“Eskalationspotenzial ist da”

Der galoppierende Staatszerfall des Irak hat Folgen über das Zweistromland hinaus

– Droht ein regionaler Flächenbrand? – Das sei nicht auszuschliessen, meint Nahost-Experte Otmar Oehring – Den Irak gibt er indes noch nicht verloren.

Die Tagespost, 20. Juni 2014

Von Oliver Maksan

Herr Oehring, wie lange wird die irakische Krise noch dauern?

Das kommt darauf an, wer sich um diese Krise kümmert, und wie man sich darum kümmert. Wenn die Amerikaner sich einschalten und auch der Iran, dann kann es unter Umständen schnell zu einer Lösung kommen. Allerdings ist die Frage, ob die beiden Länder das gemeinsam tun werden oder ob sie sich mit ihren jeweiligen Partnern getrennt darum bemühen. Amerika wird vor allem auf Saudi-Arabien einwirken, das ja grossen Einfluss auf die Sunniten hat, während der Iran die irakischen Schiiten mit Premierminister Nuri al-Maliki an der Spitze bearbeiten muss.

Wie kann eine Lösung aussehen?

Das Wichtigste ist sicher, dass die Amerikaner Druck auf den Ministerpräsidenten Maliki machen und ihn zu einem Rückzug bewegen. Er müsste Platz machen für jemanden, der für die Sunniten verträglicher wäre. Die Rede ist von dem früheren schiitischen Ministerpräsidenten Ayad Alawi. Ob nun er oder ein anderer: Entscheidend ist, dass eine Person gefunden wird, die sowohl bei Sunniten wie auch bei den Kurden Anerkennung finden kann. Eine Lösung kann nur zusammen mit den sunnitischen Stämmen unter Ausschluss von ISIS gefunden werden.

Sie geben den Irak also noch nicht verloren?

Unter der Bedingung, dass man sich schnell auf eine Lösung einigt, nein. Man muss auch sehen, dass der Staatszerfall in einen kurdischen, arabisch-sunnitischen und schiitischen Teil nicht schmerzlos und sauber vonstatten gehen würde. Denn wenn es auch stimmt, dass die verschiedenen Religionsgruppen und Ethnien ihre regionalen Schwerpunkte haben, so gibt es doch Mischzonen. Vor allem die Hauptstadt Bagdad wäre da zu nennen. Es wäre schwer vorstellbar, dass die Millionen Menschen hier friedlich zusammenleben könnten, käme es zu einer Dreiteilung des Landes. Ein Bürgerkrieg drohte. Deshalb glaube ich, dass man zumindest versuchen wird, eine Lösung im Sinne eines einheitlichen Irak zu finden. Allerdings haben die Volks- und Religionsgruppen natürlich ihre Vorstellungen von der Zukunft, und die sehen nicht zwangsläufig ein einiges Land vor. Zudem haben sie alle Zugang zu Ölquellen, was ihr Überleben wenigstens vorläufig sichern würde. Aber letztlich muss es ihnen klar sein, dass ein friedliches Zusammenleben im Irak zum Besten aller wäre.

US-Präsident Obama will keine Kampftruppen in den Irak verlegen und beschränkt sich auf die Entsendung von Militärberatern. Militärschläge hat er aber zum geeigneten Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. Für wie sinnvoll halten Sie ein militärisches Eingreifen der Amerikaner?

Ohne Militärexperte zu sein kann man sagen, dass die ISIS eine in kleinen Verbänden auftretende Guerillatruppe ist, der man mit Luftschlägen nicht leicht beikommen kann. Zudem haben sie sich in den Städten in zivilen Gebieten eingenistet. Ausserdem sind sie nicht leicht erkennbar und halten sich bewusst zurück. Ein türkischer Journalist hat sich jetzt etwa durch Mossul bewegt, ohne dass er ein einziges Mal von ISIS-Leuten kontrolliert worden wäre. All dies spricht gegen schnelle militärische Aktionen wie sie die irakische Führung fordert, weil sie wahrscheinlich ineffektiv wären.

Die Lösung kann also keine militärische, sondern nur eine politische sein? Die Isolierung von ISIS und die Zerschlagung des sunnitischen Bündnisses mit Stammesführern und ehemaligen baathistischen Offizieren?

Ja. Dieses Zusammengehen über ideologische Unterschiede hinweg hat ISIS ja erst so stark werden lassen. Diese Koalition müsste beendet werden. Den Amerikanern ist eine derartige Lösung und Isolierung der Extremisten zudem einmal bereits gelungen. In der Anbar-Provinz haben sie 2006 die Lage befriedet, indem sie die Empfindlichkeiten der Sunniten im Zentralirak berücksichtigt haben. Das Problem derzeit ist, dass Maliki die Sunniten weitgehend marginalisiert hat. Zahlenmässig sind sie ja auch eine Minderheit. Ihnen muss aber jetzt zur Entschärfung der Lage das glaubwürdige Signal gesandt werden, dass sie wesentlich zum Irak gehören. Geschieht dies nicht, droht eine Dreiteilung des Landes mit einem gut funktionierenden kurdischen Teilstaat im Norden, einem einigermassen funktionierenden schiitischen Teilstaat im Süden und einem chronisch instabilen sunnitischen Staat im Zentrum.

Unter Beobachtern ist derzeit die Sorge gross, dass sich die irakische Krise zu einem regionalen Flächenbrand entwickelt. Für wie gross halten Sie diese Gefahr?

Ausschliessen kann man im Nahen Osten derzeit leider nichts. Die Lage ist insgesamt volatil und instabil. ISIS war ja bis vor wenigen Tagen ein Phänomen vor allem im Norden und Osten Syriens und beschäftigt uns mit ihrem überfallartigen Vordringen plötzlich massiv. Konfliktlinien gibt es zuhauf. Denken Sie an die Möglichkeit, dass kurdische Bemühungen, einen Grossstaat zu gründen, sich erneut artikulieren. Das beunruhigt die Türkei sehr. Auch der Iran schaut mit Sorge auf die kurdische Frage.

Als besonders gefährdet gilt Jordanien. In der Vision von ISIS hat das Königreich einen festen Platz.

Ich halte Jordanien nur für theoretisch gefährdet. Ich sehe einen ISIS-Einmarsch als keine reale Gefahr an. Jordanien ist ein stabiles Land. Die USA, Israel und auch die Golfstaaten haben ein vitales Interesse daran, dass dies auch so bleibt, und leisten entsprechende Unterstützung. Zudem ist Jordanien ein mehrheitlich sunnitisches Land mit einer vernachlässigenswerten schiitischen Minderheit. Die radikalen Elemente, die es im Land mit Salafisten und Muslimbrüdern gibt, sind zudem weitgehend unter Kontrolle. Die irakische Gemengelage, die den Aufstieg von ISIS ermöglicht hat, ist hier also nicht gegeben.

Sie sehen das regionale Eskalationspotenzial also als eher gering an?

Nein, das gibt es. Aber es ist bislang eben nur ein Potenzial. Alles andere sind derzeit nur Spekulationen.

Aber wie liesse sich diese Eskalationsgefahr regional entschärfen?

Das könnte dann gelingen, wenn die Grossmächte und die regionalen Akteure sich endlich an einen Tisch setzen und einigen würden. Aber leider gibt es ja auch noch andere Krisen auf der Welt wie die Ukrainekrise, weshalb Amerikaner und Russen vielleicht die Hände nicht so frei haben, wie das jetzt angesichts der Lage in Nahost nötig wäre. Aber letztlich hängt derzeit im Nahen Osten natürlich alles zusammen. Es kann also nur eine Lösung geben, wenn alle, internationale, regionale und nationale Akteure, zusammenkommen.

Aber dieser Ansatz ist mit den Genfer Syriengesprächen erst vor ein paar Monaten gescheitert.

Ja, es könnte aber sein, dass die Irak-Krise hier ein Umdenken einleitet und sich sogar positiv auf Syrien auswirkt. Aber das muss schnell passieren. Denn die Gefahr eines religiös konnotierten Krieges zwischen Schiiten und Sunniten in der Region ist durchaus gegeben. Der jordanische König Abdullah hat in den letzten Jahren immer wieder davor gewarnt. Ein solcher Konflikt hätte verheerende Dimensionen wie der Dreissigjährige Krieg in Europa. Und das kann niemand wollen.

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