Christus ist die Tür
Vom Wort des Psalmisten bis zum Anklopfen des Heiligen Vaters: Mit dem Lobpreis der Güte Gottes beginnt das Heilige Jahr
Von Erzbischof Salvatore Fisichella
Die Tagespost, 07. Dezember 2015
Heiliges Jahr: kathpedia
“Aperite mihi portam iustitiae“: Öffnet mir das Tor zur Gerechtigkeit! Der Hammerschlag (*) auf die Heilige Pforte wird die Bitte des Heiligen Vaters am 8. Dezember, dem Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens, lauter erklingen lassen. Dies ist der wahre Beginn des ausserordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit.
Der Papst wird als Erster die Heilige Pforte durchschreiten, ihre Türpfosten küssen und sein Glaubensbekenntnis ablegen. Fünfzehn Jahre nach dem letzten, von Johannes Paul II. im Jahr 2000 gewünschten, Jubiläum wird sich die Tür erneut öffnen, um diejenigen zu empfangen, die als Pilger kommen und um die Vergebung und Barmherzigkeit des Vaters bitten. Es handelt sich um ein ausserordentliches Heiliges Jahr, doch nicht um das einzige in der Geschichte der Jubiläen. 1983 hatte Johannes Paul II. aus Anlass des Jahres der Erlösung ein ähnliches ausserordentliches Jubiläum ausgerufen. Ein weiteres ausserordentliches Heiliges Jahr hatte auch Pius XI. 1933 gewollt, um an das Geheimnis des Todes Jesu Christi zu erinnern.
In der Geschichte der Jubiläen ist dies also nichts Ungewöhnliches. Wenn man die Bullen noch einmal liest, mit denen die Heiligen Jahre proklamiert wurden, kann man feststellen, dass Papst Urban VI. den Abstand von hundert Jahren abschaffen wollte, den Bonifaz VIII. 1300 festgelegt hatte, um ihn – in Bezug auf den Tod unseres Herrn – durch den rascheren Abstand von dreiunddreissig Jahren zu ersetzen. So war es möglich, das Heilige Jahr 1390 zu feiern, bis Papst Paul II. 1470 schliesslich den nunmehr traditionellen Abstand von fünfundzwanzig Jahren festlegte.
Diese verschiedenen Etappen zeigen, dass sich das Jubiläum – selbst wenn es nunmehr seine feste Datierung hatte – auch als besonderes Zeichen darstellt, um der grundlegenden Ereignisse unserer Heilsgeschichte zu gedenken. Der Rhythmus wird jedenfalls durch das Öffnen der Heiligen Pforte skandiert; dies ist der feierlichste Akt oder zumindest derjenige, der in der allgemeinen Vorstellung das ganze Heilige Jahr in sich zusammenfasst.
Aus den Dokumenten in unserem Besitz wissen wir, dass beim ersten Jubiläum der Geschichte die Pilger – die “Romei”, wie man sie nannte – nicht durch eine bestimmte Tür gehen mussten. In der Bulle “Antiquorum habet” ist davon keine Rede, und auch unter den Anweisungen, die den Pilgern erteilt wurden, um den Ablass zu erhalten, findet sich kein Hinweis darauf. Ein expliziter Bezug auf die Heilige Pforte findet sich zum ersten Mal im Heiligen Jahr 1423. Allerdings scheint die Tradition, durch die Heilige Pforte zu gehen – die es nur in der Lateranbasilika gab –, schon beim zweiten Jubiläum begonnen zu haben. Das Fehlen von Belegen lässt jedoch unterschiedliche Hypothesen zu.
Die Tür hat einen ausserordentlich hohen symbolischen Wert. Einige Texte der Heiligen Schrift, in denen von einer Tür die Rede ist, erlauben den Zugang zu einem der grundlegenden Themen des Glaubens: die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Ein Blick auf dieses Thema – vor allem in zwei Abschnitten der Bibel – kann helfen, den Sinn und den Wert zu verstehen, die die biblischen Texte der Tür und ihrer Bedeutung für das Glaubensleben beimessen.
“Das Neue Testament lässt die Bedeutung dieses Psalms noch tiefer verstehen”
Der erste Text, der wegen seiner Verwendung dieses Bildes unsere Aufmerksamkeit verdient, ist Psalm 118. Während der Heilige Vater auf die Heilige Pforte klopft, sagt er die Worte: “Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit”. Dieser Psalm, der geschrieben wurde, um Gottes Güte und Barmherzigkeit zu preisen, will zum Ausdruck bringen, dass der Herr seinen Kindern, trotz der Schwierigkeiten des Lebens, immer nah ist. So schreibt der Psalmist, dass Gott seine Getreuen aus Gefahr und Tod befreit und ihnen erlaubt, über ihre Feinde zu triumphieren: “In der Bedrängnis rief ich zum Herrn; der Herr hat mich erhört und mich frei gemacht. Der Herr ist bei mir, ich fürchte mich nicht. Was können Menschen mir antun? Der Herr ist bei mir, er ist mein Helfer; ich aber schaue auf meine Hasser herab. Alle Völker umringen mich; ich wehre sie ab im Namen des Herrn” (Verse 5–10). Das Neue Testament lässt die Bedeutung dieses Psalms noch tiefer verstehen; die Worte von Vers 22: “Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden” sind von der Urgemeinde mit dem Gedanken an Christus verwendet worden, der abgelehnt wurde, auf den jedoch die Kirche, das neue Volk Gottes, aufgebaut wird. Auch Petrus nimmt in seiner ersten Ansprache das Bild des Psalms auf und sagt: “Er (Jesus) ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen” (Apostelgeschichte 4, 11–12).
Auch das Thema der Tür wird gleichzeitig auf Christus und auf die Kirche bezogen. In den Hymnen Ephräms, des Syrers, heisst es zur Auslegung unseres Textes: “Selig deine vollständig geöffneten Türen, deine weit offenen Eingangshallen, weil wir alle Ruhe finden.” Christus bezeichnet den Zugang und den obligatorischen Durchgang, auf den das Haus gebaut werden muss, das ein Ort der Aufnahme für alle Völker wird. Nicht alle jedoch können durch diese Tür hereinkommen. Wenn man zum Ursprung des Psalms zurückkehrt, versteht man auch, warum. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieser Psalm vom Volk gesungen wurde, während es in einer Prozession zum Tempel von Jerusalem zog. An der Pforte des Heiligtums angekommen, bittet es, eintreten zu dürfen: “Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit, damit ich eintrete, um dem Herrn zu danken.” An diesem Punkt jedoch stellen die Priester, die Hüter des Tempels, etwas wie eine Bedingung, um den Zugang zu erteilen: “Das ist das Tor zum Herrn, nur Gerechte treten hier ein” (Vers 20). Das Eintreten in den Tempel des Herrn erfordert also die Reinigung des Herzens und das Bemühen, ein kohärentes und heiliges Leben zu führen.
Im Neuen Testament findet sich ein massgeblicher Abschnitt über die Tür. Der Evangelist Johannes bezieht sich in seinem Evangelium auf sie. Jesus spricht über den guten Hirten, der seine Herde hütet, und sagt: “Ich bin die Tür zu den Schafen” (Johannes 10, 7). Dieses Wort verdient es, hervorgehoben zu werden. Der Kontext, in dem sich dieser Satz findet, ist das Sinnbild der Herde mit den Schafen: sie erkennen die Stimme des Hirten, der den Schafstall durch die Tür betritt, während derjenige, der auf einem anderen Weg hereinkommt, “ein Dieb und ein Räuber” (10, 1) ist. Die Bezugnahme auf die Tür dient vor allem als Hinweis auf die Rechtmässigkeit des Hirten; er ist in der Tat derjenige, der das Recht hat, in den Schafstall zu gehen, weil er die Schafe “beim Namen“ kennt. Das heisst, dass sie ihm gehören und dass seine Beziehung zu ihnen einzigartig und unverwechselbar ist.
“Die Absolutheit Jesu in diesem Bereich schliesst jeden Konkurrenten aus”
Die Bezugnahme auf die Tür ist ausgehend von dieser Identifikation zu verstehen. Viele Gelehrte haben sich für den Ausdruck interessiert und ihn auf unterschiedliche Weise interpretiert. Um mit grösserer Kohärenz in die Lehre einzudringen, ist es notwendig, sich auf die Gesamtheit der Rede zu beziehen, in der natürlich auch das Bild der Tür seine besondere Bedeutung hat. Zunächst geht daraus das Erkennen Jesu als des authentischen Offenbarers des Vaters und somit als des einzigen Erlösers hervor. Die Absolutheit Jesu in diesem Bereich schliesst jeden Konkurrenten aus. Alle, die in der Vergangenheit und in der Gegenwart den Anspruch erhoben haben, Erlöser der Menschen zu sein, sehen ihre Anmassung am wahren Hirten zerschellen. Der Weg der Offenbarung, der in die wahre Erkenntnis des väterlichen Antlitzes Gottes einführt, kann nur durch Jesus geschehen; daher ist er die “Tür”. Die Schafe können nur einen Zugang haben und dieser ist mit seiner Person gleich. Es gibt also nur einen Heilsbringer: Jesus Christus. Er ist der Weg, dem man folgen muss, um zum Vater zu gelangen: “Und wohin ich gehe – den Weg dorthin kennt ihr … Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben” (Johannes 14, 4.6).
Wie man sehen kann, wird der Weg zum Heil von Christus geschenkt, der “Eingangstür” zum Vater, für die Schafe, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind. Als Offenbarer des Vaters und Sohn Gottes kann Jesus diese Forderung vorbringen. Gleichzeitig wird er auch Kriterium der Wahrheit, also der Gerechtigkeit und der Unterscheidung, für alle, die danach verlangen, zur Fülle dieses Geheimnisses zu gelangen. Wenn die Schafe also sicher sein wollen, zur echten Weide zu gelangen, wissen sie, wem sie folgen müssen. Durch diese Tür kann nur derjenige gehen, den der Vater gesandt hat, denn nur er ruft sie alle beim Namen.
Als wäre es ein Kommentar zu den soeben zitierten Schriftstellen, bietet einer der ältesten Texte der christlichen Literatur, der “Brief an die Korinther“ von Papst Clemens, der um die Jahre 95–98 geschrieben wurde, einen weiteren Sinngehalt der Tür: “Denn das ist eine Pforte der Gerechtigkeit, die geöffnet ist zum Leben, gemäss dem Schriftwort: ‘öffnet mir Tore der Gerechtigkeit; ich will eintreten durch sie und lobsingen dem Herrn. Das ist das Tor des Herrn: Gerechte sollen durch dasselbe einziehen’. Obgleich Tore offen stehen, so ist das Tor der Gerechtigkeit das Tor Christi; selig sind alle, die durch dieses eingehen und die geraden Weges wandeln ‘in Heiligkeit und Gerechtigkeit’, indem sie unbeirrt alles vollbringen. Mag einer gläubig sein, mag einer tüchtig sein, Weisheit zu reden, mag einer verstehen, die Reden zu unterscheiden, mag einer heilig sein in (seinen) Werken, er muss eben umso demütiger sein, je mehr er sich erhaben dünkt, und er muss das suchen, was allen gemeinsam, nicht ihm allein nützlich ist” (48, 2–6).
(*Dieser Ritus entfällt in diesem Jahr, A.d.R.)
Der Verfasser ist Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung. Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Reimüller
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