Überleben auf Ukrainisch

‘Widersprüchliche Signale aus der Ukraine’

Die Tagespost, 02. Oktober 2014, Von Stephan Baier

Die Signale, die uns Tag für Tag aus der Ukraine erreichen, scheinen widersprüchlich: Offiziell herrscht Waffenruhe, tatsächlich gibt es täglich Gefechte mit Verletzten und Toten. Die Regierung wollte zur Sicherung der Ostgrenze eine Mauer errichten, sagte diesen Plan jedoch wieder ab. Präsident Petro Poroschenko arbeitet an einer Dezentralisierung der Macht, lehnt eine Föderalisierung des Landes aber ab. Ein neues Gesetz sieht einen Sonderstatus für die Krisengebiete sowie Amnestie für Teile der separatistischen Kämpfer vor, doch beschwört der Präsident zugleich die territoriale Unversehrtheit des Landes, die diese Kämpfer bedrohen.

Ein Blick in die Geschichte erhellt, was für Kiew auf dem Spiel steht: Die Ukraine ist ein junger Staat mit einer grossen, auf die mittelalterliche Kiewer Rus zurückreichenden Geschichte. Seit dem 14. Jahrhundert war dieses Gebiet umkämpft und zerrissen. Die Ukrainer kannten nur Fremdherrschaft: litauische, polnische, später österreichische im Westen; russische im Osten. Nach 1918, als die Völker Mittel- und Osteuropas ihre Nationalstaatsbildung nachholten, war der Ukraine nur eine kurze Staatlichkeit vergönnt. Den massenmörderischen Okkupationen von Bolschewiken und Nazis folgten Jahrzehnte der Russifizierung unter Moskaus roter Tyrannei. Mit der Unabhängigkeit 1991 hätte die Ukraine ihre religiöse, kulturelle und nationale Identitätsfindung beginnen können, doch Korruption, organisierte Kriminalität und das beharrliche Streben Russlands, einen Fuss in der Türe zu halten, waren zu dominant. So wurde erst der Sturz Janukowitschs zur “Stunde Null” einer neuen politischen Kultur.

Poroschenko weiss, dass er in die Geschichte seines Volkes eingehen wird: entweder als der Präsident, der die Einheit und die Unabhängigkeit des Landes unter schwersten inneren und äusseren Bedrohungen verspielte – oder als das Staatsoberhaupt, das beides mit Blut, Schweiss und Tränen letztlich rettete. Gegen von Moskau geschürte, finanzierte und militärisch unterstützte Zentrifugalkräfte im Osten muss Poroschenko die Einheit des Staates wahren, den Staatszerfall stoppen, die Souveränität seines Landes verteidigen. Eine einfache Lösung dafür gibt es nicht, weil Russland mit sehr viel stärkeren militärischen, politischen und propagandistischen Mitteln in die entgegengesetzte Richtung arbeitet. Alles, was der Präsident und die Regierung der Ukraine im eigenen Land tun, findet unter dem Damoklesschwert russischer Drohungen statt: die verzweifelten Versuche, die Sicherung der Aussengrenzen wieder herzustellen, das Gewaltmonopol des Staates wieder aufzurichten, die Kontrolle der Regierung auf das gesamte Staatsgebiet auszudehnen, den drohenden wirtschaftlichen und finanziellen Kollapps der Ukraine zu verhindern.

Nur eines hat sich im Vergleich zu vergangenen Jahrhunderten für Kiew verbessert: Der Westen ist heute keine Bedrohung der ukrainischen Identität mehr, sondern ein Partner. Selbst wenn die Ukraine die aktuelle Krise überleben sollte, wird das Land angesichts der dauerhaften russischen Begehrlichkeiten nur im Bündnis mit dem vereinten Europa seine Souveränität und seine Freiheit in Frieden wahren können. Aus Angst vor Moskau will Poroschenko sein Land in die NATO und in die EU führen. Wie begründet diese Angst ist, beweist Wladimir Putin jeden Tag.

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