‘Der Westen soll uns hier im Nahen Osten in Ruhe lassen’

Fuad Twal, der Lateinische Patriarch von Jerusalem, meint: Der Westen soll uns hier im Nahen Osten in Ruhe lassen

Lateinischer-Patriarch-Fouad-Twal-150x150Von Oliver Maksan

Die Tagespost, 29. Januar 2016

Seligkeit, der “Arabische Frühling” hat wenig Gutes gebracht. Am schlimmsten hat es Syrien getroffen. Dort tobt seit bald fünf Jahren ein Krieg. In Genf soll es jetzt Gespräche geben. Schauen Sie optimistisch ins neue Jahr?

Ja. Wenigstens hoffe ich, dass es besser wird. Es ist gut, dass es diese Gespräche jetzt geben soll, um die Massaker zu stoppen. Aber gleichzeitig ist es schmerzlich, dass man sich jetzt erst trifft, wo man sich viel früher hätte treffen können. Die Grossmächte wie Amerika sind ja seit Beginn involviert. In der Zwischenzeit hat es Millionen Flüchtlinge und hunderttausende Tote gegeben.

Sie sehen die Verantwortung für den Syrien-Konflikt vor allem im Westen?

Ich frage mich: Wer hat den Westen, Amerika oder Frankreich zum Richter ernannt, zu sagen, das ist ein Diktator und dies ist keiner? Dieser muss gehen und jener kann bleiben? Wer hat sie dazu ermächtigt? Können die Völker selbst über ihre Regierung und ihren Präsidenten entscheiden, oder müssen wir Diktatoren von außerhalb folgen? Wer hat dich ernannt, Polizist der Menschenrechte im Nahen Osten zu sein? Lasst die Völker selbst über ihren Präsidenten und die Regierung entscheiden, die sie wollen. Ansonsten lasst uns in Ruhe. Lasst uns einfach in Ruhe.

Aber angenommen, es käme irgendwann zu freien Wahlen in Syrien, dann würde aufgrund der Mehrheitsverhältnisse der nächste Präsident sicher ein Sunnit sein. Würden die Christen das akzeptieren oder das Land verlassen?

Wie es in Zukunft mit einem anderen Regime sein würde, kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass die Christen als Minderheit Syrien anderen Regimen in der Gegend vorgezogen haben. Sie waren glücklich, dass sie in Ruhe leben und arbeiten konnten. Ich weiss das auch von christlichen Geschäftsleuten aus Syrien, die jetzt in Jordanien leben, dass sie sehr gut mit Assad, mit diesem Regime gelebt und zusammengearbeitet haben.

Wünschen Sie sich die Jahre unter Assad vor 2011 zurück? Obwohl er als brutaler Diktator gilt?

Wenn Sie unsere Leute in Syrien fragen, dann sicher. Das sagen die Christen dort und auch meine Brüder Bischöfe. Sie waren zufrieden mit dem Regime. Sie konnten unbehelligt leben und arbeiten. Dieses Regime war hart gegen islamische Fanatiker. Dieses Regime hat nie einen Schuss gegen Israel abgegeben, obwohl der syrische Golan von Israel besetzt ist. Sicher war Assad kein heiliger Mann. Aber wir haben ihn vielen anderen arabischen Führern vorgezogen. Und wenn man von Menschenrechten spricht, dann gab es schlimmere Situationen. Ausserdem haben wir die Lektionen aus dem Irak-Krieg von 2003 und dem Libyen-Krieg nicht gelernt. Wenn man einen Mann absetzt, wer soll ihm nachfolgen? Wir haben mehr Angst vor dem danach als vor dem davor.

Nun hat sich seit dem Herbst auch Russland in Syrien eingeschaltet. Viele sagen, Russland gehe es bei seiner Militärintervention nur um seine eigenen Interessen und nicht den Kampf gegen den IS.

Jeder hat seine Interessen. Russland hat seinen letzten Militärstützpunkt in Syrien. Ausserdem folgt der ganze Nahe Osten sonst den USA. Alle, ausser eben Syrien. Aber Russland war die realistischste Macht von allen. Russland bekämpft diese dschihadistischen Gruppen. Niemand hier kann verstehen, warum die Supermacht Amerika so viel Zeit braucht, um Daesch und andere Gruppen zu bekämpfen. Sie konnten Saddam Hussein im Irak in kurzer Zeit besiegen. Sie könnten diese Leute noch viel schneller erledigen.

Aber sind Sie nicht zu hart mit dem Westen? Es sind doch vor allem regionale Mächte wie Saudi-Arabien und der Iran, die sich in Syrien einen blutigen Stellvertreterkrieg liefern.

Ja. Natürlich haben sie ihre Verantwortung. Wir wissen, dass viele Waffen, die nach Syrien geliefert wurden, von Saudi-Arabien bezahlt wurden. Sie tragen eine grosse Verantwortung. Ich frage deshalb Frankreich und die USA: Wen ihr euch so um die Menschenrechte kümmert, warum habt ihr damit in Syrien anfangen wollen? Warum habt ihr damit nicht in Saudi-Arabien begonnen? Syrien war ein Land mit Kultur, Bildung und einer guten Wirtschaft. Viele meiner jordanischen Landsleute beispielsweise sind dorthin in die Ferien gefahren. Ich habe nie gehört, dass irgendjemand nach Saudi-Arabien in die Ferien gefahren wäre. Wenn es euch also um Menschenrechte geht, fangt da an.

Mittlerweile ist auch Europa nicht mehr nur Zuschauer der Ereignisse im Nahen Osten sondern durch die Flüchtlingsströme unmittelbar betroffen. Die Bischöfe in der Region klagen, dass die Willkommenssignale aus Deutschland eine Sogwirkung entfalten. Soll Europa christliche Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufnehmen oder helfen, dass sie in der Region bleiben können?

Als erstes würde ich den westlichen Regierungen zurufen: Verkauft keine Waffen mehr in die Region. Lasst uns in Frieden. Mischt euch nicht in unsere Politik ein. Hört auf, unsere Mentalität und Kultur ändern zu wollen. Wir wissen, dass wir hier nicht sehr demokratisch sind. Aber so sind eben momentan die Umstände, in denen wir leben. Demokratie braucht Bildung und Zeit. Man kann sie nicht mit Waffen und Revolution bringen. Wir haben das in Libyen und dem Irak gesehen. Natürlich wollen wir hier im Nahen Osten Demokratie. Aber es braucht Zeit, nicht Waffen. So lange es Krieg gibt und man selbst die Ursache dafür ist, kann man den Menschen nicht sagen zu bleiben. Das ist die Konsequenz eurer Politik. Macht Frieden und niemand wird gehen.

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