Von der Bindung zur Sendung
Brauchen Seminaristen “Artenschutz”?
Eine Betrachtung über den akademischen und geistlichen Weg zum Priestertum.
Von Kardinal Paul Josef Cordes
Die Tagespost, 24. April 2015
Vor meiner Berufung in den Vatikan war ich vier Jahre lang Weihbischof im Erzbistum Paderborn und besuchte dort viele Pfarreien. Dann und wann kam es auch zu Begegnungen mit jungen Leuten, die sich für Priester- und Ordensberufe interessierten. Der Zustrom war nicht eben berauschend, aber der kleine Kreis half zu dichten, aufrichtigen Gesprächen. Meine erste Frage war meistens: „Was sagen Bekannte oder Klassenkameraden, wenn sie hören, dass Ihr Euch mit dem Priesterberuf befasst?“ Durchwegs war die Antwort: „Fast alle warnen oder sind dagegen.“ Allerdings auch: „Nur unsere Oma macht mir Mut.“ In der Runde weckte diese Information eine wichtige Erkenntnis: Wenn andere meine Wahl dieses Berufs missbilligen, so liegt das nicht an meiner Person; der Beruf als solcher erzeugt Vorbehalte, ist gefährlich, erscheint abseitig oder verstiegen. Schon diese Einsicht machte die Treffen sinnvoll. Später kam mir ferner zu Ohren, sie hätten den einen oder andern auch zum Seminareintritt motiviert.
Inzwischen wurde in der Kirche viel unternommen, die Hemmschwelle gegenüber der Wahl des Weihesakramentes zu senken. Die deutschen Bischöfe richteten für ihre Diözesen Zentren der Berufungspastoral ein. In den allermeisten Diözesen wurde der „Tag der offenen Tür“ eingeführt, der Neugierigen die Häuser zeigt und Vorurteile gegen die Welt der „Priesterzöglinge“ abbaut. In dieser Zeitung kommen dazu regelmäßig junge Leute zur Sprache, die den Sprung in dieses „kalte Wasser“ gewagt haben. Neue Geistliche Bewegungen – etwa das Neukatechumenat – nehmen den Schwung der „Weltjugendtage“ auf und halten nach den begeisternden Liturgien mit dem Papst und der bewegenden Erfahrung des gemeinsamen Gebets ihre jungen Mitglieder an, sich ernsthaft zu fragen, ob Gott sie vielleicht für diesen Beruf erwählt hat. Seminarist zu werden macht nicht länger zum Exoten.
Der Eintritt ins Priesterseminar ist freilich nur der Beginn eines Weges; dessen Ziel liegt noch fern. Doch ihn unter Gleichgesinnten und in Begleitung erfahrener Priester zu gehen, hat sich sehr bewährt. In den Niederlanden wurden nach dem Zweiten Vaticanum all diese Häuser leichtfertig aufgelöst. Im letzten Jahr durfte ich dann in Rolduc den Gedenktag der Wiedereröffnung des Seminars – den „Dies natalis“ – mitfeiern. Der Dank für diese neue Kraftquelle des Glaubens im Nachbarland war in allen Gesichtern zu lesen.
Vorrangig ist der neue Lebensabschnitt vom Studium bestimmt. Bislang mochten das Gottesverhältnis und die Hinneigung zum Priestertum undeutlich sein oder nur dem Gefühl entstammen. Die Theologie kann dann die Motive auf die Ebene des Denkens heben. Wissenschaft gibt Glauben und Beruf klare Konturen, führt ein in die faszinierende Welt von Christi Heilswerk und schärft den Blick auf Gott und seine Kirche. Hatte den Kandidaten zunächst vielleicht eine zarte Nähe zu Jesus bewegt, so wird er gern die Chance zu seiner verlässlichen Kenntnis nutzen; Vertrautheit möchte ja immer auch Genaueres wissen.
Bei solchem Wachstum im Glauben sind lästige, vielleicht schmerzhafte „Häutungen“ unvermeidlich. Auch mag es sein, dass man auf einen akademischen Lehrer trifft, der sich in Kirchen- und Glaubenskritik gefällt. In jedem Fall entwickelt sich Reife. Und das Gespräch mit den Studien-Kollegen und den verantwortlichen Priestern gibt neue Festigkeit.
Generell ist die geistliche Begleitung durch kluge Seelsorger kaum zu überschätzen. So viele Lebenswege von großen Männern und Frauen zeigen das. Die heilige Teresa von Avila, Lehrerin der Kirche, ist nicht ohne „Seelenführung“ zu verstehen. Und der protestantische Glaubenszeuge Dietrich Bonhoeffer sagt: „Christus spricht klarer im Mund des Bruders als im eigenen Herzen.“ Besonderen Rang erhält solches Geleit in der sakramentalen Versöhnung, wenn ein Priester im Namen Christi den Beichtenden von seinen Sünden losspricht. Es gibt wohl keine vorzüglichere Chance für den Christen, sich so rückhaltlos in das Licht Gottes zu stellen und dadurch Gottes befreiende Barmherzigkeit zu erfahren. Deshalb muss die Beichte dringend wieder einen zentralen Ort in der Gemeinde-Pastoral bekommen. Hier herrscht Handlungsbedarf – offenbar auch in Seminaren. Scheint es doch, dass nicht in ihnen allen die Studenten zur regelmäßigen Beichte geführt werden. Wie kann aber jemand die Gemeinde für die kostbare Frucht der Lossprechung gewinnen, wenn sie für ihn selbst nicht zählte?
Nach seinem anfänglichen Enthusiasmus mag der Seminarist von träger Bequemlichkeit versucht werden. In ihrem Realismus mahnt ja schon die Bibel, nicht von der „ersten Liebe“ abzulassen (Offenbarung 2, 4). Dazu kommt, dass Priesteramtskandidaten dünn gesät sind. Für ihre Bischöfe gelten sie folglich als schützenswert, und die Diözese räumt ihnen möglichst alle äußeren Hindernisse aus dem Weg. Das kann verbürgerlichen. Obwohl heute zweifelsohne der unchristliche öffentliche Gegenwind die Kandidaten dagegen wappnet, dass ihr Berufsziel sich zu einem banalen Brotberuf verwässert.
Hingegen droht eine andere Verzerrung des priesterlichen Amtes. Sie hat nicht zuletzt wegen des chronischen Priestermangels in einigen schweizer, in deutschen, österreichischen und italienischen Diözesen schon Fuß gefasst. Bürokratische Kapazität, Strukturspiele und renommierte Unternehmensberater bereiteten ihr dort den Boden: Der Priester verkümmert zu einer Figur auf dem Schachbrett der Institution Kirche; Soziologie bestimmt die Optik. Für jeden Kirchendienst hat ein Funktionär zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, damit die angesetzte Veranstaltung besetzt ist und das System in Gang bleibt. Fehlt er, so schafft die Kirche durch die Stiftung neuer Funktionsträger Ersatz. Dafür braucht man keine Seminarausbildung. Sie wäre vertane Zeit.
Freilich sind die Folgen alarmierend: Das Fundament für den Vollzug von Lehramt, Priesteramt und Hirtenamt ist nicht länger das von Christus gestiftete Weihesakrament. Administratoren verbiegen hurtig die Laientheologie des Zweiten Vaticanums, richten neue „Ämter“ ein und bewältigen die Seelsorgeaufgaben aus angemaßter Eigen-Kompetenz. Ihr Vorgehen verbreitet unter den Gläubigen Verwirrung. Die extra von Herrn für die kirchliche Sendung angebotene Weihe-Gnade erscheint verzichtbar. So versucht man, dem Priestermangel zu wehren, vergisst aber das Sakrament. Die Kirche riskiert Selbstbeschädigung. Gott büßt gegenüber dem Säkularismus eine solide Festung ein: das geweihte Amt.
Schon in der frühen Kirche gab es offenbar keinen Überschuss von Dienern am Evangelium. Sonst hätte das Neue Testament wohl kaum Jesu Satz festgehalten: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige“. Und mit seinem Bedauern zeigt der Herr uns gleichzeitig an, von woher wir eine Bewältigung des Übels erhoffen dürfen: „Bittet daher den Herrn der Ernte, Arbeiter in seine Ernte zu senden“ (Mt 9,37). Auch wenn wir gegen das Problem der Rekrutierung von Priestern angehen müssen: In keinem Fall würden wir es bewältigen, wenn wir Gott dabei aus den Augen verlören.
Die Gemeinden stehen demnach in dringlicher Pflicht: Auch ohne die Priesteramtskandidaten zu verhätscheln, brauchen diese die Bestätigung der Gläubigen. Sie müssen deren Wohlwollen spüren, da sie gewiss stärker im öffentlichem Gegenwind stehen als die meisten von uns. Sie dürfen nicht als Schmuddelkinder gelten; sie sind von Gott und vom Evangelium gewollt. Und alle nagenden Skandale machen dieses Zertifikat nicht hinfällig.
Die Bezeichnung des Ausbildungsortes als Seminar ist von dem lateinischen Wort für „Pflanzstätte“ abgeleitet. Das kleine Samenkorn der Berufung muss aufgehen, heranwachsen und zu einer widerstandsfähigen Pflanze werden. Lediglich traditionelle und kulturelle Stützen reichen nicht länger hin, priesterliche Identität zu schaffen. Die unabdingbare Selbstsicherheit für die Sendung braucht eine klare theologische Grundlegung. Und sie hat in Jesu Botschaft wie auch in der kirchlichen Lehre vor allem des Zweiten Vaticanums verlässliche, hieb- und stichfeste Wurzeln. Nur sind diese den künftigen Priestern nicht vorzuenthalten. Mir erscheint es bedauerlich, ja heute unverantwortlich, dass nicht alle Kandidaten tatsächlich Vorlesungen über das Weihesakrament hören; dass man sagt, deren Zahl sei an den Fakultäten ja stark geschrumpft und verdiene wohl kaum besonderen „Artenschutz“.
Schließlich muss noch das letzte Ziel eines Seminars benannt werden, dem die Methoden und Mittel zu dienen haben: das anbetende Gewinnen einer Freundschaftsbeziehung zum Du Jesu Christi. In dieser persönlichen Bindung liegt der maßgebliche Qualitätsausweis aller Vorbereitung. Gewiss ist sie vor allem eine Gnade. Dennoch wurde sie vom Herrn in feierlicher Form dreifach abgefragt, als er Petrus in sein Amt einsetzte: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese“ (Johannes 21, 15)? Demnach soll der Kandidat auch um solche Liebe ringen. Wächst er in sie hinein, so schenkt sie ihm tiefstes Glück und umfassende Erfüllung; denn er erfährt sich als Mitarbeiter des geliebten Herrn an der Erlösung der Mitmenschen.
Vor Jahren schrieb mir ein Mitbruder aus einem Land, in dem es noch die Todesstrafe gab: „Vielleicht hast Du in diesen Tagen gelesen, dass man hier einen Deutschen hingerichtet hat. Ich sollte ihn auf den Tod vorbereiten. Du kannst Dir denken, welche Angst ich hatte. Aufgewühlt ging ich zu ihm: Wie es anstellen, dass er mich anhört – wie seine Bereitschaft gewinnen, dass er sich öffnet – wie mit ihm über Gott sprechen? Dann sprach er selbst unaufgefordert von Gott. Ist das nicht wunderbar: Wenn wir Gott irgendwohin bringen wollen, ist er immer schon da.“
Gott ist immer schon da, wenn wir ihn irgendwohin bringen wollen. Das ist die Erfahrung, die Gottes Boten Mut macht und ihn belohnt.
Der Autor hat zum Thema Berufung das Buch verfasst: „Warum Priester? Fällige Antworten mit Benedikt XVI.“, Augsburg 2009.
Schreibe einen Kommentar