Nun eskaliert auch die humanitäre Situation

UN-Flüchtlingshilfe geht das Geld aus

Der Barmherzige SamariterHenry DunantRotes Kreuz: Konflikt gefährdet die Trinkwasserversorgung in Gaza

Nun eskaliert auch die humanitäre Situation – Zahl getöteter israelischer Soldaten steigt sprunghaft an – Über 500 Tote auf palästinensischer Seite.

Von Oliver Maksan

Die Tagespost, 21. Juli 2014

Wie befürchtet hat sich die Zahl der Toten und Verletzten mit der israelischen Bodenoffensive seit Donnerstag sprunghaft erhöht. Besonders am Wochenende kam es bei Kämpfen in Schidschaja, einem Vorort von Gaza-Stadt im Norden des Gebiets, zu heftigen Verlusten auch der israelischen Armee. 13 Soldaten wurden dabei in der Nacht von Samstag auf Sonntag getötet und zahlreiche verletzt. Insgesamt starben damit auf israelischer Seite zwei Zivilisten und 18 Soldaten. Auf palästinensischer Seite starben seit Beginn der israelischen Bodenoffensive über 130 Personen. Am Sonntag allein sollen es über hundert gewesen sein. Der Tag war damit der blutigste seit Beginn der israelischen Offensive vor zwei Wochen. Die Zahl der palästinensischen Toten erhöht sich am Montagmorgen auf über 500. Die Zahl der Verletzten geben palästinensische Behörden mit 3 130 an.

Derzeit konzentriert sich die israelische Armee vor allem auf die Zerstörung der zahlreichen Tunnels, die unter dem Grenzzaun hinweg in israelisches Gebiet führen. Am frühen Montagmorgen versuchten nach Angaben der israelischen Armee erneut zehn Hamaskämpfer in israelisches Gebiet vorzudringen. Mehrere der Grenze nahegelegene Ortschaften wurden daraufhin aus Furcht vor Terrorattacken abgeriegelt. Die Eindringlinge wurden nach Armeeangaben getötet.

Unterdessen hat sich auch die humanitäre Situation in Gaza dramatisch verschärft. Bassam, ein Katholik aus Gaza-Stadt, sagte dieser Zeitung in einem Telefonat am Montagmittag: “Aus dem Wasserhahn kommt nur noch Meerwasser. Wir müssen Wasser unter Gefahr von Tanklastwagen kaufen. Strom haben wir vielleicht vier Stunden am Tag. In Sicherheit bringen können wir uns nirgends. Die Bomben schlagen mit riesiger Wucht rings um uns ein. Es ist furchtbar. Wenn die Israelis so weitermachen, kann es irgendwann auch uns treffen”, sagt der vierfache Familienvater, der seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will. Internationale Hilfswerke bestätigen die angespannte Lage. “Uns geht das Geld aus, um unmittelbare Nothilfe zu leisten”, sagt Christopher Gunness, Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA in Gaza, dieser Zeitung am Montag. “Wir haben Vorkehrungen für etwa 35 000 Personen getroffen. Jetzt aber beträgt die Zahl der Flüchtlinge in Gaza schon 85 000. Uns fehlen aktuell etwa 60 Millionen Dollar, um die wichtigsten Bedürfnisse der Menschen für den Zeitraum etwa eines Monats und die unmittelbare Zeit danach zu stillen. Wir haben deshalb einen Blitzappell an die Regierungen gerichtet. Bislang haben wir aber noch keine zufriedenstellende Antwort erhalten.” Gunness sagte weiter, dass die Zahl von in UN-Einrichtungen untergekommenen Binnenflüchtlingen bereits das Niveau der letzten israelischen Bodenoffensive 2008/9 erreicht habe. “Wenn es so weitergeht, dann können wir den Menschen, die in unseren Schulen Zuflucht gefunden haben, bald nicht mehr adäquat helfen. Es wird dann weder genügend Matratzen noch Lebensmittel geben.” Das wichtigste aber, Sicherheit, könne UNRWA den Menschen ohnehin nicht bieten, sagte der Sprecher weiter. “Sie können nirgends hin, um sich wirklich in Sicherheit zu bringen. Wir hoffen, dass die Konfliktparteien wenigstens unsere unter internationalem Schutz stehenden Einrichtungen respektieren. Das wichtigste ist, dass es bald zu einem Waffenstillstand kommt.” UNRWA ist das von den Vereinten Nationen 1949 installierte Hilfswerk, das sich um palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten kümmert. Etwa 1,2 Millionen der ungefähr 1,8 Millionen Bewohner des Gaza-Streifens gelten im Sinne der UNRWA-Statuten als berechtigte Hilfsempfänger. In der Region werden etwa fünf Millionen Flüchtlinge und ihre Nachkommen bei Ausbildung und Lebensunterhalt unterstützt.

Das Internationale Rote Kreuz, das ebenfalls in Gaza tätig ist, beklagt derweil die dramatische Verschlechterung der Wasserversorgung in Gaza infolge des Bombardements, das Teile der Infrastruktur zerstört habe. Nadia Dibsy, Sprecherin des Internationalen Roten Kreuzes in Jerusalem, schätzte die Zahl der Menschen ohne Wasserversorgung am Montag gegenüber dieser Zeitung auf mehrere Hunderttausend. “Die Tendenz ist infolge zu erwartender weiterer Schäden an der Infrastruktur natürlich steigend”, so Frau Dibsy. Es sei für die Wasseringenieure des Roten Kreuzes aufgrund der Kampfhandlungen nicht leicht, die Stellen beschädigter Infrastruktur aufzusuchen und zu reparieren. Nach israelischen Armeeangaben gibt es derzeit neben 250 legalen Wasserquellen etwa 6 000 illegale. 2016 werde der Grossteil des so gewonnenen Wassers indes ungeniessbar sein, schätzen Experten. Frau Dipsy führte weiter aus, dass die Stromversorgung in Teilen des Gebiets völlig zusammengebrochen sei, was sich auch auf die Arbeit in Krankenhäusern auswirke. Schon vor Beginn der jüngsten Runde der Gewalt litt Gaza unter massivem Strommangel. Den Grossteil an Strom erhält das Gebiet mit etwa 65 Prozent aus Israel. Der Rest wird aus Ägypten importiert beziehungsweise im einzigen Kraftwerk Gazas produziert. Dieses wird indes mit Treibstoff betrieben. Infolge der Feindseligkeiten stellte Israel die Versorgung des Gebiets über den für Warenverkehr bestimmten Grenzübergang Keren Shalom ein, weshalb auch kein Benzin mehr geliefert wird. Den Grossteil des Tages ist deshalb keine Stromversorgung mehr möglich. 18 Stunden und mehr sind die Menschen deshalb ohne Elektrizität.

Die Sprecherin des Roten Kreuzes betonte weiter, dass eines der grössten Probleme derzeit der sichere Zugang von medizinischen Rettungsdiensten in die betroffenen Gebiete sei. Eine vom Roten Kreuz gewünschte humanitäre Waffenruhe für das heftig umkämpfte Gebiet von Schidschaja wurde am Sonntagvormittag nicht eingehalten. Es gibt widersprüchlicher Aussagen darüber, wer dafür verantwortlich ist. “Wir als neutrale Organisation machen keine Schuldzuweisungen. Wir koordinieren den sicheren Zugang mit beiden Seiten und erwarten von allen Parteien, internationales Recht zu respektieren. Leider wurden unsere Rettungswagen auf dem Weg nach Schidschaja beschossen und mussten wieder umkehren. Gemäss internationalem Recht muss aber der Zugang von Rettungsdiensten ungehindert möglich sein.” In anderen Gebieten sei die Arbeit der Rotkreuz-Helfer indes weniger problematisch, so die Sprecherin.

Schon vor Ausbruch des gegenwärtigen Konflikts war die wirtschaftliche Lage in Gaza schlecht. Schätzungsweise 80 Prozent der Menschen sind auf die Unterstützung von Hilfswerken angewiesen. Infolge der seit 2007 bestehenden Blockade des Gebiets durch Israel gelten mehr als vierzig Prozent der Bewohner als arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit wird auf etwa 50 Prozent geschätzt. Derzeit beträgt die Zahl von Exporten aus Gaza nur etwa drei Prozent des Niveaus vor der Abriegelung des Gebiets. Nach Israel und in das Westjordanland darf nicht exportiert werden. Die Zerstörung der Schmuggeltunnels im Süden Gazas durch ägyptische Militär seit Sommer 2013 sowie die Schliessung des regulären Grenzübergangs Rafah hat die Lage zusätzlich massiv verschärft. Neben der Hamas, die die ein- und ausgeführten Waren besteuerte und so einen Grossteil ihrer Einnahmen bezog, verloren viele an der Schmuggelwirtschaft Beteiligte ihr Einkommen. Zudem verschlechterte sich die Versorgungslage der Bevölkerung insgesamt.

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