‘Institutionell ein gewaltiger Umbruch im Gang’?

Richtungsstreit wegen Exodus der Gläubigen

DreifaltigkeitsikoneChristus Pantokrator 13. Jahrhundert, Kloster Hilandar, AthosQuelle

Die konservativen Kreise innerhalb der katholischen Kirche lassen im Fall Bürglen die Muskeln spielen. Auch bei der Frage, wie die Kirche mit der Säkularisierung umgehen soll, pochen sie auf Deutungshoheit.

Die katholische Kirche erlebt derzeit einen konservativen Backlash. Die Bischofskonferenz stellt den Mediensprecher Simon Spengler auf die Strasse, weil er gegen aussen eine zu progressive Haltung vertrat. Der Westschweizer Bischof Charles Morerod hat angekündigt, im September beim “Marsch für das Leben” von christlichen Abtreibungsgegnern mitzulaufen. Und besonders schlagzeilenträchtig: Zusammen mit dem Churer Bischof Vitus Huonder will Morerod den Pfarrer des Urner Dorfes Bürglen abstrafen , weil dieser ein lesbisches Paar gesegnet hat. Es scheint, dass die Reformer in die Defensive geraten sind. Ihr Streit mit den Konservativen um die Deutungshoheit in der katholischen Kirche ist zwar ein Dauerbrenner, sowohl in der Schweiz wie auch weltweit.

Doch die Frage, welche Seite die Oberhand gewinnt, könnte weitreichendere Konsequenzen haben als früher. Denn das Ringen spielt sich vor einer gesellschaftlichen Kulisse ab, in der die Existenz von Volkskirchen grundsätzlich infrage gestellt ist.

Keine Trendwende in Sicht

Der Religionssoziologe Jörg Stolz prognostiziert, dass in der Schweiz bereits in 15 Jahren das etablierte Milieu der treuen Kirchgänger massiv geschrumpft sein wird und auch die heute grösste Gruppe der Distanzierten – jener, die noch mit einem Bein in der Kirche sind – deutlich an Masse verliert. “Ich sehe derzeit keine Anzeichen für eine Trendwende”, sagt Stolz. Die Zahlen sprechen für sich. Nur noch eine kleine Minderheit der Kirchenmitglieder nimmt regelmässig am Gottesdienst teil. Die Kirchenaustritte nehmen weiter zu. Auch die Zahl der Taufen ging von 1997 bis 2012 um ein Fünftel zurück. Mit jeder Generation nimmt somit die Bindung an die Kirche, die noch in den sechziger Jahren selbstverständlich war, weiter ab.

Die Säkularisierung stellt die katholische Kirche vor ein Dilemma, welches das Pastoralsoziologische Institut in St. Gallen so umschreibt: Möchte sie eine heterogene “Volkskirche” bleiben, das heisst eine Kirche, die für die Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Glaubensvorstellungen offen ist? Oder möchte sie zu einer kleinen homogenen Gemeinschaft werden, die sich in erster Linie an “Hochreligiöse” mit einer starken Kirchenbindung richtet, wie dies mehrheitlich die Freikirchen tun? Für die zweite Option stehen die Konservativen ein, deren prominenteste Vertreter in der Deutschschweiz Bischof Huonder und seine Churer Entourage sind. Ihre Logik: Aufgrund gesellschaftlicher Trends wird sowieso ein Grossteil der Kirchenmitglieder wegbrechen. Statt sich auf den aussichtslosen Versuch einzulassen, diese Menschen mit Verbeugungen vor dem Zeitgeist bei Laune zu halten, soll ein striktes Dogma durchgesetzt werden – so wie im Fall Bürglen. Denn sonst läuft man Gefahr, die Strenggläubigen auch noch zu verlieren.

Die göttliche Wahrheit

Huonders Generalvikar Martin Grichting schreibt in einer Stellungnahme zwar, die Kirche müsse ihre Lehre allen Menschen zum Heil der Seelen anbieten und wolle in diesem Sinn auch Volkskirche sein. “Es hängt dann aber nicht von ihr ab, ob eine Mehrheit diese Lehre annimmt. Es liegt an den Gläubigen, ob sie der Kirche folgen und die Kirche einen entsprechend grossen oder kleinen Teil des Volkes umfasst.” Die Kirche dürfe dabei nicht ihre Inhalte zur Disposition stellen, um nach Mehrheiten zu schielen. “Sie muss vielmehr jederzeit dafür einstehen, dass es sich gemäss ihrer Überzeugung um göttliche Wahrheiten handelt, die zwar für alle da sind, die aber keine Verfügungsmasse des Menschen darstellen.”

Die Apologeten einer für alle offenen Kirche widersprechen. Odilo Noti, der Präsident des Katholischen Medienzentrums, wirft Grichting vor, ein sehr doktrinäres Verständnis des Glaubens zu vertreten. Das Christentum sei jedoch in erster Line Praxis. “Grichtings lehrhafter Duktus, mit dem er versucht, die Errungenschaft der Moderne zu diskreditieren, ist weit weg von den Gläubigen.” Theologe Noti sagt, die Kirche dürfe nicht hinter die Errungenschaften einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft zurückfallen. “Sonst läuft sie Gefahr, zu einer Sekte zu werden.”

Für Franz Kreissl, Leiter des Pastoralamtes im Bistum St. Gallen, gibt es ebenfalls in vielen Fragen nicht die eine göttliche Wahrheit. “Wer will denn diese definieren? Geschichte und Gegenwart der Kirche sind voll von theologischen Widersprüchen, da kann man nicht einfach irgendein Dokument hervorziehen und behaupten, dieses sei für alle Ewigkeit wahr.” Aus diesem Grund könne sich auch niemand anmassen, zu beurteilen, wer die wahren Gläubigen seien: “Es gibt viele Formen, das Christsein zu leben.” Die Kirche werde heute auch von den vielen Distanzierten getragen, die nach wie vor bereit seien, Kirchensteuern zu bezahlen, und nur dann an die Kirchenpforte klopften, wenn sie eine schöne Taufe oder Hochzeit wünschten.

Der Papst befiehlt nicht mehr

Man könne das Evangelium nie verkünden, ohne sich auf die Menschen einzulassen, sagt auch Daniel Kosch, der Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), des Zusammenschlusses der Schweizer Landeskirchen. “Das hat nichts mit Beliebigkeit und Zeitgeist-Surfen zu tun – und auch nicht, wie angeblich im Fall Bürglen, mit einem Einknicken vor der Gay-Lobby.” Die Kirche habe sich in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwicklungen stets gewandelt, eine Weiterentwicklung sei auch im 21. Jahrhundert möglich. “Das zeigt sich alleine schon daran, dass viele Kardinäle die bestehende Sexualmoral hinterfragen.”

Die Individualisierung führt dazu, dass sich immer mehr Menschen auch ihren Glauben aus verschiedensten – christlichen oder nichtchristlichen – Elementen selbst zusammenbauen. Diakon Markus Heil, Präsident der progressiven Pfarrei-Initiative, sagt: “Einer betet den Rosenkranz, einer meditiert, einer geht auf den Jakobsweg. Die Kirche soll alle begleiten und wird so eben ein Gemischtwarenladen.” In dieser Patchwork-Religion könne zwar auch die Kirchenhierarchie um den Papst eine wichtige Rolle spielen, indem sie spirituelle Bausteine als Inspiration zur Verfügung stelle. “Befehlen kann sie den Menschen heute jedoch nichts mehr.”

Heil ist dennoch nicht sicher, wer den Richtungsstreit innerhalb der Kirche für sich entscheiden wird. “Die Liberalen sind zwar die grössere Gruppe, aber die Konservativen haben in ihrem heiligen Eifer mehr Ausdauer.” Andere reformorientierte Kirchenvertreter sind optimistischer, dass es auch in Zukunft eine Volkskirche geben wird. “Die Vorstellung von einer Kirche, die durch einen kleinen heiligen Rest der wahren Gläubigen gebildet wird, ist ein theologischer Unsinn, ein pastoraler Irrweg und mit dem Katholischsein nicht vereinbar”, sagt Franz Kreissl. Odilo Noti glaubt, dass es der Kirche auch weiterhin gelingen wird, alle Strömungen unter ihrem Dach zu vereinen.

RKZ-Generalsekretär Kosch konstatiert, dass institutionell ein gewaltiger Umbruch im Gang sei. Er vergleicht die Entwicklung mit jener bei der Post: “Sie kann das engmaschige Filialnetz nicht mehr aufrechterhalten, weil die meisten Menschen ihre Rechnungen mittlerweile per E-Banking bezahlen und Mails statt Briefe verschicken.” Bei der Kirche änderten sich ebenfalls die Formen, durch die ihre Mitglieder mit ihr in Kontakt träten, so Kosch. “Die Kirche der Zukunft wird vielfältiger sein als heute.”

Der Religionssoziologe Stolz ist skeptisch. “Wenn nur noch eine Minderheit der Menschen Kirchenmitglieder sind, wird es schwierig, sich als Volkskirche zu bezeichnen.” Der Exodus des Kirchenvolkes lasse sich weder durch eine konservative Wende noch durch eine weitere Öffnung stoppen. So geben zwar die meisten Abtrünnigen als Grund für ihren Austritt an, die katholische Kirche sei zu konservativ. Doch ein Blick auf die andere grosse Landeskirche zeigt laut Stolz, dass auch ein progressiverer Kurs nichts nützen würde: Bei den Protestanten ist die Zahl der Austritte sogar noch höher.

Gibt am Schluss die Geschichte doch noch Huonder und seinen Vertrauten recht? Zumindest ist das Bistum Chur das einzige, in dem immerhin die Zahl der Taufen zuletzt deutlich angestiegen ist.

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