Damaskus „Christen haben Todesangst”
Interview mit Nahost-Referent von “Kirche in Not (ACN)” Dr. Andrzej Halemba
Quelle – 24. März 2018
Die Kreuzigung Christi
Interview mit Nahost-Referent von “Kirche in Not (ACN)” Dr. Andrzej Halemba – Die aktuelle Militäroffensive in Syrien trifft neben den Bewohnern der Region Ost-Ghouta auch das benachbarte Damaskus. Der Granatenbeschuss auf die Hauptstadt hält an. Betroffen ist auch das christliche Viertel am Ostrand der Altstadt. Warum die Kriegsparteien den Tod der Zivilbevölkerung billigend in Kauf nehmen, weshalb die islamistische Terrorgefahr wieder steigt, darüber hat Tobias Lehner mit dem Nahost-Referenten von Kirche in Not, Dr. Andrzej Halemba, gesprochen.
Dr. Andrzej Halemba
Tobias Lehner: Was hören Sie über die Lage in Ost-Ghouta?
Dr. Andrzej Halemba: Wir von Kirche in Not unterhalten sehr gute und enge Kontakte zu zahlreichen Bischöfen in Damaskus. Einer von ihnen ist das Oberhaupt der melkitisch-griechisch-katholischen Kirche, *Patriarch Joseph Absi Caritas Syrien ist vor Ort und hält uns auf dem Laufenden.
Die Menschen in Ost-Ghouta sind eingeschlossen. Das sind einige tausende Personen! Sie haben kaum Zugang zu Lebensmitteln. Sie erhalten keine medizinische Versorgung. Viele Bewohner sind verletzt und brauchen eine Operation.
Es gibt keine Fluchtkorridore.
Zivilbevölkerung als „menschliches Schutzschild“
Ein Grund dafür könnte sein, dass die Rebellen die Zivilbevölkerung als „menschliches Schutzschild“ betrachtet. Und die Regierung hat die Befürchtung, dass nicht nur zivile Flüchtlinge nach Damaskus kommen, sondern auch Selbstmordattentäter, die den Terror weiter in die Stadt tragen. Überall herrschen Angst und Schrecken.
Und das alles sozusagen vor der Haustür der syrischen Hauptstadt mit über einer Million Einwohnern …
Ost-Ghouta ist nur gut vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Von dort aus haben die Rebellentruppen einen Blick auf die Stadt.
Unter ihnen befinden sich auch Truppen, die al-Qaida nahestehen. Im Süden von Damaskus halten sich noch immer einige Einheiten des IS auf.
Man darf also nicht nur über das Vorgehen der Regierungstruppen sprechen, man muss auch davon sprechen, dass Islamisten die Hauptstadt ins Visier genommen haben: mit Terroranschlägen im Innern, mit Granatenbeschuss von aussen.
Schwer betroffen ist auch das christliche Viertel Bab Tuma, das am östlichen Rand der Altstadt liegt. Die Kriegsparteien wissen: Wann immer Kinder umgebracht, junge Menschen getötet und Familien zerstört und Häuser vernichtet werden, ist das Auge der Öffentlichkeit auf sie gerichtet.
Das kalkulieren sie mit ein. Darum attackieren sie unter anderem auch das christliche Viertel.
Können Sie die Situation dort näher beschreiben?
Die Lage ist sehr ernst. Der Beschuss mit Mörsergranaten geht unvermindert weiter. Die Christen haben Todesangst.
Ich habe kürzlich mit einer Ordensfrau gesprochen. Sie erzählte mir, dass sie und ihre Mitschwestern nicht einmal mehr das Stadtzentrum verlassen können, um in die Viertel zu gehen, wo sich viele Christen und Flüchtlinge aus Ost-Ghouta aufhalten.
Es ist zu gefährlich. Konvois, die humanitäre Hilfe nach Damaskus bringen sollten, sind gestoppt worden. Es ist eine schreckliche Situation!
Viele Menschen sind traumatisiert
Sie sprachen davon, dass unter den Rebellengruppen auch islamistische Einheiten sind. In den europäischen Medien steht vor allem das brutale Vorgehen der Regierungstruppen im Fokus. Also nur die halbe Wahrheit?
Im Krieg stirbt die Wahrheit immer zuerst. Beide Seiten sind im Unrecht. Beide Seiten begehen Verbrechen. Beide Seiten sind schuldig. Beide Seiten haben unzählige Menschen zu Opfern gemacht. In Syrien sind in den jetzt sieben Kriegsjahren über eine Million Menschen getötet oder verwundet worden.
Und diese Wunden betreffen nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. So viele Menschen sind traumatisiert. Es wird Jahrzehnte dauern, diese Wunden zu heilen. Und dafür tragen alle Kriegsparteien die Verantwortung!
Kommen wir zur Versorgungslage. Der vereinbarte Waffenstillstand war so brüchig, dass Hilfslieferungen zunächst nicht zur eingekesselten Bevölkerung durchdringen konnten. Anfang der Woche ist das dann doch gelungen. Was wissen Sie darüber?
Es war dringend nötig, dass jetzt die Bevölkerung in Ost-Ghouta Lebensmittel und medizinische Hilfe bekommt. Es sollten aber auch die hunderttausenden Vertriebenen nicht vergessen werden, die in Damaskus Zuflucht gefunden haben.
„Alle haben sie ihre Zukunft verloren”
Viele haben einen Angehörigen verloren, viele wurden bei den Angriffen schwer verletzt. Alle haben sie ihre Zukunft verloren.
Deshalb ist es Kirche in Not ein Anliegen, uns dieser Binnenflüchtlinge anzunehmen. Wir wollen Ihnen seelsorglich wie finanziell beistehen, damit sie zum Beispiel im Krankenhaus versorgt werden können. Wir müssen diesen leidgeprüften Menschen unsere Liebe zeigen!
Welche Art von Hilfe plant Kirche in Not für Damaskus?
Wir sind ja seit langem in der Region aktiv. Insgesamt haben wir seit Kriegsausbruch über 21 Millionen Euro an Nothilfe zur Verfügung gestellt. Wir helfen bereits jetzt christlichen Familien mit Lebensmittelspenden, Kleidung und Medikamenten.
Ausserdem versuchen wir, für die traumatisieren Menschen eine seelsorgerische und therapeutische Begleitung auf die Beine zu stellen. Das ist sehr wichtig. Wir fördern die Arbeit der Ordensgemeinschaften – denn die sind wichtige Nothelfer.
„Ordensgemeinschaften sind wichtige Nothelfer”
Wir suchen nach Unterkunftsmöglichkeiten für Flüchtlingsfamilien. Ein Schwerpunkt in Damaskus ist die Hilfe für Menschen, die einen Angehörigen verloren haben oder die verwundet sind und jetzt eine Operation brauchen.
Auch in einer Stadt wie Damaskus gibt es Gebiete, die schwer zugänglich oder vernachlässigt sind. Um die Menschen dort müssen wir uns kümmern. Wir ermutigen unsere Projektpartner, allen Menschen zu helfen, die zu ihnen kommen.
In vielem ähnelt die Situation jetzt in Ost-Ghouta und Damaskus den Kämpfen um Aleppo im Jahr 2016. Von dort wurde berichtet, dass vielfach die Kirchen die einzigen Anlaufstellen waren für die notleidende Bevölkerung – für Christen, aber auch für viele Muslime. Wie ist das in Damaskus?
Als christliches Hilfswerk kümmert sich Kirche in Not um alle Menschen, die Opfer dieses Krieges sind und Not leiden. Dazu arbeiten wir in Damaskus auch eng mit anderen Organisationen zusammen. Wir können also auf bestehende Netzwerke aufbauen.
„Unsere Hilfe schliesst niemanden aus”
Unsere Hilfe schliesst niemanden aus. Das gilt natürlich auch für einzelne Muslime, die ja genauso unter dem Krieg leiden wie die Christen. Christliche Nächstenliebe kennt keine Grenzen und fragt nicht nach der Religion. Im Gesicht jedes leidenden Menschen ist das Antlitz Jesu Christi zu erkennen.
Und dieses zerschundene Antlitz blickt uns in den Menschen in Ost-Ghouta und Damaskus an – und fragt nach unserer Antwort auf dieses unsägliche Leid!
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