Im Zeitalter der Entmenschlichung
“In vitro veritas”: Im Zeitalter der Entmenschlichung
Der Philosoph Fabrice Hadjadj erzählt von seiner Bekehrung zum Christentum in einer von Technik und Nihilismus beherrschten Zeit.
Rom, 24. November 2014, Zenit.org, Maria Gabriella Filippi
“Unsere Welt wird immer mehr von der Entmenschlichung beherrscht. Wir leben im Zeitalter des ‘in vitro veritas‘, ob es sich nun um das Glas eines Bildschirms oder einer Laborprobe handelt. Was in unseren Laboren brodelt, ist eine echte Gegenverkündigung. Das Geheimnis des Lebens wird nicht mehr in der Dunkelheit des Mutterleibs angenommen, sondern in der Durchsichtigkeit eines Reagenzglases nachgebaut.”
Das ist die Sicht des französischen Philosophen Fabrice Hadjadj, der einer jüdischen Familie entstammt und eine Laufbahn als antiklerikaler Nihilist hinter sich hat. Er ist verheiratet, hat sechs Kinder, unterrichtet Literatur und Philosophie und schreibt nebenbei Theaterstücke.
Am Rande des 3. Weltkongresses für Kirchliche Bewegungen und Neue Gemeinschaften, der in den vergangenen Tagen in Rom vom Päpstlichen Rat für die Laien organisiert wurde, bei dem Hadjadj Mitglied ist, beantwortete der Philosoph einige Fragen für Zenit.
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Wie kam es zu Ihrer Bekehrung vom Judentum zum Christentum?
Da könnte ich eine lange Geschichte erzählen… Gott bekehrt uns durch seine ganze Schöpfung. Eine Bekehrung ist in Wahrheit nur ein Sich-bewusst-werden, denn die Wirklichkeit bleibt immer die gleiche.
Ausserdem ist die Bekehrung nicht der Endpunkt einer Entwicklung; die Taufe ist nur der Anfang. Ich könnte immer noch schlechter werden, als ich je zuvor war: Ich sündige auch heute noch, deshalb muss man immer sehr vorsichtig sein, wenn man von einer Bekehrung spricht. Es stimmt auch nicht, dass ich mich vom Judentum zum Christentum bekehrt habe, denn ich bin nie ein gläubiger Jude gewesen: Ich entstamme einer jüdischen Familie, die jedoch einer stark linken, marxistischen Weltanschauung folgte. Wir hatten zuhause keine Bibel, dafür die Werke von Marx, Hegel und Gramsci. Ich persönlich habe mich sehr bald Nietzsche und anderen atheistischen Autoren angenähert. Paradoxerweise habe ich gerade durch die antichristlichen Denker das Christentum entdeckt und, auch paradox, gerade als Christ habe ich erst wirklich meine jüdische Identität entdeckt.
Ich hatte das Gefühl, dass die Grösse des Menschen gerade an seine Verwundbarkeit geknüpft sei und dass sie nicht in einer Art horizontaler Machtentfaltung zum Ausdruck kommt, sondern vielmehr durch einen vertikalen Ruf, einen Ruf zum Himmel, wie in der griechischen Tragödie. Dort ist es offensichtlich, dass die tragische Würde des Menschen darin liegt, dass er sich dem Himmel zuwendet und mit einem Gott spricht.
Ausserdem fühlte ich mich intellektuell vom Geheimnis des Kreuzes angezogen. Eines Tages erkrankte mein Vater schwer. Er lag im Sterben und meine Mutter liess mich kommen. Ich fühlte mich machtlos in dieser Situation und ging in eine Kirche, wo ich zur Muttergottes betete. Es war dort eine Madonna, die ganz von Votivgaben umgeben war, und keine zwei Wochen zuvor hatte ich dieselbe Kirche in Begleitung eines Freundes betreten und diese Votivgaben verspottet: ‘Danke hier, danke da… lächerlich!‘ Vor der Marienstatue hatte ich gespottet. Aber an jenem Abend, als es meinem Vater schlecht ging, betete ich vor dieser Madonna. Es geschah dabei nichts Weltbewegendes, denn die weltbewegenden Dinge sind immer die einfachsten: Ich hatte das Gefühl, meinen Platz gefunden zu haben und entdeckte, dass die Haltung eines betenden Menschen die Haltung des Menschen schlechthin ist; von diesem Augenblick an hatte ich die Gewissheit, dass das Gebet wahr ist.
Warum ist der Übertritt zum christlichen Glauben etwas anderes als der Übertritt zu einer Partei oder einer politischen Idee?
Wir haben den Übergang von einer Zeit extremer Ideologien zu einer ideallosen Zeit erlebt, die im Zeichen der technischen Uniformierung steht. Heute greift man die Vielfalt des Wirklichen, die Vielseitigkeit der Dinge, auch die Artenvielfalt, und manipuliert sie, zerstückelt sie.
Die Mission der Kirche hat nichts mit einer solchen Vereinheitlichung zu tun, denn sie ist die Mission des Schöpfers selbst. Er ist der Schöpfer und Erlöser aller Dinge, daher kann er nicht die Einzigartigkeit der Dinge durch eine Vereinheitlichung erdrücken und sie auf eine Idee reduzieren wollen; er will allen erlauben, ganz das zu sein, was sie sind, so wie sie erschaffen und erlöst wurden, in ihrer ganzen Vielfalt.
Die Basis des christlichen Glaubens besteht darin, dass unsere Einheit eine Einheit der Kommunion ist; Kommunion aber bedeutet nicht Verschmelzung. Kommunion ist Gemeinsamkeit mit dem anderen; der andere behält dabei aber seine Identität, er wird nicht aufgesogen oder herabgesetzt. Das offenbart sich auch im Geheimnis der Dreifaltigkeit: Es gibt nur einen Gott, eine einzige göttliche Natur; doch zugleich gibt es drei Personen, und gerade weil es drei Personen sind, bleiben sie auf ewig verschieden. Wir stellen uns die Einheit Gottes als etwas vor, das in sich die ewige Verschiedenartigkeit trägt. Das lädt uns ein, die Mission der Kirche nicht als ideologische Propaganda aufzufassen, die alles vereinheitlicht, sondern als Gastfreundschaft, die es jedem erlaubt, aufgenommen zu werden und dabei ganz sich selbst zu bleiben.
Sowohl Benedikt XVI. als auch Papst Franziskus haben erklärt, dass die Evangelisierung nicht durch Proselytenmacherei, sondern durch Anziehungskraft wächst. Was bedeutet das und welche Gefahren birgt, Ihrer Meinung nach, die Proselytenmacherei?
Man könnte meinen, es handle sich nur um zwei Arten, dasselbe Konzept auszudrücken: Proselytenmacherei oder Anziehungskraft, im Gegensatz zum Aus-sich-hinausgehen. Zu sich anziehen oder aus sich hinausgehen? Beides muss funktionieren, denn die Mission liegt nicht darin, dass wir sagen: ‘Wir sind eine Sekte, wir allein besitzen die Wahrheit und wir gehen hinaus, um Leute hereinzuholen, die völlig verirrt sind.‘ Das Mysterium liegt genau darin, dass der, der ausserhalb der Kirche steht, trotzdem für die Kirche geschaffen wurde; es gibt nichts, was völlig ausserhalb der Kirche läge; die Dinge existieren und sie liegen nicht ausserhalb der Kirche, denn die Kirche wurde vom Schöpfer erschaffen. Unsere Mission ist keine Proselytenmacherei, die darin bestehen würde, dass wir jemandem begegnen und ihn mit unseren Ideen gleichschalten, sondern sie besteht aus einem Hinausgehen und einem Anziehen zugleich. Wir gehen hinaus, um dem anderen zu begegnen, aber da ist auch eine Anziehung, denn unser Herz und das des anderen sind gleich gepolt. Das ist ganz wichtig für uns Christen: An die Worte Jesu glauben, wenn er sagt: ‘Ich werde alle Menschen der Erde zu mir anziehen.‘ Das stimmt; alle Menschen sind von Christus angezogen; wir müssen diesem Wort vertrauen. Ich vertraue ihm und wissen Sie, warum? Weil ich der Mensch war, der Christus am fernsten stand, dessen Bekehrung am unwahrscheinlichsten war, ich war erbittert antiklerikal. Wir müssen darauf vertrauen, dass das Herz des Nichtchristen, das Herz des Feindes, das Herz des Verfolgers, sich zu Christus hingezogen fühlt.
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