25. September 2011
Apostolische Reise nach Deutschland 22. – 25. September 2011
Begegnung mit in Kirche und Gesellschaft engagierten Katholiken
Ansprache von Papst Benedikt XVI.
Konzerthaus, Freiburg im Breisgau
Sonntag, 25. September 2011
Verehrter Herr Bundespräsident,
Herr Ministerpräsident
Herr Oberbürgermeister,
Verehrte Damen und Herrn,
Liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt!
Ich freue mich über diese Begegnung mit Ihnen, die Sie sich in vielfältiger Weise für die Kirche und für das Gemeinwesen engagieren.
Dies gibt mir eine willkommene Gelegenheit, Ihnen hier persönlich für Ihren Einsatz und Ihr Zeugnis als “kraftvolle Boten des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge” (Lumen gentium, 35) ganz herzlich zu danken: So nennt das II. Vatikanische Konzil Menschen, die wie Sie sich um Gegenwart und Zukunft aus dem Glauben mühen. In Ihrem Arbeitsumfeld treten Sie bereitwillig für Ihren Glauben und für die Kirche ein, was – wie wir wissen – in der heutigen Zeit wahrhaftig nicht immer leicht ist.
Seit Jahrzehnten erleben wir einen Rückgang der religiösen Praxis, stellen wir eine zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben fest. Es kommt die Frage auf: Muss die Kirche sich nicht ändern? Muss sie sich nicht in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anpassen, um die suchenden und zweifelnden Menschen von heute zu erreichen?
Die selige Mutter Teresa wurde einmal gefragt, was sich ihrer Meinung nach als erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort war: Sie und ich!
An dieser kleinen Episode wird uns zweierlei deutlich. Einmal will die Ordensfrau dem Gesprächspartner sagen: Kirche sind nicht nur die anderen, nicht nur die Hierarchie, der Papst und die Bischöfe; Kirche sind wir alle, wir, die Getauften. Zum anderen geht sie tatsächlich davon aus: ja, es gibt Anlass zur Änderung. Es ist Änderungsbedarf vorhanden. Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind zur stetigen Änderung aufgerufen.
Wie soll diese Änderung konkret aussehen? Geht es um eine Erneuerung, wie sie etwa ein Hausbesitzer durch die Renovierung oder den neuen Anstrich seines Anwesens durchführt? Oder geht es hier um eine Korrektur, um wieder auf Kurs zu kommen sowie schneller und geradliniger einen Weg zurückzulegen? Sicher spielen diese und andere Aspekte eine Rolle, und hier kann nicht von alledem die Rede sein. Aber was das grundlegende Motiv der Änderung betrifft, so ist es die apostolische Sendung der Jünger und der Kirche selbst.
Dieser ihrer Sendung muss die Kirche sich nämlich immer neu vergewissern. Die drei synoptischen Evangelien lassen verschiedene Aspekte des Sendungsauftrags aufleuchten: Die Sendung gründet zunächst in der persönlichen Erfahrung: “Ihr seid meine Zeugen” (Lk 24,48); sie kommt zum Ausdruck in Beziehungen: “Macht alle Menschen zu meinen Jüngern” (Mt 28,19); und sie gibt eine universelle Botschaft weiter: “Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen” (Mk 16,15). Durch die Ansprüche und Sachzwänge der Welt aber wird dies Zeugnis immer wieder verdunkelt, werden die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft relativiert. Wenn nun die Kirche, wie Papst Paul VI. sagt, „danach trachtet, sich selbst nach dem Typus, den Christus ihr vor Augen stellt, zu bilden, dann wird sie sich von der menschlichen Umgebung tief unterscheiden, in der sie doch lebt oder der sie sich nähert“ (Enzyklika Ecclesiam Suam, 60). Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie auch immer wieder Distanz zu ihrer Umgebung nehmen müssen, sich gewissermassen “ent-weltlichen”.
Die Sendung der Kirche kommt ja vom Geheimnis des Dreieinigen Gottes her, dem Geheimnis seiner schöpferischen Liebe. Und die Liebe ist nicht nur irgendwie in Gott, er selbst ist sie, ist vom Wesen her die Liebe. Und die göttliche Liebe will nicht nur für sich sein, sie will sich ihrem Wesen nach verströmen. Sie ist in der Menschwerdung und Hingabe des Sohnes Gottes in besonderer Weise auf die Menschheit, auf uns zugekommen, und zwar so, dass Christus, der Sohn Gottes, gleichsam aus dem Rahmen seines Gottseins herausgetreten ist, Fleisch angenommen hat, Mensch geworden ist, nicht nur, um die Welt in ihrer Weltlichkeit zu bestätigen und ihr Gefährte zu sein, der sie so lässt, wie sie ist, sondern um sie zu verwandeln. Zum Christusgeschehen gehört das Unfassbare, dass es – wie die Kirchenväter sagen – ein sacrum commercium, einen Tausch zwischen Gott und den Menschen gibt. Die Väter legen es so aus: Wir haben Gott nichts zu geben, wir haben ihm nur unsere Sünde hinzuhalten. Und er nimmt sie an und macht sie sich zu eigen, gibt uns dafür sich selbst und seine Herrlichkeit. Ein wahrhaft ungleicher Tausch, der sich im Leben und Leiden Christi vollzieht. Er wird Sünder, nimmt die Sünde auf sich, das Unsrige nimmt er an und gibt uns das Seinige. Aber im Weiterdenken und Weiterleben im Glauben ist dann doch deutlich geworden, dass wir ihm nicht nur Sünde geben, sondern dass er uns ermächtigt hat, von inner her die Kraft gibt, ihm auch Positives zu geben: unsere Liebe – ihm die Menschheit im positiven Sinn zu geben. Natürlich, es ist klar, dass nur Dank der Grossmut Gottes der Mensch, der Bettler, der den göttlichen Reichtum empfängt, doch auch Gott etwas geben kann; dass Gott uns das Geschenk erträglich macht, indem er uns fähig macht, auch für ihn Schenkende zu werden.
Die Kirche verdankt sich ganz diesem ungleichen Tausch. Sie hat nichts aus Eigenem gegenüber dem, der sie gestiftet hat, so dass sie sagen könnte: Dies haben wir grossartig gemacht! Ihr Sinn besteht darin, Werkzeug der Erlösung zu sein, sich von Gott her mit seinem Wort durchdringen zu lassen und die Welt in die Einheit der Liebe mit Gott hineinzutragen. Die Kirche taucht ein in die Hinwendung des Erlösers zu den Menschen. Sie ist, wo sie wahrhaft sie selber ist, immer in Bewegung, muss sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Und deshalb muss sie sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen.
In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, dass die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Massstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung grösseres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin.
Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. Sie folgt damit den Worten Jesu: “Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin” (Joh 17,16), und gerade so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.
Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblösst und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilt sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besass, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft.
Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben. Die missionarische Pflicht, die über der christlichen Anbetung liegt und die ihre Struktur bestimmen sollte, wird deutlicher sichtbar. Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, dass er meine wahre Innerlichkeit ist. Durch diese Art der Öffnung der Kirche zur Welt wird damit auch vorgezeichnet, in welcher Form sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann.
Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede blosse Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch dass sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist.
Sagen wir es noch einmal anders: Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit – und nicht erst in der unsrigen – ein Skandal. Dass der ewige Gott sich um uns Menschen kümmern, uns kennen soll, dass der Unfassbare zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort fassbar geworden sein soll, dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, dass uns Sterblichen Auferstehung und Ewiges Leben verheissen ist – das zu glauben ist für die Menschen allemal eine Zumutung.
Dieser Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will, ist leider gerade in jüngster Zeit überdeckt worden von den anderen schmerzlichen Skandalen der Verkünder des Glaubens. Gefährlich wird es, wenn diese Skandale an die Stelle des primären skandalon des Kreuzes treten und ihn dadurch unzugänglich machen, also den eigentlichen christlichen Anspruch hinter der Unbotmässigkeit seiner Boten verdecken.
Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heisst natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln. “Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst” (Enzyklika Deus caritas est, 25). Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln vertrocknen. Nur die tiefe Beziehung zu Gott ermöglicht eine vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen, so wie ohne Zuwendung zum Nächsten die Beziehung zu Gott verkümmert.
Offensein für die Anliegen der Welt heisst demnach für die entweltlichte Kirche, die Herrschaft der Liebe Gottes nach dem Evangelium durch Wort und Tat hier und heute zu bezeugen, und dieser Auftrag weist zudem über die gegenwärtige Welt hinaus; denn das gegenwärtige Leben schliesst die Verbundenheit mit dem Ewigen Leben ein. Leben wir als einzelne und als Gemeinschaft der Kirche die Einfachheit einer grossen Liebe, die auf der Welt das Einfachste und das Schwerste zugleich ist, weil es nicht mehr und nicht weniger verlangt, als sich selbst zu verschenken.
Liebe Freunde! Es bleibt mir, den Segen Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes für uns alle zu erbitten, dass wir in unserem jeweiligen Wirkungsbereich immer wieder neu Gottes Liebe und sein Erbarmen erkennen und bezeugen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
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