Marco Roncalli: ‘Mein Grossonkel, der Heilige’

Interview mit einem der bedeutendsten Biographen des „gütigen Papstes“

Quelle
Hl. Papst Johannes XXIII. (44)

27. Oktober 2015 von Poschenker

Rom, 27. April 2014 (ZENIT.org) Salvatore Cernuzio

Anlässlich der heutigen Heiligsprechung Angelo Roncallis führte ZENIT ein Gespräch mit dem Essayisten und Historiker Marco Roncalli, Präsident der Stiftung Papst Johannes XXIII. und Grossneffe des “gütigen Papstes”

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Was bedeutet es, einen Heiligen „im Haus” zu haben?

Marco Roncalli: Wir erleben einen Moment geteilter Freude mit der Familie, der Pfarrgemeinde, der Diözese und ebenso der Zivilgemeinschaft … Ich kann bzw. sollte diese Freude als Einladung zu grösserer Verantwortlichkeit auffassen, doch das gilt nicht allein für mich und meine Familie. Wie der grosse Jesuit Xavier Léon-Dufour behauptete, ist ein Heiliger zuallererst ein Aufruf und eine Frage: „Für den, der seinen Blick nicht auf dem Menschen oder dem Helden verharren lässt, wird ein Heiliger zum Wort Gottes. Er ist eine Errungenschaft Gottes. Gott vermochte mit der Erde, aus der wir geschaffen wurden, ein Wesen zu formen, in dem die Gnade die Kraft der Natur überhöht hat“ [eigene Übersetzung]. Ich glaube, dass dieser Satz sehr gut auf Johannes XXIII. anwendbar ist.

Der „gütige Papst”, der mit dem Konzil die Pforten der Kirche weit geöffnet hat, ist nun ein Heiliger. Was muss über Johannes XXIII. noch in Erfahrung gebracht werden?

Marco Roncalli: Seine scheinbare Einfachheit verbirgt eine grosse Komplexität. Unzureichend bekannt sind sein Bildungshintergrund und seine nicht auf die Kirchengeschichte beschränkten historischen Kenntnisse. Viele versteckte Gesten der Solidarität sind ebenso wenig geläufig wie der Mut und der Weitblick, mit denen er die später als naiv beurteilten Entscheidungen getroffen hat. Einige Lebensabschnitte bedürfen noch einer Vertiefung, beispielsweise seine Jahre als junger Priester und Seminarist. Ferner harren noch einige Hefte zu seinen Studien in jungen Jahren und zu seinen Interessen – zu denen der Amerikanismus zählt – der Veröffentlichung. Dies gilt auch für herausragende Briefsammlungen mit Freunden wie Kardinal Gustavo Testa und die Predigten aus der Zeit des ersten Weltkriegs. Dennoch verfügen wir bereits über eine grosse Anzahl von Quellen. So halten wir von keinem anderen Papst sowohl das „geistliche Tagebuch“ als auch die beinahe lebenslang geführten Tagebücher in Händen. Ebenso sind zahlreiche Briefsammlungen, Predigten und Notizen verschiedenster Art erhalten. Mit einer gewissen Sicherheit kann ich jedoch sagen, dass die laufenden Publikationen unveröffentlichten Materials dazu beitragen, dieser Gestalt eines beispielhaften Menschen und Geistlichen mit einem felsenfesten Glauben an Gott und einem naturgegebenen Vertrauen in die Menschen größere Dichte zu verleihen.

Die von Ihnen verfassten Schriften über ihn werden nicht dazu gezählt. Was haben Sie persönlich im Zuge Ihrer Recherchen entdeckt?

Marco Roncalli: Wie aus dem Untertitel des Buches hervorgeht, stehen diese Briefe im Zeichen der Freundschaft und des Glaubens („A.G. Roncalli e G.B. Montini – Lettere di fede e di amicizia“, ed. Studium). Das ist auch bei anderen von mir herausgegebenen Briefsammlungen der Fall, beispielsweise bei jenen mit Schuster oder Don Giuseppe De Luca. Zwar begegnet man hier selbstverständlich unterschiedlichen Ausprägungen, doch Angelo Giuseppe Roncalli war tatsächlich der Inbegriff der Begegnung: mit Gott und den Menschen.

Wie schätzen sie als Kirchenhistoriker die Gegenwart der Kirche ein?

Marco Roncalli: Meines Erachtens erlebt der Geist des Konzils einen zweiten Frühling, als habe Gott den Papst gewählt, der uns wollte und ihn uns geschenkt … nicht zu vergessen ist dabei jedoch die Tatsache, dass der vorausgegangene „Verzicht“ Benedikts XVI. de facto die Voraussetzungen für die derzeitige Situation geschaffen hat: d.h. die Antwort auf ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Barmherzigkeit, ein Schlüsselwort dieses Pontifikates. Es handelt sich zweifellos um ein pastorales Pontifikat, das wie im Falle Johannes XXIII. allerdings vielschichtiger ist, als es vielen Menschen erscheinen mag. Zum Beispiel verfügt der derzeitige Amtsträger über fundiertes Wissen, historische Kenntnisse und zahlreiche Begegnungen mit Menschen außerhalb von Rom, ganz zu schweigen von seinem Durchdrungensein von einer geistlichen Kultur wie Papst Johannes.

Tatsächlich wurden des öfteren Vergleiche zwischen Franziskus und Johannes XXIII. gezogen. Besteht Ihrer Meinung nach eine direkte Verbindung zwischen den beiden Päpsten?

Marco Roncalli: Meines Erachtens existiert ein recht gut erkennbares „Band“ zwischen den beiden Bischöfen von Rom. Das war auch der erste Eindruck, den die „Überraschung Bergoglio“ in mir hinterlassen hat. Die Gemeinsamkeit besteht in Zügen der Gelassenheit, in ihrer Liebe zur Wahrheit und zur Barmherzigkeit, zur Armut im franziskanischen Sinne sowie das Mittel der Barmherzigkeit. Eine große Nähe sehe ich auch an dem von ihnen verkörperten christlichen Optimismus, der Freude an der ständigen Begegnung mit Gott und allen Menschen, unabhängig davon, ob diese sich der Kirche zugehörig fühlen oder ihr unter Beachtung der geistlichen und materiellen Bedürfnisse und stets mit großem Respekt anzunähern sind.

Waren Sie und die anderen Familienangehörigen Roncallis sich über dessen Heiligkeit bewusst?

Marco Roncalli: Von seinen Tugenden erfuhr ich aus Erzählungen. Zuhause berichteten mir Menschen, die ihm wirklich nahe standen, oft von seiner Güte, seiner stillen Barmherzigkeit, seinem unablässigen Vertrauen auf Gott. Als ich klein war, leistete ich meinem Großvater Giuseppe, dem jüngeren Bruder des Papstes, auch in der Nacht oft Gesellschaft, da seine Ehefrau schon sehr früh verstorben war. Am Abend betete er auf der Kniebank neben seinem Bett und beim Einschlafen sprach er oft über seinen Bruder, den Papst. Er erzählte vom gemeinsamen Aufwachsen, ihren Begegnungen vor und nach der Wahl … Auch jetzt versäumt es mein Vater nicht, viele Geschichten aus der Zeit als Monsignore oder Kardinal meines Onkels zu wiederholen. Später besuchte ihn mein Vater oft während seines Aufenthaltes in Venedig, da er als einberufener Soldat dem Bataillon San Marco zugeordnet worden war. Vor allem abends besuchte er ihn. Manchmal nahmen sie gemeinsam das Abendessen ein und mein Vater erledigte kleine Arbeiten oder Besorgungen für ihn. Ihm zufolge lebte Roncalli auch damals im Patriarchat, wobei seine Lebensumstände von großer Einfachheit gekennzeichnet waren. Ein unmittelbareres und tieferes Verständnis von der ungebrochenen Sehnsucht von Papst Johannes nach Heiligkeit erlangte ich allerdings durch das Studium der täglichen Einträge in das „geistliche Tagebuch“ und seine Tagebücher. Zweifellos bezeichnete man ihn, wie Mazzolari gesagt hat, stets als wahrhaften Menschen, einen „Papst aus Fleisch und Blut“, und es würde mich freuen, wenn er so in Erinnerung bliebe. Tatsächlich glaube ich nicht, dass die Schaffung eines Mythos, ein „Papstkult“, einem Papst zuträglich ist. Vielmehr glaube ich, dass dies Fehler sind. Selbstverständlich wurde die gesamte Welt, die ihn bald als Heiligen anrufen wird, von seiner Authentizität, seiner Einfachheit und seinem Mut bewegt. Nach den Worten des Dichters Ungaretti erlangte seinetwegen „jene private und öffentliche Heiligkeit Sichtbarkeit“.

Glauben Sie, dass Ihr Großonkel sich eine Erhebung zur Ehre der Altäre erwartet hat?

Marco Roncalli: Als er noch als Priester in Bergamo wirkte, sagte er selbst, dass er in den Tugenden der Heiligen „die Substanz und nicht die Akzidentien“ suchen wolle und notierte Sätze wie „dem unbedingten Streben nach Heiligkeit gilt meine ständige Sorge. Diese Sorge ist jedoch heiter und still, nicht bedrückend und grausam“. Er war daher erfüllt von der Sorge eines „stets mit Gott und mit den Dingen Gottes“ in vollkommener Einheit mit dem Wort lebenden Menschen, von der Sorge eines Papstes, den eine Betrachtung des über Eugenio Papa im „Breviarium Romanum“ ausgesprochenen Lobes (darin ist zu lesen: „er war gütig, mild und sanftmütig. Am meisten zählte sein von außergewöhnlicher Heiligkeit leuchtendes Leben“; eigene Übersetzung) zu folgender Aussage führte: „Wäre es nicht schön, zumindest dieses Ziel zu erreichen?“.

Aus welchem Grund gestaltete sich die Heiligsprechung von Papst Johannes XXIII. zunächst als so langer Prozess und erfolgte dann so unvermittelt? Man wartete nicht einmal auf ein Wunder.

Marco Roncalli: Tatsächlich wurde im Fall von Johannes XXIII. kein zweites Wunder angeordnet. Zwar präzisierte der Präfekt für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse Kardinal Angelo Amato vor einiger Zeit, dass Abschläge, Privilegien und Ausnahmen keine Rolle spielten und die Verkürzung des Verfahrens auf den Wunsch von Papst Franziskus zurückgehe, der Kirche die einzigartige Gelegenheit einer Heiligsprechungsfeier zweier Päpste zu bieten: der Initiator des II. Vatikanischen Konzils Johannes XXIII. und Johannes Paul II., der die pastoralen, geistlichen und doktrinären Kräfte der Konzilsdokumente zur Entfaltung brachte. Der Wunsch des Papstes ist eindeutig. Von einer doppelten Heiligsprechung wurde bereits mit der 2000 gefeierten Seligsprechung von Pius IX. und Papst Johannes durch Wojtyla Gebrauch gemacht. Selbstverständlich sind die beiden Päpste in Bezug auf ihre Persönlichkeit grundverschieden, doch eine genaue Betrachtung der Themen wie beispielsweise Konzil und den Frieden zeigt sehr wohl Gemeinsamkeiten, beginnend mit der in beiden Männern vorhandenen Fähigkeit zur Übernahme großer persönlicher und universeller Verantwortung, die die Geschichte geprägt hat.

(27. April 2014) © Innovative Media Inc.

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