“Der Wahnsinn muss aufhören”

Der andauernde Konflikt zwischen der Hamas und Israel belastet das Leben der Menschen auf beiden Seiten schwer

Die Tagespost,  11. Juli 2014

Von Oliver Maksan

Sderot, keine zwei Kilometer Luftlinie von der Ostgrenze Gazas entfernt: Fast malerisch bahnen sich die blitzschnell aufgestiegenen Abwehrraketen ihren Weg durch den vormittäglichen Nahosthimmel. Feine Kondensstreifen zeichnen sie in die Luft. Zweimal knallt es laut: Dick quellende Rauchwolken zeigen an, dass die Gefahr aus Gaza abgewandt wurde. Das mittlerweile schon legendäre israelische Abwehrsystem “Iron dome/Eiserne Kuppel” hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet.

Alon schaut befriedigt. Doch kurz darauf steigen wieder Raketen aus Gaza auf, diesmal zielen sie aber in eine andere Richtung. “Da sehen sie es mit Ihren eigenen Augen, was hier ständig passiert. Tag und Nacht geht das so”, sagt der Mann, der 1991 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel eingewandert ist. “Ich hatte leider nicht so viel Glück.” Tatsächlich landete vor kurzem eine der meist nur unscharf einstellbaren Raketen aus Gaza inmitten seiner Farbenfabrik. 25 000 Liter Terpentin gingen in Flammen auf und verursachten ein Inferno. Der Schaden wird wohl bei etwa 15 Millionen Schekel liegen, etwa drei Millionen Euro, rechnet er vor. “Zum Glück war es Sabbat. Sonst hätten wir jetzt hier wahrscheinlich dreissig Tote”, sagt Alon zornig und meint seine Arbeiter, die an diesem Tag im Wochenende waren. “Die Regierung wird mich für den Sachschaden entschädigen und wir machen weiter. Aber so kann es nicht auf Dauer sein: Alle paar Jahre kommt es zum grossen Knall zwischen der Hamas und uns. Und zwischendurch ist es ja auch nicht so, dass wirklich Ruhe wäre. Das muss aufhören. Wir müssen da rein und ein für alle mal für Ordnung sorgen.”

Alon gibt eine verbreitete Stimmung wieder. Die Menschen von Sderot haben es satt. “Wir sind die Welthauptstadt der Bunker. Nirgendwo sonst gibt es eine so hohe Zahl öffentlicher und privater Luftschutzräume wie hier”, sagt Noam. Er leitet das Medien-Center der israelischen Frontstadt mit ihren 24 000 Einwohnern. Die PR des leidgeprüften Ortes ist bestens organisiert. 8 600 Raketen und Mörser wurden in den vergangenen zehn Jahren von Gaza gegen Sderot gerichtet, rechnet er vor. In der örtlichen Polizeistation kann man die rostigen Projektile im Innenhof besichtigen. “Die Regierung hat in den letzten Jahren fünfhundert Millionen Schekel (Anm.d.R.: etwa 100 Millionen Euro) hier investiert, um die Menschen zu schützen. Wir sind zu nahe dran an Gaza, als dass uns Iron Dome immer schützen könnte.” Jeder Neubau in Israel muss seit den neunziger Jahren, als Saddam Hussein Scud-Raketen nach Tel Aviv sandte, einen Bunker haben. Ältere Bauten wurden in Sderot in den letzten Jahren nachgerüstet, sodass jede Wohnung jetzt ihren Schutzraum hat. Auch stehen überall Luftschutzbunker in Laufweite. Kaum 15 Sekunden, manchmal nur sieben, hat man, nachdem die Alarmsirenen zu heulen begonnen haben oder die Alarmapp auf dem Handy gepiept hat. Selbst Bushaltestellen sind aus zwanzig Zentimeter dickem Beton. “Einen Volltreffer halten sie aber nicht aus“, sagt Noam. “Wir trauen uns kaum noch, einen Kopfhörer aufzusetzen, weil wir fürchten, die Sirenen nicht zu hören. Unter der Dusche gibt man besonders acht. Die Menschen fahren ohne Gurt, um möglichst schnell ihr Auto verlassen zu können. Mir haben Mütter mit zwei und mehreren Kleinkindern erzählt, dass sie sich jetzt bei Fahrten immer eine Strategie überlegen, wie sie ihre Kleinen möglichst schnell aus dem Wagen bekommen. Der ganze Alltag ist durcheinander. Die Leute gehen kaum noch aus dem Haus. Bars und Restaurants sind geschlossen. Wir sind alle im Dauerstress. Besonders für die Kinder ist es schlimm. Nicht wenige sind hochtraumatisiert.”

Viele von ihnen spielen im wohl bestgesicherten Spielplatz der Welt. “Die Kinder können in dieser Situation ja nicht das Haus verlassen und auf der Strasse spielen. Um sie abzulenken, wurde mit Spenden aus aller Welt ein Freizeitzentrum mit Kletterwand und Spielecken gebaut”, sagt Yededia, der das Zentrum leitet. “Fünf Bunker gibt es in dem Gebäude. Ausserdem haben wir hunderte Tonnen Stahl verbaut, um das Haus sicher für unsere Kleinen zu machen”, berichtet er. “Wir haben hier ausserdem ein kinderpsychologisches Zentrum. Etwa 15 000 Kindern wurden hier im Laufe der letzten Jahre betreut.”

Ein paar Kilometer weiter nur, in Gaza mit seinen etwa 1,8 Millionen Einwohnern, leiden Kinder ebenfalls – und sterben. 22 tote Kinder allein wurden dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge bis Freitagmittag gezählt. “Es ist eine furchtbare Situation, tragisch in jeder Hinsicht”, sagt Raed Abusahlia, der Direktor der Caritas des Heiligen Landes. Von Jerusalem aus steht er mehrmals täglich im Kontakt mit seinen Mitarbeitern vor Ort. “Die Menschen sind den israelischen Luftschlägen schutzlos ausgeliefert. Luftschutzräume stehen ihnen nicht zur Verfügung. Die Zahl unbeteiligter ziviler Opfer steigt täglich. Viele Frauen, Alte und Kinder sind darunter. Trinkwasser ist kaum noch verfügbar und Elektrizität ebenso wenig. Der Wahnsinn muss schnellstmöglich aufhören. Wir fordern beide Seiten auf, die Kämpfe einzustellen”, so der Priester des Lateinischen Patriarchats. “Über hundert Häuser wurden in den letzten Tagen in Gaza ganz zerstört und über 500 schwer beschädigt”, erklärt er weiter. “Die Zahl der Toten hat die hundert längst überschritten. Über 600 sind verletzt worden und brauchen Betreuung im Krankenhaus.” Die Caritas ist in Gaza mit mehreren Ambulanzen vertreten. “Leider kann unser mobiles Krankenteam sich nicht bewegen. Nur das Rote Kreuz darf das momentan. Aber unsere Ärzte und Schwestern sind in den Krankenhäusern des Gaza-Streifens tätig, um dort zu helfen.”

Gottseidank, sagt er, sei von den etwa 1 300 Christen Gazas bislang, Freitagmorgen, noch niemand ums Leben gekommen. “Wir beten, dass das so bleibt. Aber sie haben natürlich Angst wie alle Menschen dort. Ich habe gerade eben mit einem Mitarbeiter gesprochen, als eine Bombe unweit niederging. Stellen Sie sich vor, wie es ist, in einer solchen Situation zu leben.” Das Wochenende über ruft der Priester alle Menschen guten Willens auf, für den Frieden in Gaza zu beten. “Wir haben Angst, dass es zu einer grossen Bodenoffensive kommt. Dann wird die Zerstörung noch grösser sein und noch mehr Menschen werden sterben. Und das Problem lässt sich nicht mit Gewalt lösen.”

Das sieht General a.D. Uzi Dayan anders. Der frühere Vizechef der israelischen Armee, ein Neffe des legendären Generals Moshe Dayan, sitzt in einem Bunker in Sderot. Meter dicker Beton und Stahl trennen von der gefährdeten Oberfläche. Angenehm klimatisiert ist der Raum, als der hochdekorierte frühere Soldat am Donnerstag ein Briefing zur Lage abhält. “Hamas muss zerschlagen werden. Daran führt kein Weg vorbei. Wie viele Terrorattacken gab es in den USA seit dem 11. September 2001? Vielleicht eine Handvoll. In Israel gab es im selben Zeitraum 50 000 Anschläge und Versuche. 50 000, Steinwürfe auf unsere Soldaten nicht mitgezählt. Und da sollen wir nichts unternehmen? Wäre ich Premierminister, ich würde eine Bodenoffensive befehlen. Natürlich wird es da zu Opfern auf beiden Seiten kommen. Aber die Hamas ist für die zivilen Opfer verantwortlich, weil sie bewusst Zivilisten als Schutzschilde missbraucht und ihre Abschussrampen in Wohngebieten positioniert“, sagt er. “Wir müssen rein und wenigstens vorübergehend Teile Gazas wiederbesetzen, um der Hamas ihre Waffen zu nehmen und ihre Infrastruktur zu zerstören. Egal wer der Hamas danach in Gaza folgt: Sie müssen kapieren, dass man mit Israel nicht spielt.”

Eine Antwort auf “Der Wahnsinn muss aufhören”

  • maralkos:

    Der Gaza-Streifen ist das grösste Openair-Gefängnis der Welt. Durch die Errichtung Israels nach dem WWII, und stetiger Vergrösserung auf Kosten der Palästinenser-Gebiete, war der Same einer endlosen Auseinandersetzung gelegt. Welches Volk lässt es schon zu, dass ein anderes Volk ihm sein Land klaut?
    Die Zionisten rechtfertigen die Landnahme in Palästina durch die Hl.Schrift.
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    Die Vertreibung und Ermordung von Palästinensern rechtfertigen sie, indem sie sagen, dass die Hl. 10 Gebote nur “gegen innen” gelten. Sie haben überall geschickte Schwätzer postiert, um im Blätterwald gegenteilige Ansichten zu scannen und zu pulverisieren, um den Lärm in den Medien für sich wirken zu lassen.
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    Die Zionisten stellen sich als Opfer dar. Dabei spricht das Verhältnis von Toten und Verletzten bei Palästinensern zu Israelis für sich selbst.
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    Bei GOTT hat jeder Menschen das gleiche Recht zum Leben, siehe: http://myrtha-maria.blogspot.ch/2014/07/botschaft-26-juni-2014.html

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