Bei den Hörnern gepackt
Kardinal Lehmann, in der Verkündigung der letzten Dinge seien “wir alle sehr diesseitig geworden und geprägt”
Die Tagespost, 26. September 2014, Von Stefan Rehder
Es ist moralisch weder geboten, noch politisch klug, jedes Mal, wenn jemand die Liberalisierung aktiver Sterbe- oder Suizidhilfe fordert, an das Euthanasie-Programm “T4” der Hakenkreuzträger zu erinnern. Doch wundert es schon, dass in einem Land, das derartige Gräuel nicht nur erlebt und in Teilen geduldet, sondern für die Nachwelt auch längst detailliert dokumentiert hat, der Ruf nach einer rechtlichen Absicherung des assistierten Suizids siebzig Jahre später derart ohrenbetäubend erschallt.
Man darf daher der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) dankbar dafür sein, dass sie – noch bevor die Debatte im Bundestag ihren Höhepunkt erreicht – bei ihrer Vollversammlung in Fulda die tiefen Ursachen dieses Phänomens mutig und ehrlich zur Sprache gebracht und dabei auch eigene Versäumnisse eingestanden hat. Denn kaum jemand dürfte besser wissen, dass er mit der Schelte einer “Verabsolutierung der Autonomie” und der “radikalisierten Forderung nach Selbstbestimmung” bei den meisten Journalisten in Deutschland keine Sympathiepunkte erringen kann, als der im Umgang mit den Medien versierte Vorsitzende der Glaubenskommission der DBK, Kardinal Lehmann. Offenbar sind Lehmann und seine Mitbrüder zu dem Schluss gekommen, dass es nicht mehr ausreicht, dass die katholische Kirche – wie keine andere Organisation in der Gesellschaft – mit alternativen Palliativ- und Hospiz-Angeboten aufwartet und ihre sowohl haupt- wie ehrenamtlichen Mitglieder Sterbende liebe- und aufopferungsvoll auf der letzten Wegstrecke ihres irdischen Lebens begleiten.
In der Tat: Wer nicht zusehen will, wie neben Palliativstationen und Hospizen, Suizidhäuser und Euthanasie-Praxen aus dem Boden schiessen, der muss die Missstände bei den Hörnern packen. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass der Lehre der Kirche – obgleich sie immer eindeutig war – durch die Säkularisierung der Gesellschaft, aber auch durch die Selbstsäkularisierung der Kirche weithin der Boden entzogen wurde.
Wenn Lehmann jetzt selbstkritisch einräumt, in der Verkündigung der letzten Dinge seien “wir alle sehr diesseitig geworden und geprägt”, dann gibt er Bischöfen, Priestern, Pastoral- und Gemeindereferenten und Religionslehrern tatsächlich einen Schlüssel für die Seelsorge an die Hand.
Dabei kann es nicht darum gehen, Menschen aufs Jenseits zu vertrösten, sondern darum, Ursprung und Sinn der eigenen Existenz wieder stärker in den Blick zu nehmen und sich als Kind Gottes zu begreifen, das vom liebenden Vater in die Welt gesandt wurde und einst von ihm heimgerufen werden wird.
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