“Westbalkan-Konferenz” in Wien
Laute Rufe nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise
Der aktuelle Flüchtlingsstrom dominierte die “Westbalkan-Konferenz” in Wien – Serbiens Aussenminister rechnete hart mit den Nachbarn ab.
Von Stephan Baier
Die Tagespost, 28. August 2015
Eigentlich hätte es bei der Westbalkan-Konferenz in dieser Woche in Wien um die regionale Kooperation der Staaten Südosteuropas und um deren Annäherung an die EU gehen sollen. Doch ein gemeinsames Problem überlagerte alle anderen Themen: der Flüchtlingsstrom, der sich über die Türkei und Griechenland nach Mazedonien und Serbien, und von dort weiter nach Ungarn, Österreich und Deutschland ergiesst. Dafür haben die Europäer noch keine gemeinsame Strategie gefunden. Und so waren am Donnerstag in Wien neben Appellen zu einer europäischen Lösung auch Vorwürfe zu hören.
Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann erinnerte bei der Eröffnung der Konferenz in der Wiener Hofburg an Österreichs “enge gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Kontakte zum Westbalkan: Das ist ein gemeinsamer wirtschaftlicher und sozialer Lebensraum.” Jugendaustausch in Studium und Ausbildung, Sicherheit, Fairness, Stabilität und eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung seien wichtig. Ebenso das Vertrauen, “dass diese Region zusammengehört”. Wie alle Redner der Konferenz kam Faymann rasch zur Fluchtthematik: 60 Millionen Menschen seien derzeit aus unterschiedlichen Gründen weltweit auf der Flucht. Man müsse “jene, die an diesem Leid auch noch verdienen, in die Schranken weisen”. Österreichs Kanzler plädierte für eine verpflichtende Quote in der Verteilung der Flüchtlinge in der EU. “Im Geist des Miteinander müssen wir in Asylfragen dafür sorgen, dass nicht ein Land auf Kosten eines anderen seine Probleme löst.” Es gelte, jene Länder für eine gemeinsame Lösung zu gewinnen, die nicht betroffen sind: “Wir sind gemeinsam gefordert, möglichst mit gemeinsamen Standards.” Das Errichten neuer Mauern sei keine Lösung, sagte Faymann.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Vorjahr die erste Westbalkan-Konferenz in Berlin geleitet hatte, bekräftigte “den Willen, den Ländern auf dem Balkan eine Beitrittsperspektive zu bieten”. Sie sprach von Infrastrukturprojekten, von einem Jugendwerk der Balkan-Staaten, von der Belastung durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südosteuropa. Aber auch Merkel sprach vor allem über das Problem der Migration, das “schnell und im Geist der Solidarität zu lösen” sei. Man müsse “den Menschen, deren Leben bedroht ist, Schutz und Hilfe geben, eine faire Verteilung der Herausforderung erreichen”. Die “zukünftigen Mitglieder der EU” hätten eine “Menschenrechtssituation, die Asyl nicht ermöglicht”, umschrieb Merkel, warum Bewerber vom Balkan in Deutschland kaum Chance auf Asyl haben: “Menschen, die aus dieser Region einen Asylantrag stellen, müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder nach Hause.” Sachlicher als andere würdigte Merkel die Initiative der EU-Kommission in der Frage einer gemeinsamen Asylpolitik: Wenn die EU-Mitgliedstaaten nicht zustimmen, könne die Kommission “auch nichts tun”. Die Kanzlerin kritisierte, dass gegenwärtig “die geltende Rechtssituation nicht eingehalten wird”. Es sei – anders als im Dublin-Abkommen vorgesehen – derzeit gar nicht möglich, Flüchtlinge nach Griechenland zurückzuschicken. “Das ist der Beweis, dass das Dublin-System derzeit nicht funktioniert.”
Die Erfolge, die in der Zusammenarbeit seit der ersten Westbalkan-Konferenz erreicht wurden, kamen in Wien zur Sprache. Etwa dass sich Serbien und der Kosovo am Dienstag in Brüssel in einer Reihe praktischer Fragen einigten. Die Ministerpräsidenten beider Staaten, Aleksandar Vucic und Isa Mustafa, verständigten sich in zehnstündigen Gesprächen über eine Autonomie der serbischen Gemeinden im Kosovo, über Stromwirtschaft, Telekommunikation und die bislang für den Verkehr gesperrte Brücke bei Mitrovica. Belgrad, das die Eigenstaatlichkeit des Kosovo aus historisch-ideologischen Gründen weiter nicht anerkennt, hofft, dass damit – wie Vucic formulierte – für Serbien die Türe zu Verhandlungen über ein erstes EU-Beitrittskapitel geöffnet wurde. Nach Vucics Darstellung soll die Gemeinschaft der serbischen Gemeinden im Kosovo breite Befugnisse haben, sowie einen Präsidenten, eine Versammlung, Wappen und Flagge. Auch dürfe Belgrad diese Gemeinschaft künftig ganz offiziell unterstützen. Die EU-Strategie, die Anerkennungsfrage beiseite zu lassen und stattdessen Koexistenzregeln auszuhandeln, scheint an der explosivsten Nahtstelle Südosteuropas vorerst aufgegangen.
Weniger sensationell, doch modellhaft ist der am Mittwoch in der Wiener Hofburg signierte Grenzvertrag zwischen Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Im Beisein des österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer unterzeichneten der Innenminister Montenegros, Rasko Konjevic, und der Aussenminister Bosnien-Herzegowinas, Igor Crnadak, das Vertragswerk. Fischer lobte dieses “Symbol der Bereitschaft, Differenzen durch Verhandlungen beizulegen”, als Modell für andere Streitfragen. Unter einem Ölgemälde der österreichischen Monarchin Maria Theresia stehend sprach Montenegros Präsident Filip Vujanovic von einem “sehr bedeutsamen Zeichen, mit dem wir die Souveränität und Integrität der Staaten anerkennen und den Weg der Zusammenarbeit beschreiten”. Dragan Covic, das kroatische Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas, erinnerte daran, dass sein Land auch Grenzdiskussionen mit den Nachbarn Serbien und Kroatien habe.
Dass in den Beziehungen zwischen den Staaten Südosteuropas längst nicht alles in Ordnung gebracht wurde, machte am Donnerstagvormittag Serbiens Aussenminister Ivica Dacic – in jungen Jahren ein enger Vertrauter von Diktator Slobodan Milosevic – deutlich. “Die Situation ist bei weitem nicht so idyllisch, wie es den Anschein hat“, sagte Dacic und beschuldigte Serbiens Nachbarn, mehr der Vergangenheit als der Zukunft verpflichtet zu sein. “Wir müssen zeigen, dass wir imstande sind, normale Beziehungen herzustellen, auch ausserhalb solcher Konferenzen.“ Viele Länder des Westbalkan würden “hohe Disziplin an den Tag legen, solange Vertreter der EU im Raum sind. Aber wenn sie uns den Rücken kehren, verhalten sich die Westbalkan-Länder wie schlecht erzogene Kinder.” Da gebe es viele Schuldzuweisungen und verantwortungslose Aussagen von Politikern.
Nicht einmal Dacic kam an der “grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg” vorbei: Serbien sei zwar Transitland, doch habe es allein heuer bereits 44 000 Asylanträge gegeben. Die Schuld sieht Serbien bei EU-Staaten: bei Griechenland, das Flüchtlinge unkontrolliert weiterschickt, und bei Ungarn, das einen Grenzzaun errichtet. Die EU solle Serbien endlich eine klare Beitrittsperspektive geben, “statt neue Zäune zu errichten“. In Serbien seien noch 220 000 Vertriebene aus dem Kosovo, die nicht heimkehren könnten. “Wir können es uns nicht leisten, uns nur mit der aktuellen Flüchtlingskrise zu beschäftigen”, meinte Dacic, der forderte, auch Griechenland in die Verantwortung zu nehmen.
Dem pflichtete auch Österreichs Aussenminister Sebastian Kurz bei, der vor wenigen Tagen nach Mazedonien reiste, um das Flüchtlingsdrama der “Westbalkan-Route“ mit eigenen Augen zu sehen. Es werde derzeit einfach zur Kenntnis genommen, dass es keine Grenzsicherheit mehr gibt, klagte Kurz. “Es ist beschämend, dass aus einem EU-Land täglich tausende Flüchtlinge in ein Nicht-EU-Land fliehen”, und das teilweise staatlich organisiert mit Fähren. Kurz wirft Athen vor, die Flüchtlinge unregistriert nach Mazedonien “durchzuwinken“ – wobei “auch Schlepper gutes Geld verdienen“. Die EU solle erwägen, Asylanträge bereits in den Herkunftsstaaten durchzuführen und sichere Wege des Transportes zu schaffen. Österreichs Aussenminister fordert, “den Fokus der EU auf die Westbalkan-Route zu lenken, nicht nur auf die Italien-Mittelmeer-Route“. Es brauche eine einheitliche Definition der sicheren Herkunftsländer, Schutzzonen in diesen, mehr Grenzsicherheit und den Kampf gegen Schlepperei. Für all dies könne es nur eine europäische Lösung geben. Wohl auch mit Blick auf neue Zäune in Ungarn und Bulgarien sagte Kurz: “Wenn es nicht gelingt, eine europäische Antwort zu finden, werden immer mehr Staaten alleine versuchen, ihre Grenzen zu schützen. Das wird nicht gelingen und gefährdet unsere europäische Idee offener Grenzen nach innen und sicherer Aussengrenzen.“
Deutschlands Aussenminister Frank- Walter Steinmeier forderte in Wien, den Annäherungsprozess der Balkan-Staaten an die EU zu beschleunigen und bilaterale Konflikte zu beseitigen, wo sie bestehen. Dafür brauche es mehr Verständnis füreinander, weshalb der Jugendaustausch so wichtig sei. Auf dem Weg vom Flughafen her habe er Menschen gesehen, die offenbar von Schleppern auf der Strasse Richtung Wien ausgesetzt wurden. In der Flüchtlingsfrage müssten alle EU-Mitglieder “ihre Hausaufgaben erfüllen. Die Staaten, die die Hauptlast tragen, werden es alleine nicht schaffen.“ Er sei der EU-Kommission dankbar für die Bemühungen um eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Steinmeier kündigte Geld für die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge in Griechenland, Serbien und Mazedonien an. Angesichts der Tatsache, dass rund 40 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland aus Südosteuropa kommen, machte auch er klar, dass Menschen aus dem Kosovo oder Albanien “keine Chance auf Asyl in Deutschland haben“.
Der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn thematisierte zwar die regionale Kooperation in Südosteuropa, doch stand auch bei ihm die Migration im Zentrum: Alle sollten begreifen, dass die 28 EU-Staaten zusammenhalten müssen, “und sich nicht jene wegducken, die gerade nicht betroffen sind“. Europa müsse den Transitländern helfen, mit dieser Herausforderung umgehen zu lernen. Hahn erinnerte daran, dass in der Nachbarschaft der EU 20 Millionen Flüchtlinge leben: Syrer, Palästinenser und Ukrainer. Die EU-Kommission werde in Kürze einen Vorschlag für eine einheitliche Beurteilung sicherer Drittstaaten vorlegen und einen neuerlichen Anlauf zu einer Quotenregelung zur Flüchtlingsverteilung in der EU wagen.
Mazedoniens Aussenminister Nikola Poposki sieht “ermutigende Trends“ in der regionalen Kooperation, obwohl Athen die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit seinem Land wegen des Streits um den Staatsnamen bis heute blockiert. Man müsse die Steuerzahler in der EU überzeugen, dass dieser Prozess gut ist, meinte er. Das gelte auch für die Migrationspolitik, denn “alle diese Dinge werden immer wieder den Steuerzahlern serviert”. Mazedonien sei das einzige Land, “wo aus einem EU-Staat Flüchtlinge in einen Nicht-EU-Staat kommen: derzeit 4 000 Migranten täglich”. Skopje wolle seine humanitären Pflichten erfüllen, doch sei das finanziell kaum möglich. “Es gibt keine nachhaltige Lösung, wenn man Serbien und Mazedonien alleine lässt“, so Poposki.
EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini würdigte in Wien “den Mut und die Bereitschaft von Serbien und Kosovo”, zu einer Verständigung zu finden: “Das bereitet auch den Weg für eine europäischen Integration der gesamten Region.” Die geplante europäische Integration aller Westbalkanstaaten sei insbesondere zum Nutzen der jungen Menschen in diesen Ländern. Mogherini forderte, den Kampf gegen Terrorismus und Radikalisierung zu verstärken. Es gebe “die moralische und rechtliche Verpflichtung, die Flüchtlinge zu schützen. Diese Menschen brauchen Europa zu ihrem Schutz.“ Darum aber brauche Europa einen gemeinsamen europäischen Ansatz. Die EU-Kommission arbeite bereits hart an einer gemeinsamen Liste für sichere Drittstaaten und einem Umsiedlungsmechanismus für Flüchtlinge innerhalb Europas. Gegen Menschenschmuggler müsse härter vorgegangen werden. “Auf der Mittelmeer-Route ist das verstärkt worden, auf der Balkan-Route muss noch mehr getan werden.” Mogherini erinnerte an die Migrationsagenda der EU vom Mai, und daran, dass die Kommission vor einer Verzögerung gewarnt habe. Ihre Mahnung: “Es ist jetzt Aufgabe der Mitgliedstaaten, Verantwortung zu übernehmen.” Syriens Nachbarn Jordanien, Libanon und Türkei seien in der Aufnahme von Flüchtlingen bereits “am Rande des Erträglichen angelangt“. Um die Migrationsströme zu managen, sei Brüssel bereits mit den Mittelmeeranrainern und der Afrikanischen Union in Kontakt, doch für die sogenannte Balkan-Route brauche es eine Lösung der syrischen Krise.
Im Gegensatz zu seinem Aussenminister gab sich Serbiens Premier Aleksandar Vucic in Wien versöhnlich: Er würdigte die gemeinsame Erklärung der Staaten Südosteuropas zur Einrichtung von Jugendaustauschzentren, die geplanten Infrastrukturprojekte und die neue Zusammenarbeit zwischen Serbien und Albanien. “Wir haben die Wirtschaft als wichtigste Frage für die Westbalkan-Staaten vorangestellt. Wir müssen die Einstellung verändern – die Balkan-Mentalität, dass der Staat für alles zuständig sei und der Einzelne für nichts.” Vucic demütig: “Wir erwarten nicht von den Europäern, dass sie uns so akzeptieren wie wir jetzt sind.“ Aber: “Wir sind alle der Überzeugung, dass wir zu Europa gehören, und dass wir auch zur EU gehören sollten. Wir sehen die EU – und ich spreche da nicht nur für Serbien – nicht nur als einen Bankomat.“ Kanzlerin Merkel reagierte darauf zunächst verhalten: “Worauf Sie rechnen können, ist, dass wir fair sind.”
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