“Wer seine Sätze nicht foltert, foltert seine Leser”

“Das Gewicht dieser Welt lässt sich nur tragen, wenn man niederkniet”

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Mosebach

Nach dem sie nicht erreicht hat, dass die Menschen praktizieren, was sie lehrt, hat die gegenwärtige Kirche beschlossen, zu lehren, was sie praktizieren.

Nicolás Gómez Dávila

Der Anden-Nietzsche

Aus Kolumbien kommen Shakira, García Márquez — und das endlich auch hierzulande publizierte Sentenzen-Genie Nicolás Gómez Dávila!

Wer einmal anfängt, ihn zu zitieren, mag nicht mehr aufhören. “Dummkopf ist, wer Meinungen hat zum Gesprächsstoff des Tages.” Oder: “Die Dekadenz einer Literatur beginnt, wenn ihre Leser nicht schreiben können.” Oder: “Der Elfenbeinturm steht in schlechtem Ruf bei den Bewohnern intellektueller Kaschemmen.” Oder: “Die sterbenden Gesellschaften häufen Gesetze an wie die Sterbenden Heilmittel.” Oder aber: “Der Linke zahlt nur mit vorausdatierten Schecks.” Der das schrieb, hat zeit seines Lebens wenig für die Verbreitung seiner Gedanken getan.

Nicolás Gómez Dávila, kolumbianischer Aristokrat und Privatgelehrter, veröffentlichte seine literarischen Arbeiten als Privatdrucke für den Freundeskreis — unter so unprätentiösen Titeln wie “Notas”, “Textos” oder “Escolios”. Nur langsam, gleichsam auf Taubenfüssen, haben sich die Aphorismen des 1994 verstorbenen sesshaften Weltmannes auf den Weg um den Globus gemacht. Martin Mosebach und Botho Strauss verehren den “Zeitfremdling” (Strauss), Ernst Jünger und Heiner Müller waren in ihren späten Tagen Dávila-Leser.

Für die mehr oder weniger heimliche Präsenz seiner Schriften im deutschen Sprachraum sorgte der an Marketingbelangen nicht sonderlich interessierte Wiener Karolinger-Verlag (www.bibliotheca-selecta.de/karolinger/); Ende 2005 erschien erstmals ein Dávila-Werk — die frühen “Notas” — in einem deutschen Haus (Matthes & Seitz Berlin).

Die Sentenzen des “kolumbianischen Nietzsche” (so der italienische Philosophieprofessor Franco Volpi) gehorchen dessen selbst gestellter Maxime: “Wer seine Sätze nicht foltert, foltert seine Leser.” Sie sind “Tropfen reiner Luzidität” (Volpi). Weder Pascal noch Lichtenberg noch Karl Kraus haben eine derartige Fülle zitabler und tiefsinniger Aphorismen zu Papier gebracht. Der Literat Mosebach preist Dávilas Denken als “ein hochkomprimiertes Notgepäck für den unbefristeten Aufenthalt in eisigen Regionen”.

Also zitieren: “Die Freiheit des Buchdrucks ist die erste Forderung der entstehenden und das erste Opfer der reifen Demokratie.” —” ‘ Einer Generation angehören’ ist weniger eine Notwendigkeit als eine Entscheidung gewöhnlicher Seelen.” — “Die Feministen sind lächerlich; die Anti-Feministen sind vulgär.” — “Für das Messbare empfänglich sein, ist subaltern.” — “Das Gewicht dieser Welt lässt sich nur tragen, wenn man niederkniet.”

Dávila, 1913 in Bogotá geboren, entstammte einer Grossgrundbesitzerfamilie, wuchs in Paris auf und kehrte 1936 nach Kolumbien zurück, um das Land mit Ausnahme einer Europa-Reise nie wieder zu verlassen. Politische Ämter, die ihm zwei Staatspräsidenten antrugen (einmal Regierungsberater, einmal Botschafter), lehnte er ab. Den grössten Teil seines Lebens verbrachte dieser “Einsiedler am Rand der bewohnten Erde” (Mosebach) stattdessen in der nach seinen Wünschen zusammengestellten Bibliothek, einem zuletzt 35000 Bände umfassenden Klein- oder auch Grossod, wo er sich, umgeben von zahlreichen Erstausgaben aus aller Herren Länder, der Lektüre sowie der Niederschrift seiner Werke widmete. Dávila war Autodidakt, er besuchte nie eine Universität, aber er las (und sprach) neben Spanisch Französisch, Englisch, Deutsch, Latein und Altgriechisch. Das Deutsche und die alten Sprachen hatte er sich selbst beigebracht, Deutsch zunächst übrigens, um Kant zu lesen.

1977 erschien in zwei Bänden sein Hauptwerk, die “Scholien zu einem inbegriffenen Text”, 1986 durch “Neue Scholien” und 1992 durch “Fortgesetzte Scholien” weitergeschrieben. Scholien sind kommentierende Randbemerkungen des Bibliothekars am klassischen Text. Wenn Dávila seinen Haupttext als diesen Glossen inbegriffen bezeichnet, heisst das, dass es dem Leser vorbehalten bleibt, ihn bei der Lektüre mitentstehen zu lassen. Er wird von einem aristokratischen Reaktionär, rigiden Antifortschrittler und tiefkatholischen Schöngeist handeln, dessen Aversionen sich aus der Vulgarität der modernen Welt speisen und dessen Trost die Gespräche mit den grossen toten Autoren sind. Und jene Scholien, die das fiktive Werk umzüngeln, sind schlicht und einfach Weltliteratur.

Einer sieht das nicht so: nämlich der Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Für ihn ist Dávila ein “südamerikanischer Bruder” von Gustave Flauberts schnurrigem Hobbygelehrtem Pécuchet, dem er neben jeder Originalität kurioserweise auch noch die Fähigkeit zu “aphoristischer Kompression” abspricht. Der Professoralsdünkel bezieht sich freilich einzig auf die “Notas”, das von Dávila nie zur Herausgabe autorisierte Frühwerk, mehr hat Gumbrecht eingestandenermassen nicht von ihm gelesen, womit er selbst nicht einmal als Bruder von Pécuchets närrischem Kompagnon Bouvard durchgehen würde.

Die literarische Form des Aphoristikers ist seit jeher dem Vorwurf ausgesetzt, es mangele ihr an Denkdisziplin und Systematik. Aphoristiker verteidigen sich gern mit Nietzsches Satz, der Wille zum System zeuge von einem “Mangel an Rechtschaffenheit”. Bei Dávila kommt noch die Tugend der Höflichkeit hinzu; er wollte einfach seine Leser nicht mit überflüssigen Sätzen langweilen; für ihn war die Entscheidung auch eine zwischen Geschwätzigkeit und Lakonie.

Also — zitieren: “Dass es eine Kollektivseele gibt, entdeckt man, wenn man ein Kollektiv sieht, in dem sie gestorben ist.” — “Die Kosten für den Fortschritt lassen sich in Dummköpfen berechnen.” — “Der Revolutionär ist zu guter Letzt ein Individuum, das es nicht wagt, allein auf Raub zu gehen.” — “Bei den demokratischen Wahlen wird darüber entschieden, wen zu unterdrücken statthaft ist.” — “Der Moderne nennt ‘Wandel’ das immer schnellere Marschieren auf dem gleichen Weg in die gleiche Richtung.” Und, und …

Erschienen in Focus, 4/2006, S. 60-62

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