Die Freiheit, zu glauben

Viele Menschen verbinden mit der Kirche nur Zwang und Regeln. Ist das berechtigt?

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Viele Menschen verbinden mit der Kirche nur Zwang und Regeln. Ist das berechtigt? Bietet die Kirche nicht einen freieren Gehorsam als die Welt?

Von Felix Honekamp

Die Tagespost, 29. Mai 2015

Kirche und Freiheit – für viele Menschen (selbst für Gläubige!) steckt darin im Grunde ein Widerspruch! Übel nehmen kann man das den Menschen kaum, hat doch die Kirche beim Thema Freiheit ein Vermittlungsproblem. Da wird in theologischen Diskussionen die Bibel zitiert, als wäre unser Glaube ein Gesetzbuch: Zehn Gebote, Reinheitsvorschriften, dazu in der katholischen Kirche noch der Katechismus, lehramtliche Schreiben, Konzilsdokumente. Ge- und Verbote überall! Und mit dort gefundenen Regeln lässt sich leicht alles “niederbibeln”, was der eigenen Einstellung nicht entspricht, um damit aggressiv zu argumentieren: “Du glaubst falsch, ich liege richtig!”

Die Gefahr besteht im Übrigen für jede christliche Richtung, bibeltreu oder nicht, konservativ oder progressiv, alle stehen in der Versuchung, ihre Vorstellungen von Gut und Böse aus der Bibel ableiten und den anderen mehr oder weniger fordernd über den Kopf ziehen zu können.

Dabei ist die Mehrheit der Menschen, egal ob Kirchenmitglied oder nicht, gar nicht Teil dieses Disputs. Viele von ihnen stehen kopfschüttelnd vor diesen in ihren Augen akademischen Diskussionen, die mit ihrem Leben, ihrer – um das viel geschmähte Wort mal zu verwenden – “Lebensrealität” wenig bis nichts zu tun haben. Eucharistie für wiederverheiratete Geschiedene – Was ist denn Eucharistie? Segnung von Homosexuellen – Wenn sie sich doch lieben? Sex vor der Ehe – Ist das nicht besser, als wenn man sich direkt in die Ehe stürzt? Letztlich stehen sich der kirchlich engagierte und an kirchlicher Lehre interessierte Gläubige und der ganz normale Mensch auf der Strasse sprach- und verständnislos gegenüber. Man versteht einander nicht, man will vielfach auch gar nicht hören, was der andere zu sagen hat. Nur eines scheint für die “Welt da draussen” klar: Die Kirche bietet in erster Linie mal ein enges Korsett der Unfreiheiten, die man sich lieber nicht antut. Von da aus ist es dann auch nur noch ein kleiner Schritt, den Vertretern der Kirche als Vertretern der Unfreiheit in einer liberalen Gesellschaft den Zugang zum öffentlichen Diskurs zu verweigern.

Interessant ist in diesem Zusammenhang aber eine Äusserung des Passauer Bischofs Stefan Oster, die er eingangs einer sehr kritischen Bewertung der kürzlich erschienenen ZdK-Erklärung zur Familie geäussert hat. Darin heisst es: “Jeder Mensch ist Person mit einer einzigartigen Würde. Jeder Mensch hat ein Gewissen und das Recht, sein Leben nach seinem eigenen Wollen, Können und Gewissen zu gestalten, sofern er dabei niemand anderen beschädigt. […] Diese Auffassung der unbedingten Anerkennung jedes Menschen als Person mit Würde, Freiheit und Gewissen gehört zum Fundament des Glaubens der Kirche und seinem Menschenbild und ist unhintergehbar.”

Unter liberalen und libertären Menschen gibt es viele Christen, deren Positionen sich nicht immer ganz einfach zur Deckung mit dem Glauben bringen lassen. Osters Freiheitsdefinition ist aber eine, mit denen auch sie klar kommen würden. Die Freiheit findet ihre Grenze dort, wo sie jemand anderen schädigt. Bis dahin kann jeder sein Leben nach seinen eigenen Kriterien gestalten: Nach seinem Wollen, das heisst nach den persönlichen Zielen, die man kurz, mittel- oder langfristig erreichen möchte, nach seinem Können, das heisst nach den persönlichen Kapazitäten und Kompetenzen zur Lebensgestaltung und nach seinem Gewissen, das heisst nach der fundierten Einschätzung, was gut ist und was böse ist, auch welche Verantwortung zu übernehmen ist. Gerade Letzteres, das Gewissen, findet für den Katholiken Nahrung im Glauben und in der Kirchenlehre.

Dabei hat die Kirche schon lange nicht mehr die weltliche Macht, bestimmte Verhaltensweisen zu erzwingen oder zu sanktionieren, sie kann aber deutlich machen, was ein gottgemässes Leben ausmacht, und wo die Grenzen dessen liegen, was man mit einem solchen Leben vereinbaren kann. Die beschriebene Definition von Freiheit beinhaltet aber auch etwas, das ansonsten – gerade in einer politisch freien Gesellschaft – gerne unter den Teppich gekehrt wird: die Verantwortung. So wie der Mensch im ganz normalen “Alltag“ Verantwortung für sein Tun übernehmen sollte, so ist das auch mit dem geistlichen Leben. Niemand zwingt einen zum Glauben, nicht mal Gott selbst.

Sich aber von ihm abzuwenden hat Konsequenzen. Ebenso allerdings, wie sich viele zwischenzeitlich damit schwertun, für Misserfolge im weltlichen Leben die Verantwortung zu übernehmen, so fällt das auch im geistlichen Leben schwer. Die Formulierungen ähneln sich von ihrem Sinngehalt her: Der Staat wird es schon richten! Und: Gott wird uns schon alle in den Himmel lassen – so es diesen denn gibt!

Letztlich beschränkt aber diese Ablehnung von Verantwortung auch die Freiheit. Denn die Verantwortung für das persönliche Handeln ist ja nicht einfach verschwunden, sie wird nur von jemand anderem getragen bzw. an denjenigen delegiert: in weltlichen Belangen an einen ausufernden “Nanny-Staat”, in geistlichen an einen alles verstehenden und nichts nachtragenden Gott. Eine solche Freiheit in Verantwortungslosigkeit existiert also im Grunde gar nicht, es wird nur jemand anderes verantwortlich gemacht, der damit seiner Freiheit beraubt wird. Um in den vergleichenden Bildern von Gesellschaft und Glauben zu bleiben: Der Staat, das heisst am Ende die anderen Mitglieder der Gesellschaft müssen (!) für das Handeln Einzelner Verantwortung übernehmen und sind damit nicht mehr frei. Oder: Gott muss (!) für mein Handeln Verantwortung übernehmen und wäre (!) nicht mehr frei, damit aber auch nicht mehr Gott.

Der Staat, wie wir ihn weithin als Sozialstaat kennen, ist damit immer in der Gefahr, Freiheiten zu beschneiden in dem Versuch, soziale Gerechtigkeit zu erzeugen. Eine Regierung, die sich brüstet, etwas für sozial Schwache getan zu haben, sagt im Grunde nicht die Wahrheit: Sie hat lediglich die Mitglieder des Staates, die Bürger, dazu gezwungen, etwas für andere Menschen zu tun. Ob man das für moralisch gerechtfertigt hält, ist gar nicht mehr die Frage, es ist lediglich eine Feststellung, dass die Zahler von Steuern und Sozialabgaben nicht mehr frei über sich, ihr Vermögen, ihre Handlungsoptionen verfügen können. Man sieht es schon am Horizont: Der Staat macht sich zu einem Gott, viele nennen es einen “Leviathan”, der keine Freiheiten seiner Bürger mehr respektiert, letztlich nicht mehr respektieren kann. Er würde sonst nicht ungewollte Ungleichheiten riskieren.

Solch ein Kuhhandel mit der Freiheit ist mit Gott nicht möglich: Man kann die Konsequenzen des persönlichen Handelns nicht Gott aufzwingen. Gott hat den Menschen durch Jesus Christus, sein Leiden am Kreuz und seine Auferstehung erlöst, aber er musste das nicht tun, er hat es in Freiheit und aus Liebe getan. Gott zu etwas zu zwingen, würde bedeuten, seine Freiheit einschränken zu wollen. Ein solcher Gott mag bequem ins persönliche Weltbild passen, er ist aber nicht Gott. Und in ebensolche Freiheit hat Gott die Menschen – ihm ähnlich! – geschaffen. Dass der Mensch sich seiner Freiheit durch die Ablehnung von Verantwortung selbst entledigen will, ist dabei erst mal unerheblich. Was Gott sich wünscht ist als erstes die Liebe zu ihm; alle Regeln, Dogmen, Gebete, moralisches Handeln, sind eine Folge daraus. Liebe aber – so viel sollte klar sein – kann nur in Freiheit entstehen. Gott hat uns als sein Abbild geschaffen und lebt nun – salopp gesagt – mit den Konsequenzen. Liebe kann er von den Menschen nicht mehr erzwingen, sonst wäre es keine. Liebe ist damit für denjenigen der liebt, immer eine Entscheidung, die täglich neu zu treffen ist: Liebe ich Gott heute, jetzt in diesem Augenblick, oder liebe ich etwas anderes, im Grunde mich selbst, mehr? Ein Priester entscheidet sich frei für den Zölibat, die Menschen entscheiden sich frei für ein Leben, von dem sie glauben dürfen, dass es gottgemäss ist: Kein Zwang nirgends! Aus diesem Verständnis heraus wird deutlich, welch grossartige Freiheit Gott den Menschen gegeben hat. Möglicherweise ist es immer noch besser, an den Gott der Bibel zu glauben, weil man meint, es zu müssen, als nicht zu glauben. Der eigentliche Glaubensakt geschieht aber in der Freiheit, die Gott geschenkt hat, und die sich der Mensch nehmen kann. In Anlehnung an einen bekannten Werbespruch: “Die Freiheit, zu glauben, was Gott mitteilt, nehme ich mir!”

Aber verlangt Gott denn nicht Gehorsam? Ist es nicht so, dass man, wenn man sich von ihm abwendet, Konsequenzen erleidet? Und abhängig davon, wie weit man sich entfernt, sind diese Konsequenzen dann nicht dramatisch? Abgesehen davon, dass die Konsequenzen für einen Nichtglaubenden keine Relevanz haben dürften – wer nicht an Gott glaubt, den schrecken auch keine Qualen von Fegefeuer und Hölle – ist dieser Gehorsam etwas ganz anderes als der erzwungene Gehorsam gegenüber dem Staat. Dieser verlangt gesellschaftliche Anpassung, er verlangt, ja er braucht sogar Wohlverhalten über das Zahlen von Steuern, über das Beantragen einer Pkw-Zulassung, das Einstellen des Rauchens in öffentlichen Räumen bis hin zum sauberen Trennen von Müll. Der Bürger hat keine echte freie Wahl, die ihn nicht im Zweifel ins Gefängnis bringen würde. Im Katechismus gibt es dagegen zum Glaubensgehorsam einen erhellenden Abschnitt, der deutlich macht, wie dieser Begriff gemeint ist: “Im Glauben gehorchen [ob-audire] heisst, sich dem gehörten Wort in Freiheit unterwerfen, weil dessen Wahrheit von Gott, der Wahrheit selbst, verbürgt ist.” (KKK 144) Sich “in Freiheit unterwerfen” ist etwas ganz anderes, als unterworfen zu werden, gezwungen zu werden und bei Zuwiderhandlungen mit der ganzen Macht zum Beispiel eines Staates konfrontiert zu sein.

Hier schliesst sich der Kreis, in dem auch diejenigen Verhaltensweise legitimiert sind, die einem die Vernunft nicht unmittelbar erschliesst: Wer im Credo das “Ich glaube …“ betet, für den ergeben sich Infragestellungen von Ge- und Verboten nicht mehr unmittelbar. Auch für die Anwendung des Glaubens ist der Mensch verantwortlich; er kann sich nicht einfach darauf zurückziehen, dass das, was er tut, so im Katechismus steht. Aber er kann Gott und der Kirche vertrauen, dass er damit nicht falsch liegen wird. Deshalb hat die Kirche eine unglaubliche Verantwortung für die Gläubigen und tut sich demgemäss schwer, bestimmte moralische Grundsätze über Bord zu werfen. Sie muss es ablehnen, Dogmen, die einmal als die Wahrheit erkannt wurden, zu ändern. Der gläubige Mensch folgt diesen Glaubensgrundsätzen in Freiheit und im Vertrauen darauf, damit letztlich Christus zu folgen. Lediglich die Kirche selbst hat nicht die Freiheit, an diesen Grundsätzen etwas zu ändern.

Erstaunlicherweise dreht sich durch diese Einsichten, was Freiheit, Verantwortung und Gehorsam bedeuten, das eingangs beschriebene Bild: Die weltliche Umgebung einer Gesellschaft, in der man sich doch frei wähnt, schränkt durch staatliche Gesetzgebung und selbst durch gut gemeinte soziale Regulierungen die Freiheiten ein. Glaube und Kirche dagegen, vermeintliche Orte der Unfreiheit, bieten ein maximales Mass an freier Entscheidung. An der für die Freiheit notwendigen Verantwortung kommt niemand – weder weltlich noch geistlich – vorbei. Das grössere Vertrauen verdient doch aber derjenige, der einem die Freiheit der Entscheidung überlässt.

Der Autor ist Diplombetriebswirt und seit einigen Jahren als katholischer Blogger (papsttreuerblog.de) im Internet aktiv.

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