort den einzig möglichen Weg jeder Ökumene: im Kreuz des Leidens so vieler junger und alter Menschen, so vieler Kinder, die oft der Ausbeutung, der Sinnlosigkeit, einem Mangel an Möglichkeiten und der Einsamkeit ausgesetzt sind. Während Jesus auf seinen Vater und auf uns, seine Brüder und Schwestern, schaut, hört er nie auf zu flehen, dass alle eins sein sollen.
Unsere christliche Sendung erfordert und verlangt auch heute Einheit von uns; es ist die Sendung, dass wir die Betrachtung der Wunden der Vergangenheit und jedes selbstbezogene Verhalten aufgeben und uns stattdessen auf das Gebet des Meisters konzentrieren. Es ist die Mission, die danach verlangt, dass die Musik des Evangeliums nicht aufhört, auf unseren Strassen zu erklingen.
Einige werden vielleicht sagen: Das sind schwierige und komplexe Zeiten, in denen wir heute leben. Andere werden denken, dass Christen in unseren Gesellschaften aufgrund einer Vielzahl von Faktoren wie dem Säkularismus oder einer individualistischen Denkweise immer weniger Handlungsspielraum oder Einfluss haben. Dies kann zu einer Haltung der Verschlossenheit, der Abwehr und sogar der Resignation führen. Freilich kommen wir nicht umhin anzuerkennen, dass dies bestimmt keine einfachen Zeiten sind, besonders für viele unserer Brüder und Schwestern, die heute am eigenen Leib das Schicksal der Verbannung und sogar das Martyrium aufgrund ihres Glaubens erleiden. Aber ihr Zeugnis führt uns zu der Erkenntnis, dass der Herr uns weiterhin ruft und uns einlädt, das Evangelium mit Freude, Dankbarkeit und Entschlossenheit zu leben. Wenn Christus uns für würdig hält, in dieser Zeit, in dieser Stunde – der einzigen, die wir haben – zu leben, können wir uns nicht von der Angst besiegen lassen oder diese Stunde vorübergehen lassen, ohne sie mit der Freude der Treue anzunehmen. Der Herr wird uns die Kraft geben, jede Zeit, jeden Augenblick, jede Situation zu einer Gelegenheit der Gemeinschaft und Versöhnung mit dem Vater und mit unseren Brüdern und Schwestern zu machen, besonders mit denen, die heute als geringer oder als Abfallmaterial angesehen werden. Wenn Christus uns für würdig hielt, die Melodie des Evangeliums zum Klingen zu bringen, werden wir dann damit aufhören?
Die Einheit, zu der uns der Herr beruft, ist immer eine Einheit unter missionarischem Vorzeichen und dazu müssen wir hinausgehen, um das Herz unserer Völker und Kulturen zu erreichen, in der postmodernen Gesellschaft, in der wir leben, »wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen, und mit dem Wort Jesu den innersten Kern der Seele der Städte zu erreichen« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 74). Wir werden diesen ökumenischen Auftrag verwirklichen können, wenn wir uns vom Geist Christi durchdringen lassen. Er kann »die langweiligen Schablonen durchbrechen, in denen wir uns anmassen, ihn gefangen zu halten, und überrascht uns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität. Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf« (ebd., 11).
Liebe Brüder und Schwestern, möge die Musik des Evangeliums weiterhin in unserer Mitte ertönen! Möge nie verklingen, was unseren Herzen erlaubt zu träumen und nach dem Leben in Fülle Ausschau zu halten, zu dem der Herr uns alle beruft, seine missionarischen Jünger zu sein inmitten der Welt, in der wir leben.
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