Über alle Fronten hinweg
“Mit Folgen für die Versöhnung”
Geschichten einer Seele: Die Heilige aus Lisieux erzählt aus ihrem Leben
In der Serie zum Ersten Weltkrieg geht es heute um eine Ordensschwester, die vom Himmel aus den Soldaten beistand und für Frieden eintrat: die heilige Theresia von Lisieux. Auch in Deutschland wurde sie verehrt. Mit Folgen für die Versöhnung.
Die Tagespost, 13. Juni 2014, Von Klaus-Peter Vosen
Eine der lange Zeit hoffnungslosesten Wunden des christlichen Europa war der politische und militärische Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland. Man darf den großen christlichen Politikern Konrad Adenauer und Charles de Gaulle höchsten Dank dafür wissen, dass sie im deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom 22. Januar 1963 einen eindrucksvollen Schlussstrich unter die alte “Erbfeindschaft” gezogen haben.
Noch keine 50 Jahre zuvor war auf den Feldern der Somme blühende Jugend aus beiden Ländern hunderttausendfach verblutet, in einem sinnlosen Stellungskrieg um schliesslich nur wenige Kilometer völlig verwüsteten Gebietes.
In der Epoche des Gegensatzes zwischen den beiden Nationen wurde vielfach nur das Trennende betont. Eine wirkliche Verbindung zwischen den verfeindeten Ländern brachte aber im Ersten Weltkrieg die bei den Katholiken hüben wie drüben stetig wachsende Verehrung der Karmeliternonne Theresia Martin aus Lisieux, für die 1910 der Bischöfliche Informativprozess im Vorfeld der Seligsprechung eingeleitet worden war. Dieser Befund ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn Theresia entstammte einer durchaus patriotischen französischen Familie. Beide Grossväter hatten, der eine gar als Offizier, in der französischen Armee gedient, und die Niederlage Frankreichs im Krieg mit Deutschland 1870/71 hatten die Martins schmerzlich empfunden. Nicht lange vor der Geburt der jüngsten Tochter Theresia waren beim Zurückweichen der französischen Truppen die Deutschen auch nach Alençon gekommen, wo die Familie damals lebte, und einige deutsche Soldaten waren im Wohnhaus der Martins einquartiert worden.
Doch entspannten sich im täglichen Miteinander bald die Beziehungen. Louis Martin, der Deutsch als einzige Fremdsprache beherrschte, bewahrte einen “feindlichen” Soldaten, der einen Diebstahl begangen hatte, vor der Erschiessung, und seine Frau Zélie, die treu sorgende Mutter der Familie, dehnte die verantwortungsvolle Mühe der Hausfrau auf die nun einmal zum Haushalt gehörenden “Preussen” aus, fast als wären es ihre eigenen Söhne und Verwandten. Einen Deutschen, der furchtbar unter Heimweh litt, steckte sie heimlich ein paar Leckereien zu, um ihn aufzumuntern, und half ihm so, die kriegsbedingte Entfernung von der Familie etwas weniger stark zu empfinden. Nur über eines war Zélie nicht hinweggekommen: dass die deutschen Soldaten alle Speisen ohne Brot zu sich nahmen, was für einen Franzosen undenkbar war und ist.
Theresia selbst hatte sich später für Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, begeistert, deren aufblühende Verehrung in der Zeit des Revanchismus natürlich nicht von ungefähr kam: Wie Jeanne für Frankreich in einer Epoche nationaler Demütigung durch die Engländer eingetreten war, erschien sie als die rechte, begeisternde Leitgestalt für die im Kampf gegen die Deutschen unterlegenen Franzosen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Doch bleibt Jeanne für Theresia grundlegend eine Persönlichkeit des Glaubens, weniger der Politik, und antideutsche, gar hasserfüllte Ausfälle gegen die Feinde Frankreichs sucht man in Theresias Schriften vergebens – auch wenn sie einmal auf eine patriotische Darstellung vorwärtsstürmender französischer Soldaten die Worte: “Es lebe der Gott der Franken!” geschrieben hat. Bei ihr als Künderin der barmherzigen Liebe Gottes wäre ein gehässiger Chauvinismus auch schwer vorstellbar gewesen.
Nachdem Theresia am 30. September 1897, nur 24 Jahre alt, an Tuberkulose gestorben war, geschah binnen weniger Jahre etwas in hohem Masse Erstaunliches. Obwohl diese Ordensfrau in einem Schweigekloster in der Provinz gelebt hatte, erlangte ihre Persönlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad. Bei dieser Entwicklung waren zwei Faktoren bestimmend: zum einen die Autobiografie von Schwester Theresia, die “Geschichte einer Seele”, die weite Verbreitung fand und bald in die wichtigsten Sprachen übersetzt wurde, so dann Berichte über viele Gebetserhörungen, die der Fürsprache dieser Karmelitin zugeschrieben wurden.
Wann die ersten Deutschen als Theresienpilger nach Lisieux kamen, ist schwer zu sagen, aber eines steht fest: Spätestens seit dem Jahr 1905, als die “Geschichte einer Seele” erstmals in deutscher Sprache erschien, wurde ihr Name auch den Katholiken in Frankreichs östlichem Nachbarland vertraut. Eine schöne deutsche Ausgabe der “Histoire”, versehen mit der kirchlichen Druckerlaubnis des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln aus dem Jahre 1909 beispielsweise macht deutlich, dass es zu jenem Zeitpunkt im Deutschen Reich bereits kein verlegerisches Risiko mehr bedeutete, das Theresienbuch in guter Ausstattung und – damit verbunden – zu einem offenbar nicht ganz niedrigen Preis auf den Markt zu bringen. Man konnte mit dem Erfolg dieser Publikation vielmehr einigermassen sicher rechnen, weil Theresia immer populärer wurde. Damals stand man fünf Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In gewisser Weise war die Theresienverehrung, obwohl die Kirche noch nicht gesprochen hatte (das sollte in Selig- und Heiligsprechung dieser Karmelitin erst 1923 beziehungsweise 1925 geschehen), bereits auf dem besten Weg, europäisches, besser gesagt: katholisches Allgemeingut zu werden. Man hat, wenn vorhin vom Erfolg ihrer Autobiografie und vom Echo auf die ihr zugeschriebenen Gebetserhörungen die Rede war, wohl noch ein weiteres theresianisches Faktum zu bedenken: Theresia hat mit ihrer Botschaft vom Kleinen Weg und von der erbarmenden Liebe Gottes ganz offensichtlich in besonderem Masse in die Herzen der Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts getroffen. Warum hat Papst Pius X. sie “die grösste Heilige der modernen Zeit” genannt, warum bezeichnete Papst Pius XI. sie als “das geliebte Kind der ganzen Welt”? Weil sie einer auf militärische Expansion und auf wirtschaftlichen Erfolg, auf stolzes Säbelrasseln und auf kaum gehemmte Ausbeutung der Kolonien bedachten Öffentlichkeit in den “zivilisierten” Staaten, die niemals zur Ruhe kam und doch ihre eigene Kälte und Geistlosigkeit erahnte und, ohne es zuzugeben, darunter litt, ganz andere Werte vor Augen stellte: Güte, Lauterkeit des Herzens, im schlichten, unkomplizierten, ehrlichen Glauben tief gegründete, anrührende Menschlichkeit, Vertrauen auf die Nähe und Zugewandtheit des Himmels. Theresia verkörperte von vielen insgeheim Ersehntes. Um dessentwillen wurde sie geliebt – über alle Grenzen hinweg.
Und so vermochte auch kein Konflikt der Nationen das Bild der normannischen Karmeliterin aus den Herzen der Menschen zu reissen, auch wenn Theresias Nationalität nicht die eigene war. Im Gegenteil tritt eine Entwicklung ein, die Weihbischof Guy Gaucher, der grosse Theresienkenner, wie folgt charakterisiert: “Der Weltkrieg verzögert den apostolischen Prozess [zur Seligsprechung Theresias], der in Bayeux am 17. August 1915 auf Anordnung des neuen Papstes Benedikt XV. eröffnet wird. Aber wenn die Verbindungen mit Rom zur Zeit der Feindseligkeiten auch schwierig geworden sind, so hört der Ruf von Schwester Theresia doch nicht auf, in den Schützengräben immer mehr zu wachsen, die auf deutscher Seite eingeschlossen.”
Mutter Agnes von Jesus, Theresias leibliche Schwester Pauline, bezeugt im genannten Apostolischen Prozess während des Ersten Weltkrieges, dass seit Beginn der Kampfhandlungen viele “Zeugnisse des Vertrauens von Soldaten” in die Fürsprache Theresias den Karmel von Lisieux erreicht hätten, so Briefe und Kriegsauszeichnungen. Man habe von Offiziersseite “Regimenter unter den Schutz der Dienerin Gottes” gestellt, ihren Namen sogar auf Kanonenrohren “verewigt” und Reliquien Theresias an Kriegsfahnen geheftet. Bei den meisten dieser uns zum Teil sehr fremden Zeichen der Verbundenheit mit der Karmeliterin aus Lisieux hat man sicher französische Soldaten als Urheber anzunehmen, die eine besondere Solidarität ihrer Landsmännin mit ihren kämpfenden französischen Brüdern voraussetzten. Unter den Ereignissen, die in eine Zusammenstellung von theresianischen Gebetserhörungen von 1914 bis 1918 Eingang fanden, sind aber nicht nur solche aus dem französischen Raum festzustellen. Auch deutsche Soldaten wussten sich unter Theresias Fürsprache behütet, die sie zum Teil schon früher kannten, oder, wie Ferdinand Neumann, der Vater der Theresia Neumann von Konnersreuth, während des Krieges in Frankreich “kennenlernten”.
Es ist bekannt, dass dieser Vater seiner mystisch so sehr begnadeten Tochter aus Frankreich ein Gebetsbildchen ihrer karmelitanischen Namenscousine mitbrachte, das eine bedeutsame und lebenslange Verbundenheit der “Resl” mit der Heiligen von Lisieux begründete. Unter den militärischen Auszeichnungen, die Soldaten dem Karmel von Lisieux im Ersten Weltkrieg als Dank für Theresia Martin zugeschriebene Hilfe übersandten, und von denen Schwester Genoveva (Céline Martin) im Seligsprechungsprozess am 1. September 1915 spricht, waren neben französischen Dekorationen auch zwei Eiserne Kreuze deutscher Herkunft! Theresia, Französin durch und durch, liess doch bei ihrem “Rosenregen” der Gnaden, den sie für die Zeit nach ihrem Tod verheissen hatte, auch die Deutschen keinesfalls leer ausgehen. Ihre Liebe umfasste alle. Es gibt Bilder, die den “Rosenregen” über den Schlachtfeldern veranschaulichen; er war wahrlich nicht nur auf eine Seite beschränkt. Und wenn man gelegentlich gesagt hat, dass für die Entwicklung der Seligsprechungscausa Theresias und für die Theresienverehrung überhaupt die Zeugnisse der Soldaten von 1914 bis 1918 Entscheidendes geleistet hätten, so muss festgehalten werden, dass dieses Werk gleichsam einträchtig von denen geleistet wurde, die ansonsten mit der Waffe in der Hand einander gegenüberstanden.
Trotz des Krieges und harter nationaler Gegensätze zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich, ja teilweise sicher verstärkt durch Berichte über im Krieg erfahrene Hilfe von der Seite dieser Karmeliterin, machte die Theresienverehrung in Deutschland gerade in jenen Jahren staunenswerte Fortschritte. Als Beleg hierfür mag unter anderem die heilige Anna Schäffer aus Mindelstetten dienen. Sie teilt in einem Brief vom 28. Dezember 1916 mit, dass ihr in einem Traum im vergangenen August Theresia von Lisieux erschienen sei, die sie – gut sechs Jahre vor deren Seligsprechung – bereits eine “Heilige” nennt. Anna berichtet, dass sie die “Geschichte einer Seele” schon gelesen habe. Für unsere Themenstellung ist darüber hinaus die Tatsache wichtig, dass Anna Schäffer ebenso erzählt, dass seit kurzem eine Zeitschrift “Rosenhain” erscheine, die die Verehrung Theresias verbreite. Am 1. September 1917 schreibt die Mystikerin von Mindelstetten selbst ein Gedicht zu Ehren Theresias. Diese erscheint ihr in einem weiteren Traum, Anna eine Dornenkrone darreichend. Wenn bereits am 19. März 1914, also noch vor Beginn des Krieges in Wien, ebenso auf dem Gebiet der “Mittelmächte” gelegen, die staunenswerte Heilung einer Ordensfrau von einer damals medizinisch noch sehr heiklen Blinddarmentzündung stattfand, die man auf Theresias Fürsprache zurückführte, so ist die Kette solcher übernatürlichen Gnadenhilfen auf Vermittlung der französischen Schwester auch in den Kriegsjahren sicher nicht abgerissen. Als der Krieg mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 zu Ende gegangen war – noch heute begeht das mit den anderen alliierten Staaten damals siegreiche Frankreich diesen Tag als einen seiner Nationalfeiertage – hatte das unterlegene Deutschland die harten Bedingungen des Versailler Vertrags auf sich zu nehmen, der nicht zuletzt dem Wunsch Frankreichs entsprang, das Deutsche Reich so sehr zu schwächen, dass ihm von dieser Seite auf lange Zeit keine Gefahr mehr drohen konnte. Durch fehlendes psychologisches Einfühlungsvermögen wurde durch ein Vertragswerk, das Deutschland als Demütigung auffassen musste, gleichsam bereits die Lunte zu einem neuen noch verheerenderen Konflikt gezündet, der 1939 ausbrechen sollte.
Obwohl also seit 1918 das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich eher eine weitere Vergiftung erfuhr – die Verehrung der heiligen Theresia blieb Herzensangelegenheit sowohl der französischen wie der deutschen Katholiken. Die grossen Feiertage ihrer Seligsprechung (29. April 1923) wie ihrer Heiligsprechung (17. Mai 1925) fanden Widerhall in beiden Völkern, ungeachtet fortbestehender nationaler Frontstellungen. Es ist in diesem Sinne sehr bezeichnend, dass ein so betont patriotisch empfindender deutscher Kirchenfürst wie der Kölner Kardinal Karl Joseph Schulte (1871-1941) wie selbstverständlich 1923 zu den Seligsprechungsfeierlichkeiten der “kleinen”, grossen Französin nach Rom reiste. Vermutlich ist es zur endlichen Versöhnung der beiden Länder nach vielen weiteren schwierigen Jahren, 1963 im oben erwähnten Vertrag, nicht ohne Zutun des Himmels gekommen. Menschliche Weisheit und Kraft allein hätten das verwickelte Knäuel der Verletzungen, Vorurteile, des Stolzes und der Missverständnisse niemals entwirren können. Durchaus denkbar, dass die Heilige von Lisieux, die, wie wir sahen, immer schon ein einendes Element jenseits aller Entzweiung gewesen ist, fürbittend an dem wichtigen Werk des Friedens beteiligt war.
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