Der rätselhafte Papst

Wer meint, Franziskus zu durchschauen, überschätzt sich selbst – oder er unterschätzt Jorge Mario Bergoglio

Vatican magazin 1/2016

Von Markus Günther

Die Kirchenhistoriker kommender Generationen sind nicht zu beneiden. Wenn sie die Geschichte dieses Pontifikats schreiben wollen, können sie zwar auf aussagekräftige Quellen zurückgreifen, stehen aber doch immer wieder vor einem Dilemma, wenn es darum geht, diese Quellen richtig zu interpretieren. Zum Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe im Herbst 2015 werden sie in den vatikanischen Archiven eine päpstliche Ansprache finden, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Da liest Franziskus den deutschen Brüdern im Hirtenamt die Leviten, dass es nur so kracht. Er konstatiert eine Erosion des Glaubens in Deutschland, spricht von schweren Versäumnissen in der Katechese und einem Zusammenbruch der sakramentalen Praxis, von administrativen Obsessionen und pastoralen Gleichgültigkeiten. Kurzum: Ein päpstliches Donnerwetter brach damals wohl über die deutschen Bischöfe herein. Tatsächlich?

Die Kirchenhistoriker werden im Archiv auf eine kleine Notiz stossen, die nicht nur eine Fussnote wert ist: Der Papst hat die geplante Ansprache an die deutschen Bischöfe nie gehalten. Selbst geschrieben hat er sie natürlich auch nicht, sie kam aus den Fachabteilungen der Kurie. Inwieweit das Schreiben überhaupt seine Meinung widerspiegelt, warum er die Rede nicht gehalten, den Text andererseits aber auch nicht korrigiert oder komplett einkassiert hat – alles unklar.

Die widersprüchliche Akten- und Faktenlage ist kein kurioser Einzelfall. Oft tun sich zwischen schriftlichen Dokumenten und mündlichen Äusserungen von Papst Franziskus krasse Gegensätze auf, denn nur im Ausnahmefall trägt er die in den kurialen Stabsstellen vorbereiteten Manuskripte vor. Doch auch dann, wenn man Franziskus im Originalton hört, wenn er ungefiltert und ungehemmt spricht, bleiben immer wieder verschiedene, mitunter gegensätzliche Deutungen möglich. Das Einerseits-Andererseits, das Sowohl-als-auch und das Ja-aber sind charakteristische Wesenszüge dieses Pontifikats. Sind sie so gewollt? Oder sind sie das Ergebnis von Pannen und Ungeschicklichkeiten? Wird der Papst immer wieder falsch verstanden oder will er sich nicht festlegen? Prallen hier einfach die Welten südamerikanischer Mentalität, kirchlicher Tradition und medialer Aufregung geräuschvoll aufeinander? Auch diese Fragen werden je nach Standpunkt, Thema und Sichtweise unterschiedlich beantwortet. Nach knapp drei Jahren im Petrusamt gibt der Papst immer neue Rätsel auf.

Wer so redet, kann sich auf heftigen Widerspruch verlassen. Denn viele Menschen – Priester, Bischöfe, Kardinäle, aber auch einfache Gläubige und unbeteiligte Fernsehzuschauer rund um die Welt – sind felsenfest davon überzeugt, diesen Papst richtig verstanden zu haben, und sie liefern oft die Original-Zitate für ihre Interpretation gleich mit. Vor allem das päpstliche Schreiben “Evangelii gaudium” ist eine unerschöpfliche Fundgrube für Zitate unterschiedlichster Färbung, hinzu kommen zahllose Spontankommentare des Papstes in Predigten, Ansprachen, Telefonaten und Interviews. Mit ihnen lässt sich vieles scheinbar stichhaltig belegen – und das Gegenteil auch. Eine Predigt über den Teufel oder den Schutz des ungeborenen Lebens lässt sich heute ebenso rasch mit Franziskus-Zitaten untermauern wie ein Appell für die Gleichberechtigung der Frau und aktiven Umweltschutz.

Nicht die einzige, aber die vielleicht am weitesten verbreitete Lesart nach drei Jahren Franziskus lautet: Der Papst will die Kirche radikal reformieren, er wendet sich gegen die Kurie und den Klerikalismus, er will den Ortsbischöfen mehr Freiheit geben, nimmt es mit den Dogmen nicht so genau, hat nichts gegen Homosexuelle und will Protestanten und Geschiedenen die Teilnahme am Abendmahl nicht vorenthalten, sondern ihr Gewissen entscheiden lassen. Auf konservativer Seite wird solchen Deutungen meist mit dem Hinweis widersprochen, der Papst sei missverstanden worden, die Zitate habe man aus dem Zusammenhang gerissen, es sei mal wieder falsch übersetzt worden, oder jemand habe dem Papst gleich böswillig das Wort im Mund umgedreht.

Eine andere Lesart des Pontifikats lautet deshalb: Franziskus mag in Ton und Stil ein anderer Papst, ein anderer Typ sein, aber zwischen ihn und Benedikt XVI. passt kein Blatt Papier. Auch Franziskus steht mit beiden Beinen auf dem Boden von Lehre und Tradition, auch er ist, wenn man nur genau hinhört, ein frommer, im besten Sinne konservativer, nämlich bewahrender Papst. Als Beleg dafür wird seine Marienfrömmigkeit angeführt, aber auch seine unverblümte Art, vom Bösen und vom Teufel zu sprechen, leidenschaftlich für die Beichte zu werben und immer wieder das vertrauensvolle Gebet anzumahnen. Im Oktober 2013 schien Franziskus Farbe zu bekennen: Er weihte die Welt an die Gottesmutter von Fatima – nun waren sich konservative Katholiken sicher: Er ist einer von uns.

Franziskus, der liberale Reformer? Franziskus, der verkannte Traditionalist? Beide Schablonen passen nicht auf diesen Papst. Wer meint, er habe Franziskus durchschaut, überschätzt sich selbst – oder er unterschätzt Jorge Mario Bergoglio. Er passt nicht in die einfachen, kompakten Schubladen, zumal nicht in die deutschen.

Aber wie ist dieser Papst richtig zu verstehen? Was will er? Und warum lösen sich die scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche auch nach Jahren nicht endlich auf? Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht, und die vielfältigen Projektionen einzelner Interessengruppen sind eher hinderlich als hilfreich. Nur schlaglichtartig sind die Eigenarten und Grundorientierungen dieses Papstes erkennbar, nur bruchstückhaft lässt sich ein Puzzlebild zusammenfügen, das den Papst aus Südamerika in seiner Vielschichtigkeit zu erkennen gibt.

An erster Stelle steht dabei die Beobachtung, dass dieser Papst vor allem Pastor sein will. Sein Verständnis vom Papstamt ist zutiefst pastoral, er will predigen, den Menschen begegnen, Mut machen, zuhören, mit den Menschen zusammen lachen und weinen, beten und still werden. Franziskus will für alle da sein und nicht nur für ausgewählte Besucher, er will leben wie die Menschen, deren Pastor er ist, also lieber in einer Wohnung als in einem Palast, lieber im Fiat fahren als im Mercedes, lieber in Kauf nehmen, dass ihm auch mal etwas Dummes und Unbedachtes herausrutscht, als sich von Protokoll und Redenschreibern Fesseln anlegen zu lassen. Der Papst als Pastor der Welt – das ist auch ein gewagtes Experiment, das es so noch nie gegeben hat, jedenfalls nicht unter den Bedingungen der modernen Medienwelt, in der Bilder und Worte des Papstes überall auf der Welt verfolgt werden können. Der pastorale Ansatz erklärt die beispiellose päpstliche Popularität, die Sympathiewelle, auf der Franziskus auch nach drei Jahren immer noch schwimmt.

Andererseits hat der pastorale Akzent ihn auch immer wieder in Schwierigkeiten gebracht, denn die vielen anderen Rollen und Funktionen des Papstes lassen sich nicht immer mit der Arbeitsweise und Redensart eines Pastors in Einklang bringen: Der Papst ist auch Chef der römischen Kurie, er muss sich fortwährend mit Personalentscheidungen auseinandersetzen, im höchsten Lehramt die kirchliche Lehre vertreten und erklären, er muss als eine Art Staatsoberhaupt diplomatisch sein, als Zelebrant der römischen Liturgien Vorbild und Inspiration sein, als letzte Instanz innerkirchliche Konflikte lösen und Mitarbeiter disziplinieren. Viele dieser Rollen hat Franziskus bis heute nicht oder nur widerwillig angenommen. Sein ausgeprägtes Misstrauen gegen die Kurie behindert ihn zusätzlich, so dass er umso stärker in die pastorale und öffentliche Rolle flüchtet, die ihm Erfolg und Zuspruch sichert.

Eine zweite Beobachtung: Franziskus ist so etwas wie ein evangelikaler Papst. Nach wie vor klingt das Wort “evangelikal” in katholischen Kreisen wie ein Schimpfwort, zumal damit in der deutschen Öffentlichkeit immer ein scharfer Glaubenseifer und ein abstossender, geradezu gefährlicher religiöser Fundamentalismus verbunden wird. Doch der Begriff ist, richtig verstanden, viel harmloser, und vor allem ist er für das Verständnis dieses Papstes hilfreich. Evangelikal – so könnte man den Katholizismus in weiten Teilen der Welt charakterisieren, wenn auch nicht in Westeuropa. Aber in Süd- und auch Nordamerika, auch in Teilen Asiens und Afrikas, hat sich der Katholizismus längst, durchaus positiv, von der evangelikalen Konkurrenz der Frei- und Pfingstkirchen anstecken lassen. Konkret haben dadurch drei Dinge in die katholische Welt Eingang gefunden, die es immer gab, die aber nicht so deutlich akzentuiert wurden: die missionarische Kraft, die Einsicht in Lebensumkehr und Neuanfang und schliesslich die unmittelbare und lebendige Gebetsbeziehung zu Gott. Genau diese drei Motive ziehen sich wie rote Fäden durch alle Ansprachen des Papstes: Er will die missionarische Kraft des Evangeliums neu entfesseln, er ruft immer wieder zum Gebet auf und spricht begeistert von der Kraft des Betens, und er scheut sich nicht, Umkehr und Busse anzumahnen, weil das wesensgemäss für das Evangelium ist.
Wie alle Priester, die von evangelikalen Einflüssen geprägt sind, steht Franziskus vor der Herausforderung, das unverwechselbar Katholische kenntlich zu machen und seinen besonderen Wert zu erklären: Alles Evangelikale steht immer in der Gefahr, eine Gottesbeziehung ausserhalb der von Christus gestifteten Kirche zu suchen, gleichsam im privaten Alleingang, und alles Evangelikale steht in einem Spannungsverhältnis zu den Sakramenten, die eben nur katholisch zu verstehen sind. Dieser Balanceakt zwischen evangelikaler Ansprache und katholischer Unverwechselbarkeit gelingt Franziskus nicht immer. Er spricht, von der Beichte abgesehen, wenig von den Sakramenten, und ihm scheint, namentlich in der Eucharistie, die leidenschaftlich innere Beziehung zu den Sakramenten zu fehlen. Die Symbolhandlung der öffentlichen Fusswaschung scheint ihm eher zu liegen als das sakramentale Opfer am Altar. Für seine öffentliche Wirkung hat das grosse Konsequenzen: Franziskus trägt die Frage nach Gott mitten in die Welt und mitten ins Leben vieler Menschen; doch das eigentlich Katholische ist dabei nicht immer deutlich erkennbar.

Eine dritte Beobachtung: Franziskus will die Kirche reformieren. Es sind nicht immer missverstandene Zitate, die den Eindruck entstehen lassen, dass er in entscheidenden Fragen Papsttum und Kirche, pastorale Praxis und katholische Lehre verändern will. Wunschdenken und Manipulation tragen vielleicht bisweilen dazu bei, dass der Reformeifer des Papstes noch drastischer erscheint, als er wirklich sein mag. Aber die Reformabsichten des Argentiniers sind keine mediale Erfindung, sondern Realität. Das Unklare und Widersprüchliche dabei scheint sich am ehesten dadurch zu erklären, dass Franziskus auf Widerstand stösst und durchaus strategisch vorgeht. Die vehemente Opposition von Kardinal Raymond Burke ist jedenfalls kein Zufall. Noch weniger zufällig ist die Entmachtung von Burke durch Franziskus. Auch der Brief der 13 Kardinäle, die Franziskus vor einer Aufweichung der Ehe-Theologie gewarnt haben, ist kein Missverständnis, sondern spiegelt die Einsicht der Kardinäle wider, dass Franziskus tatsächlich weitreichende Veränderungen plant. Dass jemand wie der New Yorker Erzbischof Timothy Dolan darunter ist (der anders als Burke keinesfalls zum konservativen Flügel der Kirche zählt), zeigt, dass diese Besorgnis bis in die Mitte der Kirche reicht. Die Kardinäle wissen, wie ernst es Franziskus mit seinen Reformabsichten ist. Beim Besuch der lutherischen Gemeinde in Rom hat Franziskus konfessionell verschiedenen Eheleuten die Teilnahme an der Kommunion praktisch freigestellt, auch wenn er kokett zu den anwesenden Kardinälen herüberlächelte und dazu sagte: “Mehr kann ich nicht sagen.” Einer zum zweiten Mal verheirateten Frau am Telefon, die sich über einen Priester beklagte, der ihr die Kommunion verweigert hatte, riet Franziskus kurzerhand, es einfach bei einem anderen Priester zu versuchen.

Problematisch an den Reformvorhaben des Papstes ist vieles: Er macht nicht klar genug, was er genau will, sondern lässt vieles, wie im Fall der Familiensynode, im Unklaren. Problematisch ist auch, dass immer wieder der Eindruck entsteht, der Papst nehme es mit der katholischen Lehre nicht so genau und lasse gern mal fünfe gerade sein – wer Katechismus und Lehre dagegen noch ernst nimmt, ist nun sprichwörtlich päpstlicher als der Papst. Das ist der Grund, warum sich die enorme Popularität des Papstes so wenig auf die Kirche überträgt. Im Gegenteil: Oft erscheinen Papst und Kirche nun als widerstreitende Kräfte.

Eine letzte Beobachtung: Der Kampf gegen die Armut und für mehr soziale Gerechtigkeit ist für Franziskus untrennbar mit der Verkündigung des Evangeliums im 21. Jahrhundert verbunden. Den starken Akzent, den er darauf legt, sollte man weniger mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und mehr mit der sozialen Realität in weiten Teilen der Welt in Verbindung bringen. Westeuropa, und Deutschland in besonderem Masse, ist immer noch eine Region des relativ gelungenen sozialen Ausgleichs, auch wenn die Schere zwischen Arm und Reich sich inzwischen wieder bedrohlich öffnet. Doch noch sind in den meisten anderen Ländern die sozialen Gegensätze viel schärfer. Schon in den Vereinigten Staaten ist katholisches Gemeindeleben ganz unmittelbar mit karitativen Aufgaben verknüpft, in weiten Teilen Asiens und Südamerikas fällt der katholischen Kirche viel stärker die Rolle des Anwalts der Armen und Entrechteten zu als in Europa.

Wenn Franziskus Tag für Tag die sozialen Ungerechtigkeiten anprangert und die Auswüchse eines entfesselten Kapitalismus kritisiert, sollte man das nicht mit den innerkirchlichen Reformkonflikten in Verbindung bringen, sondern als dringend notwendigen Teil christlicher Verkündigung in einer globalisierten Welt begreifen. Vieles an diesem Papst bleibt rätselhaft, manches widersprüchlich, wieder anderes verdient skeptische Beobachtung. Doch die Entschlossenheit, dem wachsenden Elend von Milliarden Menschen nicht wortlos zuzusehen und den Namenlosen in ihrer Not eine laute politische Stimme zu geben, ist, jenseits aller innerkirchlichen Spannungen und Konflikte, ein überzeugendes Zeugnis christlicher Verkündigung.

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