Gesucht: Gottes Barmherzigkeit
Was das ist, wie man sie findet. Das Zeugnis eines chinesischen Häftlings aus Italien
Sein Name hatte nicht auf dem offiziellen Programm gestanden. Als am 12. Januar Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin und der Starkomiker Roberto Benigni das erste Interview-Buch von Papst Franziskus vorstellten, stand plötzlich auch er am Mikrophon: Zhang Agostino Jianqing, dreissig Jahre alt, Chinese und seit elf Jahren Gefangener in einer italienischen Haftanstalt, in die man ihn nach der Buchpräsentation auch wieder brachte. Das Buch trägt den Titel „Der Name Gottes ist Barmherzigkeit“, geht auf ein Gespräch mit dem italienischen Journalisten Andrea Tornielli zurück und erschien an jenem 12. Januar auf mehreren Sprachen in 82 Ländern – auf Deutsch im Kösel-Verlag.
Kardinal Parolin gab eine theologische Einführung, der Komiker Benigni eine komische, die aber äusserst geistreich war. Und dann der Chinese. Er legte ein Zeugnis ab. Darüber, wie er, der chinesische Häftling aus einer buddhistischen Familie, im Gefängnis der Barmherzigkeit Gottes, das heisst Jesus Christus begegnet ist. Dieses Zeugnis, das viele beeindruckt hat, drucken wir hier im vollen Wortlaut ab, als Titel-Geschichte und noch in der „Startphase“ des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit.
Allen einen guten Tag.
Ich heisse Zhang Agostino Jianqing, bin dreissig Jahre alt und komme aus China, genauer gesagt, aus Zhe Jiang. Es mag Ihnen vielleicht ein bisschen merkwürdig vorkommen, dass ein Chinese unter anderem den Namen Agostino [Augustinus] trägt, aber Sie werden gleich verstehen, warum das so ist. Meine Familie, die der buddhistischen Tradition angehört, ist eine Familie von guten Menschen, die sich in ihrem Leben immer ordentlich verhalten haben. Sie haben sowohl in China als auch in Italien gearbeitet.
1997 bin ich im Alter von zwölf Jahren mit meinem Vater nach Italien gekommen. Meine Mutter war schon seit zwei Jahren hier.
Achtzehn Jahre sind seit diesem Jahr 1997 vergangen, von denen ich die meiste Zeit im Gefängnis verbracht habe, wo ich auch jetzt noch bin.
Als ich nach Italien kam, bin ich ein paar Jahre zur Schule gegangen, aber dort war es mir langweilig, so dass ich oft ohne das Wissen meiner Eltern den Unterricht geschwänzt habe und von der Schule abgehauen bin.
Jahr für Jahr wurde ich schlimmer, begann mit meinen Eltern zu streiten, weil sie mir kein Geld gaben, um mich zu amüsieren. Als ich sechzehn war, habe ich ihnen vorgeschwindelt, ich hätte eine Arbeit, die weit weg von unserer Wohnung war, damit ich nachts fortbleiben konnte. Häufig habe ich die Nacht in Diskotheken verbracht, ich wollte nur Spass haben und mich stark fühlen. So habe ich mir in kürzester Zeit einen oberflächlichen und zu Gewalt bereiten Charakter zugelegt. Ich habe mich nur für ein tolles Leben, Geld und Mädchen interessiert.
Ich habe einen schweren Fehler begangen
Und so kam ich mit neunzehn zum zweiten Mal ins Gefängnis, um eine Strafe von zwanzig Jahren zu verbüssen. Ich konnte kein Italienisch sprechen und kaum etwas verstehen. Ausserdem war ich im Gefängnis von Belluno, wo ich die ersten beiden Jahre verbracht habe, der einzige Chinese. Ich steckte voller Probleme und wusste in keinerlei Weise, um Hilfe zu bitten. Ich war verzweifelt. Das Einzige, was mir ein bisschen Erleichterung verschaffte, bestand darin, einen Stift zu nehmen, meiner Familie zu schreiben und sie wieder und wieder um Verzeihung zu bitten, für all das Leid und all die Traurigkeit, die ich ihrem Herzen zugefügt hatte, vor allem meiner Mutter, die damals jede Woche siebenhundert Kilometer zurückgelegt hat, um mich im Gefängnis zu besuchen. Jedes Mal, wenn sie mich sah, weinte sie. Diese Tränen zu sehen, hat mir geholfen, in mich zu blicken und all das Böse zu sehen, das ich meiner Familie und der des Opfers zugefügt hatte. Vor Schmerzen zitterte ich, und es brach mir das Herz. Plötzlich tauchte der Wunsch in mir auf, mich zu bessern, um meine liebe Mutter nicht mehr leiden zu lassen. In mir erwachte der Wunsch, dass dieses Leid sich in Glück verwandeln lassen möge.
In der Zwischenzeit – vor meiner Verlegung in das Gefängnis von Padua – hatte ich Gildo, einen Ehrenamtlichen, kennen gelernt und Freundschaft mit ihm geschlossen. Er war dann im Jahr 2015 auch mein Taufpate. Erst nach einem langen Glaubensweg habe ich verstanden, dass dieser Mann das erste Geschenk gewesen ist, das der Herr mir gemacht hat.
Nach der Taufe habe ich die ganze Barmherzigkeit verstanden, die mir zuteil geworden war, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst gewesen bin. Und dieses Buch von Papst Franziskus hat mir geholfen, besser zu verstehen, was mir widerfahren ist.
Daher also der Name Zhang Agostino. Agostino, weil mich, wenn ich an den heiligen Augustinus, an seine Geschichte dachte, vor allem seine Mutter, die heilige Monika, aufgrund all der Tränen berührte, die sie in der Hoffnung vergossen hat, ihren verlorenen Sohn wiederzufinden. Das ist ein bisschen wie meine Situation, wenn ich an meine Mutter und an den Fluss von Tränen denke, die sie für mich vergossen hat, in der Hoffnung, dass ich den Sinn des Lebens wiederfinden würde.
Um auf den Ehrenamtlichen von Belluno zurückzukommen: Was mich berührt hat, war sein Gesicht, sein Blick, der mir sofort vertraut vorkam. Ich habe in ihm Trost und einen inneren Frieden gefunden, den ich nie zuvor erfahren hatte. In dieser Zeit konnte ich Italienisch weder sprechen, noch verstehen. Diese beiden Jahre wären also die Hölle gewesen, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, diesem Menschen zu begegnen.
Bei unseren Treffen verbrachten wir mehr Zeit damit, uns anzusehen als miteinander zu sprechen. Ich verspürte den Wunsch, das dringende Bedürfnis, all das Böse, das ich in mir hatte, aus mir herauszulassen, aber es gelang mir nicht. Sein einfacher Blick, der Mitleid mit mir empfand, hat mich in jenen zwei Jahren gestützt, mich in meiner schwierigen Lage ermutigt.
2007 wurde ich in das Gefängnis von Padua verlegt. Der erste Mensch, dem ich begegnete, war mein Landsmann Je Wu, später Andrea. Ein chinesischer Häftling, so wie ich, der im Gefängnis von Padua zu arbeiten begonnen hatte, der mir nahe war und mir geholfen hat. Wenige Monate nach meiner Ankunft habe auch ich begonnen, bei der sozialen Genossenschaft „Giotto“ zu arbeiten. Zuerst habe ich Schmuck, dann Koffer verpackt. Heute arbeite ich – immer noch im Gefängnis – im Bereich der Digitalisierung und der USB-Sticks für die digitale Unterschrift. Mein Freund Wu erzählte mir, dass die Leute der Genossenschaft nicht nur auf die Arbeit sehen, sondern dass sie uns Häftlinge mögen und uns wie Menschen behandeln und nicht wie Matrikelnummern oder Personalakten.
Ich sah Tag für Tag, dass mein Freund immer froher wurde, bis er beschloss, Christ zu werden und sich taufen zu lassen. So etwas passieren zu sehen, mit diesen Menschen zu arbeiten, hat in mir die Frage und den Wunsch aufkommen lassen, auch so glücklich zu werden wie sie.
Nachdem ich meine Freunde immer zufrieden von der Messe zurückkommen sah, beschloss ich, hinzugehen, um herauszufinden, was dort passierte und ob das auch mir etwas bringen könnte. Als ich die Worte des Evangeliums und die Gesänge hörte, kam eine Freude in mir auf, die ich nie zuvor verspürt hatte. Die Lieder und die Worte schienen eigens für mich gemacht. Ich konnte kaum noch erwarten, dass endlich Sonntag war. Doch dieses Verlangen war jeden Tag da, also habe ich gemeinsam mit einigen Freunden aus dem Gefängnis und aus der Genossenschaft begonnen, an einer wöchentlichen Begegnung teilzunehmen, um mit anderen mein Leben zu teilen und es so gut wie möglich zu lieben. Dieser Weg hat den Wunsch in mir entstehen lassen, Christ zu werden.
Dieser Wunsch stiess jedoch auf die Sorge, meiner Familie nicht noch einen weiteren grossen Schmerz zuzufügen, vor allem meiner Mutter, die praktizierende Buddhistin ist.
Eine gewisse Zeit lang war ich also in dieser dramatischen Lage, in der ich nicht wusste, was ich tun sollte, was richtig war. Ich habe meine Freunde und den guten Gott um Rat gefragt, was der richtige Weg für mich und für meine Familie sei.
Ich möchte jetzt eine Geschichte erzählen, die wie eine Berufung für mich war.
Am Karfreitag 2014 habe ich auf Einladung meiner Freunde am Ritus des Kreuzwegs teilgenommen. Am Ende des Ritus haben alle meine Freunde, einer nach dem anderen, das Kreuz geküsst. Auch in mir war der Wunsch da, Jesus am Kreuz zu küssen, doch dann dachte ich an meine Mutter und konnte es nicht. Mir schien, als ob ich sie dann ein zweites Mal hintergehen würde.
Ich habe gebetet, dass der Herr mir vergeben möge. Nach dem Ritus bin ich aus der Kapelle gegangen, und plötzlich weinte mein Herz voller Reue, weil ich nicht hingegangen war, um Jesus am Kreuz zu küssen.
In diesem schmerzlichen Moment habe ich verstanden, dass ich Jesus liebte, dass das die Wahrheit war und dass ich ohne ihn nicht mehr sein konnte. So habe ich meinen Mut zusammengenommen, meine Familie angerufen und sie gebeten, so bald wie möglich zu einem Gespräch ins Gefängnis zu kommen. Am Tag später kam meine Mutter mich besuchen, und ich habe ihr erzählt, was am Tag vorher geschehen war. Ich habe ihr gesagt, dass ich meine Liebe zu Jesus nicht mehr verstecken könne, und meine Mutter gebeten, mir zu erlauben, Christ zu werden und mich taufen zu lassen.
Angesichts dieser Worte hat meine Mutter fünf Minuten unbeweglich geschwiegen. Sie erschienen mir wie die längsten fünf Minuten meines Lebens. Danach hat sie mit Tränen in den Augen zu mir gesagt: „Wenn Du meinst, dass es richtig für dich ist, dann tu es, sonst wäre es schlimmer für mich.“ Nachdem sie das gesagt hatte, sind wir beide wie Kinder in Tränen ausgebrochen und haben uns umarmt. Ich habe die Gegenwart des Herrn gespürt und eine andere Liebe meiner Mutter entdeckt, wie die Marias.
Die Feier der Aufnahme war eine weitere Bestätigung für mich, dass meine Entscheidung richtig war, denn als ich die Worte aus dem Evangelium hörte, in denen es heisst: „Ich war im Gefängnis und ihr habt mich besucht“, habe ich verstanden, dass Jesus die Seinen geschickt hatte, mich zu suchen, und dass Seine Mittler alle die Freunde waren, denen ich im Gefängnis bei der Arbeit und im Verlauf der Katechese begegnet war und die dort bei mir waren.
Am 11. April habe ich die Taufe, die Firmung und die erste Kommunion empfangen: alles im Gefängnis. Auch wenn ich vom Richter die Erlaubnis hätte bekommen können, dies ausserhalb des Gefängnisses zu feiern, habe ich mich entschieden, es mit den Freunden zu tun und an dem Ort, zu dem Jesus gekommen war, um mir zu begegnen, und an dem ich Jesus begegnet bin.
Erlaubt mir nun, Papst Franziskus für die besondere Aufmerksamkeit zu danken, die er uns Gefängnisinsassen zukommen lässt. Ich hätte nie gedacht, dass ich eingeladen würde, an der Vorstellung eines Buchs des Papstes teilzunehmen, noch hätte ich mir vorstellen können, dass ich die Möglichkeit bekommen würde, seine Hand zu schütteln, wie das gestern geschehen ist. Ich danke vor allem, weil viele andere hier an meiner Stelle sein könnten, viele andere, die ein grösseres Recht darauf hätten als ich und dessen dringender bedürfen würden.
Ich bin hier, um mit meiner Geschichte zu bezeugen, wie die Barmherzigkeit Gottes mein Leben verwandelt hat. Doch all das wäre nicht möglich gewesen, ohne alle die Freunde und Mitbrüder aus dem Gefängnis in Padua. Ich habe sie alle im Herzen bei mir, es ist, als ob sie alle hier mit anwesend wären. So wie ich auch alle Menschen auf der Welt im Herzen trage, die im Gefängnis sind und die nicht die Gnade erfahren haben, die viele von uns empfangen haben.
Lieber Papst Franziskus, danke für die Zuneigung und die Zärtlichkeit, die Du uns immer wieder bezeugst. Danke für Dein unermüdliches Zeugnis. Danke für die Seiten dieses Buchs, aus denen das Herz eines barmherzigen Hirten spricht. In unseren Gebeten denken wir immer an Dich.
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