400 Kalorien pro Tag
Die Palästinenser in Jarmuk hungern – UN-Hilfslieferungen dringen nicht durch
Quelle
Vatikan: Kreuzweg junger Libanesen 2013
Von Oliver Maksan
Die Tagespost, 13. April 2015
Nur 400 statt der nötigen 2 100 Kalorien pro Tag stehen den im Palästinenserlager Jarmuk in Damaskus eingeschlossenen Menschen derzeit zur Verfügung, sagte jetzt ein Vertreter der Vereinten Nationen. Eine UN-Delegation traf im Auftrag des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon am Wochenende in Syrien ein. Dieser hatte Jarmuk vergangene Woche als Todeslager bezeichnet. Bislang gelang es der UN-Delegation trotz Verhandlungen mit der syrischen Regierung nicht, humanitäre Hilfe in das Gebiet zu liefern und die Einrichtung eines Fluchtkorridors für die eingeschlossenen Menschen zu erreichen. Etwa 18 000 Menschen, darunter 3 500 Kinder, sitzen dort nach UN-Schätzungen fest. Heftige Kämpfe zwischen syrischen Regierungstruppen und der Terrormiliz „Islamischer Staat IS“ toben seit Tagen.
Die syrische Armee soll die im Viertel verschanzten Dschihadisten mit Artillerie und Fassbomben attackieren. Die IS-Miliz wiederum soll Gräueltaten an widerständigen Bewohnern verübt haben, berichten Aktivisten. Dem IS war es zu Beginn des Monats gelungen, weite Teile des nur etwa acht Kilometer vom Damaszener Stadtzentrum entfernt gelegenen Viertels zu übernehmen und damit erstmals im Gebiet der syrischen Hauptstadt Fuss zu fassen. Sie wurde dabei vom syrischen Arm der Al-Kaida, der Al-Nusra-Front, unterstützt – trotz der Gegnerschaft, die zwischen beiden Gruppen ansonsten in Syrien weitestgehend herrscht.
Bis zu 160 Menschen sind bereits verhungert
Bei Jarmuk handelt es sich um ein Lager, das für palästinensische Flüchtlinge eingerichtet wurde, die im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948 geflohen waren. Vor Beginn des syrischen Krieges 2011 hatte es sich zu einem regulären Stadtviertel entwickelt. Zeitweise lebten dort über 160 000 Palästinenser neben Syrern. Anders als etwa im Libanon, wo die Beziehungen zwischen palästinensischen Flüchtlingen und vor allem der christlichen Bevölkerung nach den Erfahrungen des Bürgerkriegs ausgesprochen schlecht sind, war die Lage der Palästinenser im Syrien der Assads weitaus besser. Zwar erhielten sie keine Staatsbürgerschaft, jedoch konnten sie Eigentum erwerben und sich vollständig ins Berufsleben integrieren. Diese vergleichsweise freundliche Behandlung hatte vor allem mit der arabisch-nationalistischen Ideologie des Regimes zu tun, das sich als Anwalt der Palästinenser gegen Israel verstand. Besonders nach dem als Verrat Jasser Arafats an der palästinensischen Sache empfundenen Oslo-Prozess zu Beginn der neunziger Jahre wurde Damaskus zum Hort des Widerstands. Die Führung der palästinensischen Islamisten-Organisation Hamas etwa hatte deshalb bis 2012 ihren Sitz in Damaskus. Als aber 2011 die Demonstrationen gegen Präsident Assad begannen und sich spätestens im Sommer eine Militarisierung des Konflikts abzeichnete, spalteten sich die in Syrien lebenden Palästinenser in Anhänger und Gegner des Regimes. Die Hamas-Führung ging nach Katar, das die Anti-Assad-Rebellen unterstützte. Angesichts ihrer Unterstützung für die ägyptischen, dem syrischen Regime feindlich gesonnenen Muslimbrüder und der zunehmenden Konfessionalisierung in der Region wandte sich die sunnitische Hamas von der dem schiitischen Lager zugehörenden Damaszener Regierung ab. Besonders in Jarmuk begannen palästinensische Fraktionen, sich gegen Assad zu wenden, während andere ihm die Treue hielten. Beide Lager kämpfen derzeit miteinander. So steht die Hamas-nahe “Aknaf Beit Al-Maqdisi”-Miliz der mit dem syrischen Regime verbündeten palästinensischen Fraktion PLFP-GC gegenüber. Erstere Miliz kämpft seit dem Vordringen des IS in Jarmuk jetzt einen Zwei-Fronten-Krieg.
Die Regierung versuchte bereits seit längerem, die im Viertel aktiven palästinensischen Gegner durch Belagerung zur Aufgabe zu zwingen. Spätestens seit Beginn der Abriegelung 2013 ist deshalb der Grossteil der Einwohner des Viertels angesichts der sich verschlechternden Versorgungslage geflohen. Schon 2014 war es UNRWA, der für palästinensische Flüchtlinge zuständigen UN-Einrichtung, nicht gelungen, die für eine reguläre Ernährung der verbliebenen Bevölkerung nötige Menge an Nahrungsmitteln in das Gebiet zu liefern. Nur an 131 Tagen war überhaupt eine Versorgung möglich. Bis zu 160 Menschen sollen Hilfsorganisationen zufolge in Jarmuk bislang verhungert sein. Aktivisten machen die syrische Regierung und ihre jahrelange Blockadepolitik für das Leid der Menschen in Jarmuk verantwortlich. Assad wolle zudem den aktuellen Vorstoss des IS nutzen, um sich endgültig der palästinensischen Opposition in dem strategisch wichtigen Gebiet zu entledigen. Aktivistenberichten zufolge erfolge der Beschuss mit Fassbomben deshalb nur dort, wo palästinensische Gruppen dem IS Widerstand leisteten.
Friedensaktivist ruft Israel zu humanitärer Geste auf
Zeitweise hatte es so ausgesehen, als würde sich die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO militärisch mit der syrischen Regierung verbünden wollen, um den IS zu bekämpfen. Dies hatte ein PLO-Abgesandter vergangene Woche in Damaskus in Aussicht gestellt. Am Donnerstag entschied die in Ramallah im Westjordanland ansässige Organisation indes anders. Man wolle nicht in den Konflikt hineingezogen werden.
Vermehrt rufen israelische Kommentatoren derweil die israelische Regierung dazu auf, den Palästinensern von Jarmuk bedingungslos die Einreise ins Westjordanland zu gestatten. Das wäre eine humanitäre Geste, die geeignet wäre, die Beziehungen zu den Palästinensern und zur arabischen Welt insgesamt zu verbessern, so etwa der israelische Friedensaktivist Gerschon Baskin in einem Aufruf. Bislang gestattet Israel, das alle Aussengrenzen der palästinensischen Autonomiegebiete kontrolliert, Palästinensern die Ansiedlung nur, wenn sie vorher auf ihren Flüchtlingsstatus und alle Ansprüche gegen Israel förmlich verzichtet haben, vor allem das Recht auf Rückkehr in ihre Heimatorte, die heute in Israel liegen.
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