“Sie können in Damaskus auf mehrere Weisen sterben”
Der maronitische Erzbischof von Damaskus, Samir Nassar, spricht über das Leben in Syrien und die Not der Menschen
Die Tagespost, 14. November 2014
Von Oliver Maksan
Exzellenz, der Krieg in Syrien dauert schon über drei Jahre. Wie leben die Menschen in einer solchen Situation?
Die Probleme nehmen zu. Die Wirtschaft ist tot. Die Menschen haben keine Arbeit. Die Inflation steigt. Unsere Währung verliert massiv an Wert gegenüber dem Dollar. Jeder wird langsam arm. Die Menschen haben ihre Ersparnisse aufgebraucht. Alle brauchen Hilfe. Wir als Kirche versuchen, so viele Familien als möglich zu unterstützen. Derzeit sind das etwa 300–400 christliche Familien.
Das Problem ist, die Hilfe zukommen zu lassen. Das ist nicht ungefährlich. Man könnte überfallen oder entführt werden. Aber wir müssen dieses Risiko auf uns nehmen. Denn ansonsten gehen unsere Leute weg. Wir haben jetzt schon drei Pfarreien schliessen müssen, weil die Gläubigen gegangen sind. Wenn wir also dem kleinen verbliebenen Rest nicht helfen, wird es in Damaskus keine Kirche mehr geben.
Ist der syrische Staat noch in der Lage, irgendwelche Hilfe zu gewähren?
Nein. Die Menschen sind auf sich selbst gestellt. Aber wie gesagt verarmen wegen der hohen Inflation selbst die, die arbeiten. Aber es gibt ja kaum noch Arbeit. Besonders hart trifft es natürlich die alten Menschen. Sie wurden bislang von ihren Familien unterstützt. Aber die haben ja auch nichts mehr. Also versuchen wir einzuspringen. Wir haben ein Programm, das alten Menschen hilft, ihre Medikamente zu bekommen.
Wie kann man sich das tägliche Leben in einem Kriegsgebiet vorstellen?
Sehen Sie, wir sind jetzt im vierten Jahr des Krieges. Zu Anfang hatten alle Angst vor den Kämpfen, den Bomben, den Raketen. Jetzt hat man sich daran gewöhnt. Das Leben muss weitergehen. Man versucht aber natürlich, sehr vorsichtig zu sein. Es ist besser im Haus zu sein als auf der Strasse. Sie können in Damaskus auf mehrere Weisen sterben. Etwa durch Scharfschützen oder Autobomben. Und natürlich Granaten. Man kann aber natürlich auch am Medikamentenmangel sterben, wenn man verletzt ist. Die Krankenhäuser haben nicht mehr genügend Medikamente. Eine Granate kann beim Einschlag drei oder vier Leute sofort töten und vielleicht dreissig oder vierzig verletzen. In der Folge werden zehn weitere sterben, weil sie nicht hinreichend versorgt werden können. Und natürlich kann man auch an Mangelernährung sterben. Wenn Sie etwa Diabetiker sind und eine bestimmte Diät brauchen, die aber nicht bekommen, werden Sie auch früher sterben. Aber auch ansonsten sind die Lebensumstände schlecht. Wir haben zwei Millionen Kinder, die überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Viele Schulen sind zerstört. Und die, die es noch gibt, sind völlig überfüllt. In den Klassen haben sie jetzt um die sechzig Schüler. Dementsprechend ist das Niveau.
Wie sieht es mit der Lebensmittelversorgung aus? Kann man Dinge kaufen, wenn man Geld hat, oder gibt es einfach nichts?
Man kann schon Dinge kaufen, vor allem Konserven. Was aber fehlt, sind frische Lebensmittel wie Gemüse, Käse und Fleisch. Das Problem ist auch, dass man frische Lebensmittel kühl lagern muss wegen der Hitze. Aber leider haben wir Probleme mit der Stromversorgung. Wir essen deshalb vor allem Konserven und haltbare Dinge wie Reis oder Linsen.
Haben Sie den Eindruck, dass der Krieg und die Not den Glauben Ihrer Gläubigen vertieft haben?
Ja. Es gibt eine Rückkehr zum Glauben. Die Menschen beten viel mehr. Die Kirchen sind lange geöffnet. Dort finden sich viele Gläubige ein, die oft Stunden in Stille beten. Sie haben ja auch nichts mehr als den Glauben. Man ist in einer Sackgasse und wartet auf den Tod. Am Ende jeder Messe sagt man sich Lebewohl, weil man nicht weiss, ob man sich anderntags wiedersehen wird. Es ist eine resignative Stimmung. Man ergibt sich in sein Schicksal. Es ist also eine sehr schwierige Situation. Wir als Kirche machen im Moment weniger pastorale als vor allem soziale Arbeit und versuchen, die Not der Menschen zu lindern. Das ist ja auch alles, was man gegenwärtig hat. Es gibt ja keine Hilfe sonst. Die Familie ist im Grunde die einzige intakte Institution. Die Familie ist es, die hilft, teilt und unterstützt. Die familiäre Identität ist sehr stark ausgeprägt. Ohne Familie wäre es das totale Desaster.
Haben Sie Zahlen, wie viele Ihrer Gläubigen Syrien verlassen haben?
Nein. Wir haben keine Statistiken. Aber wir merken, wie die Zahl der Sakramentenspendungen von Jahr zu Jahr zurückgeht, und zwar massiv. 2012 waren es noch mehr Taufen und Hochzeiten als 2013. Die Zahl der Beerdigungen hingegen nimmt zu. Wir müssen jetzt unseren Friedhof vergrössern. Früher hatten wir Projekte für einen Kindergarten oder eine Schule, jetzt planen wir die Vergrösserung des christlichen Friedhofs.
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