Die griechische Tragödie

Die Griechen haben am Sonntag bereits abgestimmt – an den Bankomaten

Stephan Baier

Von Stephan Baier

Die Tagespost, 29. Juni 2015

Wenn schon der Staat nicht zu retten ist, dann rette zumindest privat jeder, was er noch retten kann. Das mag nach einem privatwirtschaftlichen Ansatz klingen, der angesichts der paläomarxistischen Wirtschaftsideen der regierenden Syriza-Truppe fast schon vernünftig scheint. Doch der Schein trügt. Denn diese Mentalität, die nun an ihrer Bahre steht, stand auch an der Wiege der Krise: In den Jahrhunderten osmanischer Fremdherrschaft war der Staat der Feind, vor dem man Vermögen in Sicherheit bringen musste, den zu bestehlen Ehre war. So etwas prägt: den kleinen Verwaltungsbeamten, der mit 52 in Rente geht, wie den Reeder, der sein Vermögen unversteuert im Ausland bunkert. Wo aber der Staat als Selbstbedienungsladen betrachtet und politische Verantwortung zur Bereicherung der eigenen Familie, des eigenen Clans, der eigenen Partei genutzt wird, wächst kein Gemeinwohlbewusstsein. Für die öffentlichen Aufgaben war immer irgendwer zuständig: einst der Sultan, dann mächtige Familien, heute die Europäische Union. Darum fällt es Tsipras und seinen Hofideologen jetzt auch nicht schwer, die Schuld an der aktuellen Misere der EU zuzuschieben.

Sicher, die osmanische Herrschaft und die verfestigte balkanische Mentalität – einschliesslich der Neigung zu Verschwörungstheorien – darf man den Griechen nicht zum Vorwurf machen. Man muss sie aber in Betracht ziehen. Denn die These, die Enkel der antiken Hellenen seien heuer auf der Flucht vor korrupten Altparteien in die Hände irrer Pyromanen geraten, wird zwar durch das Agieren von Tsipras und Varoufakis gestützt, greift aber zu kurz. Dass diese beiden meinten, jede ökonomische und politische Realität ignorieren sowie Athens Partner in Europa betrügen und erpressen zu dürfen, hat neben bedenklichen psychologischen und noch bedenklicheren ideologischen eben auch historische Hintergründe. Sogar jetzt – fünf nach Zwölf – sind sie ungebrochen davon überzeugt, allen alles einreden zu können: der EU, dass es das geringere Übel für ganz Europa sei, Athen am Ende doch zu retten; dem griechischen Volk, dass Europa mit seinen Spardiktaten an allem Elend schuld sei; der eigenen Partei, dass Marxismus ökonomisch funktioniere; den Wählern, dass Renten, Gehälter und Bankeinlagen sicher seien – und dass sie demokratisch darüber befinden könnten, zu welchen Bedingungen der Rest Europas den griechischen Augiasstall ausmisten darf. So viel Realitätsverweigerung in der Heimatstadt der Logik, das schmerzt nicht nur Europäer, die sich ihrer geistesgeschichtlichen Wurzeln bewusst sind.

Die griechische Tragödie lässt sich am Mienenspiel Schäubles, Varoufakis’ und der anderen Akteure vielleicht in Szene setzen. Erklären lässt sie sich als Frage von Eitelkeit und Verachtung, Nerven und Psychodramen, Sitzungsdynamik und Schlafentzug aber nicht. Die Verantwortlichen in Europa sind Athen über die Schmerzgrenze ihrer Steuerzahler hinaus entgegengekommen. Sie wussten, dass der Bankrott eines EU-Mitglieds – erst recht eines Euro-Landes – Schaden für die ganze EU bedeutet. Sie wissen aber auch, dass die Aufhebung aller roten Linien und die Auflösung aller Spielregeln schlicht das Ende der Glaubwürdigkeit Europas bedeuten würde. Mit dramatischen politischen und ökonomischen Folgen.

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