Europa muss helfen

“Die Türkei kann diese Last nicht mehr alleine tragen, Europa muss helfen”

 Die Tagespost, 26. Februar 2016

Die Flüchtlinge aus Syrien sind für die Türkei nicht nur eine Belastung für den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Sie bringen auch einen Wachstumsschub.

Von Cigdem Akyol

Kilis ist die türkische Flüchtlingsstadt schlechthin. 130 000 Menschen lebten in dieser Provinz nahe der syrischen Grenze, mittlerweile sind fast genauso viele Flüchtlinge hier.

Die junge Syrerin wartet in der Nähe des Zaunes von Öncüpinar im türkischen Kilis. Ragdad Al-Hayek sitzt auf dem Boden, in der Hoffnung, dass sich das Grenztor öffnet, und ihre Eltern durch dieses dann zu ihr hinüberlaufen können. Schon seit einigen Monaten, so sagt die 24-Jährige, komme sie mehrmals in der Woche hierher. „Ich habe seit drei Wochen nichts mehr von meinen Eltern gehört. Ihre Handys funktionieren nicht mehr. Ich werde noch wahnsinnig“, sagt sie, und wischt sich die Tränen von den Wangen.

Aber das grosse eiserne Tor in Öncüpinar zwischen den Nachbarländern Syrien und Türkei ist und bleibt vorerst geschlossen. Lediglich türkische Lastwagen dürfen rüber nach Syrien, um Hilfsgüter und Baumaterial zu liefern – und nur kranke oder verwundete Syrer dürfen herüber auf türkischen Boden, um hier behandelt zu werden. So fährt hin und wieder eine Ambulanz mit einem grünen Halbmond auf der Autotür am Grenzübergang Öncüpinar hin und her, ansonsten lassen die türkischen Behörden niemanden passieren. Nur wenige Meter weiter ist der Krieg. Von den Hügeln ist ferner Rauch zu sehen, der aus dem umkämpften Syrien heraufsteigt.

Al-Hayek ist bereits vor zwei Jahren aus dem nordsyrischen Aleppo in die Türkei geflohen. Die Mathematikstudentin arbeitet in Kilis nun in einem Bekleidungsgeschäft, sie hat einen Türken geheiratet, das Paar erwartet sein erstes Kind. Ihre Eltern seien in der Heimat geblieben, „weil sie sich zu alt für eine Flucht gefühlt haben“. So habe sie sich von ihrer Familie verabschiedet, und sei problemlos in die Türkei eingereist. Mit ihrer Mutter und dem Vater habe sie immer wieder geskypt, trotz des Bürgerkrieges hätten sich ihre Eltern sicher gefühlt.

Doch mittlerweile ist ihre Heimatstadt Aleppo, einst Syriens grösste Stadt und ein wichtiges Wirtschaftszentrum des Landes, einer der Brennpunkte im Bürgerkrieg. Die Regierungstruppen versuchen mit einer Grossoffensive und mit Unterstützung russischer Luftangriffe der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), aber auch moderaten Rebellen Territorium abzutrotzen. Immer mehr Menschen machen sich mit dem Vorrücken der Truppen von Präsident Baschar al-Assad gen Norden und auf Aleppo auf den Weg zur Grenze, darunter auch die Eltern von Al-Hayek. Der Druck auf die Türkei nimmt zu, die neuen Flüchtlinge aufzunehmen.

Dabei hat die Türkei schon rund 2,6 Millionen registrierte Flüchtlinge aus dem Nachbarland Syrien sowie weitere 250 000 Menschen unter anderem aus Afghanistan und dem Irak aufgenommen – so viele Hilfesuchende wie kein anderes Land der Welt. Kilis, wo al-Hayek lebt, ist die türkische Flüchtlingsstadt schlechthin. Rund 130 000 Menschen lebten in der gleichnamigen Provinz Kilis nahe der syrischen Grenze, mittlerweile sind fast genauso viele Flüchtlinge hier. In der Altstadt hängen Spruchbänder, auf denen der Stadtpräsident fordert, Kilis müsse für seine Aufnahmebereitschaft für den Friedensnobelpreis nominiert werden. Die Stadt, so muss man zweifellos anerkennen, hat viel für die Hilfesuchenden getan.

Aber auch diese Willkommenskultur ist nicht unendlich. Einheimische erzählen, dass die Mieten in die Höhe geschnellt und die Syrer eine belastende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden seien. Und selbst im streng muslimisch-konservativen Kilis fallen die Syrerinnen in schwarzen Tschadors auf. In seriösen Zeitungen ist immer wieder zu lesen, dass Syrerinnen für manch eine Scheidung hier verantwortlich gemacht werden, oder das sich türkische Männer eine Syrerin als Zweitfrau nehmen.

„Manchmal habe ich das Gefühl, ich lebe in Syrien und nicht in der Türkei“, sagt der Obsthändler Cemal Altan. „Wohin wir hier schauen, überall sind Syrer.“ Tatsächlich gibt es ganze Strassenzüge, in denen sich ein syrisches Geschäft neben dem anderen reiht, und die Schilder alle mit Hocharabisch beschriftet sind. Wer durch die Strassen läuft, hört mancherorts mehr Arabisch als Türkisch, syrische Kinder ohne Schuhe verkaufen an diesen Wintertagen am Busbahnhof Süssigkeiten.

Aber die Flüchtlinge aus Syrien sind nicht nur eine Belastung für den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Sie bringen dem Land auch einen spürbaren Wachstumsschub. In Regierungskreisen und bei Volkswirten herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Flüchtlinge auch einen positiven Effekt auf die Konjunktur haben und zum überraschend starken Wachstum im dritten Quartal beitrugen. „Wir haben Fakten und Indizien, dass sowohl die Ausgaben der 2,6 Millionen syrischen Flüchtlinge als auch die der Regierung zu den treibenden Kräften gehören, die die positive Überraschung beim Wirtschaftswachstum 2015 verursacht haben“, lautet die Einschätzung von Muammer Komurcuoglu, Volkswirt bei der türkischen Investmentgesellschaft Is Investment.

Die Flüchtlinge kurbeln vor allem den Konsum an. Sie kaufen Kühlschränke, Kocher, Öl, Brot, Mehl und Baumaterialien. Zwar haben die meisten noch keine Arbeitserlaubnis und sind oft illegal beschäftigt. Doch das Geld, das sie ausgeben, fördert die Wirtschaft. Hinzu kommen die staatlichen Investitionen. Die Regierung erklärte, sie habe bislang fast zehn Milliarden Dollar ausgegeben, vor allem für Flüchtlingslager. Auch dies pumpte Geld in den Markt für Waren und Dienstleistungen.

Jahrelang hat die Türkei stillschweigend Hilfesuchende aus Syrien aufgenommen. Doch die Politik der offenen Grenzen ist vorbei. Die Fliehenden sind längst zu einem politischen Druckmittel geworden. „Wir sollen alle reinlassen, die vor unserer Tür sind, fordern die Vereinten Nationen“, sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Anfang Februar. „Wenn es so leicht ist, warum macht Ihr es nicht? Wir haben bis heute aus dem Irak und aus Syrien drei Millionen Menschen aufgenommen“, kritisierte er die internationale Gemeinschaft. Und weiter: „Welches Land hat überhaupt Flüchtlinge aufgenommen? Ihr sprecht von 300, 500 oder 1 000 Menschen. Wir aber haben drei Millionen aufgenommen.“ Yalcin Akdogan, stellvertretender Regierungschef, pflichtete Erdogan bei: „Wenn sie zehn Leute aufnehmen, wollen sie der Türkei Ratschläge geben. Nicht einmal drei Cent haben sie uns überwiesen. Es sei ein Gebot der Menschlichkeit, sagen sie. Aber sind wir die Einzigen mit einem Gewissen? Habt Ihr keine Verantwortung?“

Die Flüchtlingslager werden nun jenseits der Grenzen, auf syrischem Boden gebaut. So stecken die Vertriebenen in einem Niemandsland fest, aus dem sie nicht mehr weg können. In dem Camp in der Pufferzone leben laut Ankara rund 80 000 Vertriebene, die jetzt im Winter in Zelten frieren müssen. Trotz eindringlicher Appelle von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Menschenrechtsorganisationen, Schutzsuchenden die Durchreise zu erlauben, hält Ankara an seiner „humanitäre Schutzzone“ auf syrischem Boden fest. Zur zusätzlichen Absicherung gegen Flüchtlinge und gegen das Eindringen der Dschihadisten des „Islamischen Staates“ (IS) wird nun eine Mauer an strategisch wichtigen Punkten entlang der 900 Kilometer langen gemeinsamen Grenze gebaut. So stehen in den kargen Dörfern in Kilis graue, drei Meter hohe Betonstelen bereit, die Stück für Stück zu einem Wall montiert werden.

Auf dem Werkhof einer Baufirma, welche die Stelen produziert, erzählt ein Arbeiter, dass jeden Tag mehr als hundert Meter Mauer produziert würden. Ankara bezeichnet das Bollwerk als ein „physisches Grenzsicherungssystem“ – die Syrer sehen das verständlicherweise anders. Der Arbeiter, der seinen Namen nicht nennen will, erzählt, dass sie manchmal von der anderen Seite mit Steinen beworfen werden. „Ich verstehe die Menschen, ich würde genauso handeln“, sagt er. „Sie werden von allen Seiten bombardiert, und jetzt setzen wir ihnen auch noch eine Mauer vor die Nase. Das ist unmenschlich. Aber die Türkei kann diese Last nicht mehr alleine tragen, Europa muss uns helfen.“

Zusätzlich zu der Mauer befindet sich als weitere Abwehrmassnahme zwischen dem syrischen und dem türkischem Boden eine mehrere hundert Meter weite Freifläche, die mit Stacheldraht gesichert wurde. Alle 200 Meter stehen türkische Soldaten und bewachen das Territorium. Jede Nacht, so erzählen die Anwohner, würden dennoch Flüchtlinge im Dunklen herüberrennen – und dann, so berichten sie, würden die Soldaten auf sie schiessen.

Ausserdem, so kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, würden immer wieder Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland zurück abgeschoben werden. Nach Angaben von Amnesty wurden alleine im September 2015 mindestens 200 hauptsächlich syrische Flüchtlinge, die versucht hatten, nach Griechenland zu gelangen, an verschiedenen Orten in der Türkei ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten, manche von ihnen in geheimen Gefängnissen.

Trotzdem, und trotz des eskalierenden Kurdenkonflikts im Südosten der Türkei, setzt die Europäische Union auf Ankara als entscheidenden Partner zur Lösung der Flüchtlingskrise. „Wir haben bestätigt, dass es keine Alternative gibt zu einer guten, intelligenten und weisen Zusammenarbeit mit der Türkei“, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der auch keine andere Wahl hat. Denn die Türkei als Anfang der Balkanroute ist das wichtigste Transitland für Flüchtlinge auf dem Weg in die EU. Laut Ankara wurden im vergangenen Jahr rund 156 000 Flüchtlinge beim illegalen Grenzübertritt gestoppt, 91 000 davon auf See. 4 800 Menschenschmuggler seien festgenommen worden. Menschenschmuggler sollen künftig ähnlich hart wie Terroristen bestraft werden. Das Parlament werde ein entsprechendes Gesetz „sehr bald“ verabschieden, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus Ende Februar. „Und wir werden dieses Gesetz sofort anwenden“, kündigte Kurtulmus an.

Doch die Menschen werden sich weder durch geschlossene Tore, Mauern oder festgenommene Schlepper an einer Weiterreise hindern lassen. Denn mit dem Vorrücken von Baschar al-Assads Truppen im Norden mit Unterstützung von russischen Bomben und den Luftangriffen Ankaras gegen kurdische Stellungen im Norden des Gebiets machen sich weitere Zehntausende auf den Weg Richtung türkischer Grenze – und viele wollen nicht in der Pufferzone ausharren, sondern in Sicherheit leben. „Für uns gibt es kein Zurück mehr“, sagt Al-Hayek. Sie will so lange vor dem Tor in Öncüpinar warten, bis sie endlich ihre Eltern umarmen kann. Doch das kann noch sehr lange dauern.

Hintergrund: Die Europäische Union setzt bei der Bewältigung ihrer Flüchtlingskrise auf eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei. Auf einem EU-Türkei-Gipfel am 29. November wurde ein gemeinsamer Aktionsplan aktiviert, der das Ziel hat, die Türkei bei der humanitären Versorgung der syrischen Flüchtlinge zu unterstützen und gleichzeitig die irreguläre Zuwanderung in die EU deutlich zu reduzieren. Mitte Februar veröffentlichte die EU-Kommission einen Bericht über die Durchführung des Aktionsplans, in dem die Einhaltung der beiderseitigen Zusagen überprüft wurde. Der Vizechef der EU-Kommission, Frans Timmermans, meinte dazu: „Ich begrüsse die Massnahmen, die die türkischen Behörden bereits zur Eindämmung der irregulären Migrationsströme getroffen haben, wie die Öffnung des Arbeitsmarkts für syrische Flüchtlinge. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass die Flüchtlingskrise endet, solange ihre tieferen Ursachen– insbesondere der andauernde Krieg und die Gewalttaten in Syrien – nicht definitiv ausgeräumt werden. Wir werden weiterhin zusammen mit unseren türkischen Partnern daran arbeiten, den gemeinsamen Aktionsplan vollständig durchzuführen, so dass wir unsere Zusagen einhalten können, Ordnung in die Migrationsströme zu bringen, gegen Menschenhändler vorzugehen und die irreguläre Weiterreise von der Türkei nach Europa zu verhindern.“

Brüssel fordert von der Türkei weitere Fortschritte bei der Verhinderung der irregulären Weiterreise von Flüchtlingen von ihrem Hoheitsgebiet in die EU, denn noch immer kommen täglich hunderte bis tausende Flüchtlinge über die Ägäis auf griechischen Inseln oder im Hafen von Piräus an. Am 8. Januar hat Ankara auf Wunsch der EU eine Visumspflicht für die Einreise von Syrern aus Drittländern in die Türkei beschlossen. Brüssel hofft auch auf die Umsetzung des bilateralen Rückübernahmeabkommens zwischen Griechenland und der Türkei sowie darauf, dass die „Abfangkapazitäten der türkischen Küstenwache“ ausgebaut, die türkischen Rechtsvorschriften verschärft und die Massnahmen zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität intensiviert werden. sb

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