Stabat Mater – Christi Mutter stand mit Schmerzen

Ein Gastkommentar von Michael Gurtner

Quelle
KathTube:
Choir Of King´s College, Cambridge, singt das ´Stabat mater´ von Palestrina (für 8-stimmigen Chor)Die Volksfrömmigkeit der Jahrhunderte hat sich immer wieder die Frage nach Maria unter dem Kreuz gestellt.

Salzburg, kath.net, 17. März 2014

Man erzählt sich unter Theologen seit vielen Jahren eine nette Geschichte, welche vielleicht nicht ganz wahr, aber so doch gut erfunden ist.

Es war einmal ein einfacher, frommer Landpfarrer, der zwar nicht hochstudiert war, aber sich doch durch private Studien und vor allem durch die fromme Betrachtung der Heilsmysterien eine grosse theologische Weisheit angeeignet hatte. Als er ein gewisses Alter erreicht hatte, kam die bischöfliche Anweisung, er müsse als Pfarrer in Pension gehen, was ihm jedoch äusserst missfiel. Deshalb wollte er sich etwas anderes suchen, wo er noch weiter aktiv bleiben könne, und so entschied er, in der Societas Jesu, also der “Gesellschaft Jesu“, den Jesuiten, anzufragen, ob er bei ihnen eintreten könne. Da an sich nichts Objektives dagegen sprach konnten sie ihn schlecht von vorne herein ablehnen, aber andererseits wollten sich auch keinen einfachen Landpfarrer unter sich aufnehmen, und so beschlossen die Oberen, ihm eine Falle zu legen und eine unlösbare theologische Frage zu stellen. Würde er in der Lage sein, sie zu lösen, dann würde man ihn zum Noviziat zulassen. Falls nicht, dann könne man ihn leider nicht aufnehmen.

Die unlösbare Frage, die man dem pensionsbedrohten frommen Landpfarrer mit einem etwas spöttischen Unterton stellte, war folgende: “Was dachte das süsse Jesusknäbelein in jenem Moment, als es in der Krippe lag?“

Logisch, dass diese Frage an sich unlösbar ist und auch keinen theologischen Sinn macht. Der kluge Landpfarrer durchschaute jedoch sofort die List und Tücke der Jesuiten und sagte: “Das Jesusknäbelein kam in die Welt und das erste was er tat war, dass er sich unter den Menschen umsah, zu denen er gekommen war. Und so neigte er seinen Kopf zuerst nach links, und sah einen Ochsen. Dann neigte er seinen Kopf nach rechts, und sah einen Esel. Da wurde das Jesuskind traurig und dachte sich enttäuscht: Tja… das ist also die Gesellschaft Jesu!”

Diese kleine Geschichte erzählt man sich nicht um eine Spitze gegen die Jesuiten zu fahren, sondern um auf eine einprägsame Weise zu verdeutlichen, dass nicht alle Fragen, die den Theologen gestellt werden, wirklich sinnvoll und lösbar sind. Der Mensch ist prinzipiell darauf angelegt, Gedanken Gottes zu erkennen, welche die Theologie systematisch erforscht, aber umgekehrt können wir nicht immer und für jede Situation mit letzter Präzision bis ins Detail sagen, was Gott denkt. Im Generellen zwar sehr wohl, weil es Gott uns in der Offenbarung mitgeteilt hat, aber wir stossen dann doch auch auf unsere gottgesetzten Grenzen.

B. Die rechte Frage ist nicht jene des Gedankens, sondern jene nach der Haltung

Ebenso sinnlos wie die Frage nach dem Gedanken des Jesusknäbeleins in der Krippe ist eine ähnliche Frage, welche man sich in der Theologiegeschichte immer wieder gestellt hat, nämlich die Frage danach, was sich die Gottesmutter Maria unter dem Kreuz gedacht haben mag. Diese Frage ist unlösbar und letztlich auch nicht sinnvoll.

Sie kann allerdings leicht abgewandelt gestellt werden um höchst sinnvoll und auch für uns richtungsweisend zu werden. Nicht “was dachte die Muttergottes unter dem Kreuz?“, sondern: “Mit welcher Haltung stand die Muttergottes unter dem Kreuz?“. Das ist eine ganz andere Sache, sie ist sinnvoll und kann durch die spekulative Theologie, d.h. durch logische Deduktion aus anderen theologischen Tatsachen abgeleitet und beantwortet werden.

Diese Frage nach der inneren Haltung, mit welcher die Gottesmutter unter dem Kreuz stand, stellt man sich besonders in der Fastenzeit, denn hier betrachtet der gläubige Katholik die verschiedenen Aspekte des Sühne- und Opfertodes des Heilandes und die damit verbundenen Begleitereignisse. Dabei lässt er sich an die Hand der Mutter Kirche nehmen, welche ihn entlang ihrer Liturgie zum heilsbringenden Kreuz führt: theologisch, liturgisch, vor allem aber sakramental. Alles läuft letztlich im Kreuz zusammen, von wo das Heil ausströmt, auf welches die sieben heiligen Sakramenten der Kirche hinordnen und die menschliche Seele bereiten. Sie fliessen aus dem Kreuz und führen zu diesem.

Im Kreuz ist also Heil. Unter diesem Kreuz, welches daher viel mehr ist als ein blosses Symbol, sondern eine Heilswirklichkeit, stand Maria, die Mutter des Herrn, als dieser das Sühneopfer darbrachte, wie uns St. Johannes ausdrücklich berichtet (Jo 19,25). Dieser Evangelist, der uns keinen Kindheitsbericht überliefert, spricht nur an zwei Stellen direkt von der Mutter des Herrn, die jedoch so angeordnet sind, dass sie über die historischen Berichte hinaus durch diese ihre Anordnung eine bedeutende theologische Grundaussage erhalten. Die beiden Berichte, in welchen auch Maria Erwähnung findet, sind bei St. Johannes die Hochzeit zu Kana sowie die Agonie des Herrn am Kreuze. Es sind jene beiden Momente, welche das öffentliche Wirken Jesu eröffnen und beschliessen. Maria, so die Aussage, ist von Anfang bis zum Ende in das öffentliche Wirken – das Heilswirken – Jesu mit eingebunden.

Die Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte hat sich dieses historische Faktum, von welchem uns St. Johannes in recht schlichter und nüchterner Weise berichtet, immer wieder zum Gegenstand ihrer Betrachtung genommen und über die tiefere Bedeutung nachgedacht, sowie über die theologischen Ableitungen, welche sich daraus ergeben. Nicht immer waren und sind es geglückte Gedanken. Besonders seit der “marianischen Krise”, welche nach dem letzten Konzil plötzlich einsetzte und erst durch das von einer starken marianischen Frömmigkeit geprägte Pontifikat Johannes Pauls II etwas gebremst werden konnte, die bei manchen Theologen aber bis heute anzudauern scheint, wird Maria aus ihrem heilsökonomischen Kontext herausgelöst und de facto als irgendeine Mutter wie alle anderen auch, also ohne ihre besonderen Gnadenprivilegien, gedacht. Es kam und kommt noch immer zu Fehlschlüssen, welche von der zu erwarteten Reaktion einer durchschnittlichen Mutter auf die Reaktion und die Gedanken der Gottesmutter schlossen. Dies ist allein schon methodologisch unzulässig und darüber hinaus eine pastorale Irreführung, da das Wort des Hirten durch die gewissenhafte theologische Reflexion geläutert und gereinigt sein muss, um die Seele mit gesunder Nahrung zu speisen. Eine Antwort, welche nur die Mutterschaft Mariens, nicht aber ihre Gottesmutterschaft in den Blick nimmt, wird also niemals recht werden können, weil die entscheidenden Momente ihrer Mutterschaft fehlen.

C. Das Stabat mater gibt die rechte Antwort

Die Volksfrömmigkeit der Jahrhunderte hat sich also immer wieder die Frage nach Maria unter dem Kreuz gestellt. Deren Früchte wurden durch die Kirche rezipiert, wo nötig gereinigt und in ihren eigenen liturgischen Schatz aufgenommen. Besonders sei hier auf das Stabat Mater dolorosa verwiesen, welches zunächst als mittelalterliche Dichtung entstand, die in der Form der Sequenz zum Fest der Sieben Schmerzen Mariens schliesslich Eingang in die offizielle Liturgie der Kirche fand. Das Missale Pius V. hat bis auf vier Ausnahmen die Sequenzen, darunter auch das Stabat Mater, gestrichen, im 18. Jahrhundert dann allerdings wiederaufgenommen, und zusätzlich wurde es in das Brevier als Hymnus eingefügt. Darüber hinaus erfreut es sich grosser Beliebtheit in den Volksandachten der Fastenzeit, speziell auch als Gesang während der heiligen Kreuzwegandacht.

St. Johannes informiert uns, wie gesagt, nur überaus knapp über die Präsenz Mariens unter dem Kreuz, ohne dabei eine theologische Vertiefung anzubieten, wie er es sonst so gerne tut. Doch wenn wir diesen wichtigen Hinweis in der Zusammenlese mit weiteren Daten bedenken, welche wir über die Gottesmutter haben, so erschliesst sich uns über diese Synopse die grosse Bedeutung dieses zunächst so kargen Hinweises und wir sehen, dass wir über diese Begebenheit doch viel mehr aussagen können als uns zunächst erscheinen mag.

Die wohl drängendste Frage welche viele bewegt ist, wie es wohl um den Glauben Mariens und ihr Vertrauen in die göttliche Verheissung bestellt war, als sie ihren Sohn am Kreuze nach langer Agonie sterben sah. Und so manch einer wird sich wohl die Frage stellen, ob Maria nicht zu zweifeln begonnen habe, ob ihr Glaube vielleicht gar anfing zu wanken und ihr Vertrauen in Gott zu schwinden. Solche Gedanken mögen vielleicht naheliegend sein, aber nur aus einer Sicht, welche selbst “rein menschlich” ist und die theologische Dimension nicht mitdenkt.

Die katholische Tradition hingegen lehrt uns, dass Maria sogar unter dem Kreuz unvermindert im Glauben verharrte. Der Philologe und Pädagoge Heinrich Bone, der auch während des Kulturkampfes nicht von seinen dezidiert katholischen Positionen wich und deshalb zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, übertrug im Jahre 1847 das Stabat Mater in eine deutsche Reimfassung, welche wir auch heute noch singen. Darin heisst es in der dritten Strophe, leicht vom lateinischen Original abweichend:

Ist ein Mensch auf aller Erden,
der nicht muss erweichet werden,
wenn er Christi Mutter denkt,
wie sie, ganz von Weh zerschlagen,
bleich da steht, ohn‘ alles Klagen,
nur ins Leid des Sohns versenkt?

Maria, die Schmerzensmutter, ohne alles Klagen unter dem Kreuz, sondern nur ganz eingesenkt in das Leiden ihres Sohnes? Zugegeben, dieser Gedanke entspricht nicht dem zu Hader geneigten Empfinden der heutigen modernen Zeit, in welcher der Gehorsam gegenüber Gott ob der menschlichen Hybris kaum Akzeptanz findet, während es als “aufgeklärt“ und “zeitgemäss“ gilt, Gott zu entthronen und den Menschen an dessen Stelle zu setzen. Doch heisst dies deshalb noch lange nicht, dass es nicht doch die realistische Sicht der Dinge wäre. Ordnen wir diese Frage an dieser Stelle jedoch in ein systematisches Gefüge ein, um die Grenzen dessen auszuloten, was Maria unter dem Kreuze sicher nicht gedacht hat und mit welcher Haltung sie am Sühneleiden ihres Sohnes teilgenommen hat.

D. Ansatz für die systematische Reflexion

Wollen wir diese Frage systematisch einordnen, so ist der rechte Ansatz in den neutestamentlichen Berichten rund um die Anfänge zu finden, genauer gesagt in der Verkündigung sowie der Kindheitsgeschichte. Denn wenn wir diese mitdenken so wird uns sehr schnell klar erkennbar, dass das Verharren Mariens unter dem Kreuze keineswegs ein isoliert zu betrachtendes Einzelereignis ohne weitere Bedeutung ist, sondern der zweite “Pol“ eines Bogens. Blicken wir vom Kreuz aus zurück auf die Anfänge, so erhalten wir Antwort auf die Frage nach dem Gewicht dieses Hinweises.

Der Bericht der Verkündigung Mariens sowie der Lobgesang Mariens bei ihrer Base Elisabeth liefern uns zahlreiche wichtige Auskünfte darüber, welche Rolle Maria im Heilsplan Gottes hatte und hat, und welche Gnadenprivilegien damit verbunden sind. Maria war dabei von Anbeginn der Schöpfung an als die Mutter des Herrn vorherbestimmt gewesen, was die Gnadenprivilegien mit einschliesst. Denn Gott ist seinem Wesen nach allwissend und ewig, nichts kann ihn überraschen. Deshalb kann es nicht etwa so sein, dass er ab dem Augenblick des Sündenfalls eine Idee hatte, wie er den entstandenen Schaden wieder richten könne, sondern noch bevor die Welt erschaffen war, wusste er um deren gesamten geschichtlichen Fortgang und plante deshalb die Erlösungstat mit allen begleitenden Umständen (Menschwerdung, Gottesmutterschaft, Gnadenprivilegien etc.) von Anbeginn mit ein, noch bevor überhaupt Schöpfung wurde. Und nicht erst einer nachgängigen Idee folgend.

Die Welt wurde nämlich von Anfang an auf die Kirche hin erschaffen, sie ist das Ziel allen Seins, weil die Teilhabe am göttlichen Leben der letzte Sinn der Schöpfung ist. Das bedeutet, dass der gesamten Schöpfung von vorne herein ein Sinn zugeschrieben ist. Sie hat ein Ziel und ist auf dieses Ziel hin geschaffen. Und sie ist so geschaffen, dass dieses Ziel grundsätzlich auch erreichbar bleibt. Weil die Schöpfung also eine zielgerichtete Schöpfung ist und dem göttlichen Intellekt entspringt, ist ihr auch notwendig eine innere Struktur innewohnend, welche von Gott gedacht und gewollt war, noch bevor er sein Schöpferwort sprach.

Die Welt ist von jeher so erschaffen, dass sie sozusagen “rettbar“ ist wenn der Mensch fällt und dadurch die gesamte Schöpfung Schaden leidet. Hätte Gott erst nach dem Sündenfall, gleichsam von der Situation überrascht, einen Rettungsplan erdacht, dann wäre er nicht allwissend. Vielmehr hat er seit jeher um die gesamten Ereignisse des künftigen Weltenlaufs gewusst, und die Welt dementsprechend geordnet, dass sie auf die Kirche hin ausgerichtet bleibt. Nicht als Reaktion, sondern als Präaktion. Darunter fällt auch seine Menschwerdung, und mit dieser verbunden seine menschliche Mutter, die auf ihre besondere Rolle als Gottesmutter hin mit dementsprechenden notwendigen und/oder angemessenen besonderen Privilegien geschaffen wurde.

Eines dieser Privilegien bestand darin, dass er Maria seit dem ersten Augenblick ihres Daseins an komplett und aktiv von der Erbschuld bewahrte. In diesem Faktum sehen wir den ersten konkreten Schritt, den Gott setzt, um den Menschen von der Erbschuld und ihrer Folgen zu erlösen. Die Auserwählung Mariens, die Mutter Gottes zu werden, ist die Zweckursache, d.h. die causa finalis proxima ihrer unbefleckten Empfängnis. Durch Gottes direktes Gnadenwirken war Maria durch ein Privileg und eine vorzeitige und vollkommene Vorwegnahme der Erlösungsfrüchte so, wie der Mensch ursprünglich eigentlich natürlich hätte sein sollen bzw. gewesen wäre, wenn die Stammeltern nicht gesündigt hätten.

Dieser Hinweis auf die Unterscheidung von prälapsalem und postlapsalem Gnadenzustand ist höchst bedeutsam, denn er impliziert, dass Maria von der Erbschuld nicht befreit, sondern von dieser bewahrt wurde, obwohl auch sie an der Erlösung durch ihren Sohn teilhat, da die Kreuzesgnaden an ihr vollständig und vorzeitig gewirkt wurden. In Maria war also nie und zu keinem Zeitpunkt ihres Daseins eine Spur der Erbschuld oder einer deren Folgen, sehr wohl aber waren diese um sie herum, da sie von den Folgen der Erbschuld umgeben war insofern sie in der schuldig gewordenen Welt unter den gefallenen, erbschuldbelasteten Menschen lebte. So war sie auch Leid und Schmerz ausgesetzt, aber in einer anderen Weise als all jene Menschen, welche auf Grund ihrer eigenen Schuldigkeit leiden.

E. Negative Aussage: Was Maria unter dem Kreuz mit Sicherheit nicht gedacht haben kann

Dies ist unbedingt mitzudenken wenn wir die Prophetie des greisen Simeon lesen: “Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden. Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2,34f.). Bedenkt man dies nämlich nicht mit so kann es leicht passieren dass man demselben Irrtum unterliegt, welcher gerade auf Grund dieses Wortes des Simeon auch manche Väter zu der irrigen und bald verworfenen Ansicht bewog, der Glaube Mariens wäre, als sie unter dem Kreuze stand, beim Anblick ihres leidenden Sohnes ins Wanken geraten.

Maria ist hinsichtlich ihres sündlosen Zustandes nicht einfach eine “Kopie“ der Stammeltern, sondern sie unterscheidet sich von diesen, weil zwischen den Stammeltern und ihr die Erbschuld liegt. Deshalb ist ihr Freisein von der Erbschuld im Vergleich zu den Stammeltern andersgeartet, weil dieses auf der Gnadenfülle beruht, welche sie von etwas bewahrte, wovon die Stammeltern am Anfang noch nicht bewahrt werden mussten, da es noch nicht in der Welt war. Aus diesem Grund können wir durchaus behaupten, dass die Gottesmutter im Vergleich zu den prälapsalen Stammeltern einen noch höheren Gnadenstand hat, weil in ihr zusätzlich noch das Moment des Bewahrtseins von der Erbschuld hinzukommt, was bei den Stammeltern noch nicht der Fall war.

Das Faktum, dass Maria “voll der Gnaden“ war, d.h. über die Gnadenfülle verfügte, bewirkt die impeccabilitas Mariens, d.h. ihre innere Unfähigkeit zur Sünde, trotz vorhandener und unverletzter Freiheit. Erst aus dieser impeccabilitas, welche ihrerseits in der Gnadenfülle begründet ist, entwächst auch die impeccantia Mariens, d.h. ihr tatsächliches und faktisches Nicht-Sündigen. Wir müssen uns also die Kausalkette stets vor Augen halten: Maria war zur Gottesmutterschaft auserkoren, deshalb erhielt sie die Gnadenfülle, weshalb sie zur Sünde innerlich unfähig war und daher auch tatsächlich nicht sündigte.

Dass Maria einerseits zur Sünde unfähig war, zugleich aber in ihrer Entscheidung vollkommen frei, ist kein Gegensatz, wenn man bedenkt, dass die Freiheit nicht darin besteht sündigen zu können, sondern dass gerade derjenige frei ist, der nicht zur Sünde gedrängt wird und der Sünde entsagen kann, ohne zu dieser gezogen zu sein. Denn die Sünde gibt uns nicht etwas, sondern nimmt uns etwas. Ein Widerspruch würde sich allein dann ergeben, wenn wir die Sündenunfähigkeit Mariens auf Grund der Gnadenfülle mit der Sündenunfähigkeit Jesu auf Grund seiner Göttlichkeit verwechseln würden: Maria war nicht (wie Christus) ihrem inneren Wesen nach zur Sünde unfähig, sondern auf Grund des göttlichen Privilegs, welches sie von der Erbschuld bewahrte. Ein bedeutender Unterschied.

Da Maria auf Grund ihres Freiseins von jeglicher Schuld und Sünde, sogar von der Erbschuld, auch keine Konkupiszenz kannte, d.h. kein Geneigtsein zur Sünde, und daher erst innerlich so sehr frei war dass sie zur Sünde unfähig war, wäre jede kleinste Sünde Mariens – dies ist lediglich ein hypothetisches Gedankenkonstrukt – automatisch eine Todsünde gewesen. Die absolute Freiheit Mariens, welche im Privileg der Bewahrung von der Erbschuld beruht, ist der Grund ihrer impeccabilitas, und nicht umgekehrt. Maria war so sehr von der Gnade erfüllt, dass sie, um es in einem Bild auszudrücken, diese Gnade erst aktiv hätte “zurückdrängen“ müssen, um sündigen zu können. Da es aber keine Konkupiszenz in ihr gab, weil sie auch von dieser direkten Folge der Erbschuld bewahrt blieb, hätte sie die Gnade und damit letztlich Gott allein aus eigenem Antrieb zurückgestossen, was letztlich auf Grund der Freiheitsfülle in ihr eine Todsünde gewesen wäre, so “klein“ oder “lässlich“ (in anderen Menschen) eine hypothetisch angenommene Sünde Mariens auch gewesen wäre.

Dies ist ähnlich wie bei den Stammeltern vor dem Sündenfall: Jede auch noch so kleine Sünde musste auf Grund deren Seelenzustandes und deren Integrität bzw. Erkenntnisfähigkeit automatisch eine Todsünde sein, wenngleich die Kausalbegründung in den Stammeltern und in Maria voneinander unterschiedlich sind.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass auch ein Glaubenszweifel oder ein Wanken im Glauben für Maria eine Todsünde gewesen wäre, und somit theologisch unmöglich und von daher auszuschliessen ist. Als Argument wird oft hervorgebracht, Maria wäre doch den Versuchungen ausgesetzt gewesen, wie es sogar ihr göttlicher Sohn war. Das ist auch richtig, aber erstens impliziert dies in keinster Weise ein tatsächliches Fallen in der Versuchung, und zum zweiten muss man überhaupt bereits von vorne herein unterscheiden, welcher Art von Versuchungen der Gottessohn und dessen Mutter ausgesetzt waren. Denn es waren die äusseren Umstände, von denen sie umgeben waren (und sie nur insofern auch den Folgen der Erbschuld ausgesetzt waren: nicht den internen, sondern allein den externen!) die sie versuchten, doch jene Versuchungen, welche sich im inneren der Seele ereignen, von denen waren sie völlig frei.

Ein Wanken im Glauben oder ein Zweifeln Mariens unter dem Kreuze ist also unvereinbar mit dem katholischen Glauben, weil es nicht vereinbar mit der Gnadenfülle und der unbefleckten Empfängnis Mariens ist, welche die impeccabilitas nach sich zieht.

F. Positive Aussage: Welches war die Haltung Mariens unter dem Kreuz?

Damit haben wir nun eine erste, negativ gewendete Aussage getroffen, d.h. wir haben bislang ausgeschlossen, was Maria sicher nicht gedacht haben kann unter ihrem sterbenden Sohn. Gehen wir aber hier noch einen Schritt weiter und wenden das, in aller Kürze, noch in eine positive Überlegung, d.h. in eine Überlegung darüber, welche Haltung Maria unter dem Kreuz eingenommen hat.

Hierbei müssen wir zuerst festhalten, dass die Gnadenprivilegierung Mariens einen Zweck hatte, nämlich auf die Mitwirkung Mariens am Erlösungswerk ihres Sohnes. Ihr gesamtes Dasein war darauf hin ausgerichtet, aber in der Kreuzesstunde erfährt dieser ihr Auftrag seinen Höhepunkt. Bereits ihr Fiat bei der Verkündigung umschliesst diese Stunde und es ist aus den vorhin ausgeführten Gründen der Gnadenfülle sowie der damit verbundenen impeccabilitas undenkbar, dass Maria unter dem Kreuz innerlich etwas von diesem Fiat hinweggenommen hat. Ganz im Gegenteil, durch ihr uneingeschränktes Fiat zum eigentlichen Zweck der Menschwerdung, der sich gerade im Kreuzesopfer erfüllte, erfüllte Maria auch ihre eigene Sendung als “Gefährtin“ des Herrn, die auch Anteil am Erlösungsopfer haben sollte.

Dass sich Maria von Anfang an dessen bewusst war, worin ihre Sendung bestand, erschliesst sich uns aus den biblischen Berichten rund um die Verkündigung und den Besuch bei ihrer Base Elisabeth. Darüber gäbe es sehr viel zu sagen, weil die Textberichte reichhaltig sind. Allgemein können wir festhalten, dass es besonders auch die Aussagen Mariens sind welche deutlich erkennen lassen, dass sie sich über ihre spezielle Rolle vollkommen im Bewusstsein war und dazu in voller Freiheit ihr Fiat sprach, denn Maria spielt mehr als deutlich ausgerechnet auf jene alttestamentarischen Texte an, welche vom Kommen des Messias sprechen. An dieser Stelle kann nur skizzenhaft auf einige ausgewählte Perikopen verwiesen werden, die in Wirklichkeit noch viel reichhaltiger sind, doch für unsere Zwecke sollen die kurzen Verweise genügen weil bereits diese in der Lage sind, die Grundaussage darzutun.

Gerade dass Maria in ihrem Magnifikat Jesaja 12, 1-5 aufnimmt als sie ihre Base Elisabeth besucht, und zugleich auch an Joel 2 anspielt, zeigt deutlich, dass sie sich ihrer Sendung bewusst war. Zu dieser Rolle hatte sie bewusst ihr Ja gesagt, und dieses Ja gilt auch noch nach dreiunddreissig Jahren unvermindert. Sie weiss, dass sie das personifizierte Israel ist, die “Tochter Zion“ aus welcher der “König der Juden“ hervorgehen wird, und weiss die entsprechenden Prophetien auf sich selbst anzuwenden. Sie weiss von Anfang an, dass sie diejenige ist, aus welcher der Heiland zu den verdorbenen Menschen kommen soll, und stellt sich diesem Erlösungswerk Gottes unvermindert zur Verfügung. Dass dies mit einem “Schwert“ verbunden ist, welches ihr durch die Seele dringen wird, ist in ihrer Bereitschaftserklärung mit inbegriffen. Das Schwert ist kein Glaubenszweifel, wie es mitunter interpretiert wurde, sondern die seelische Teilnahme am körperlichen Leiden des Gottessohnes.

Sie erkennt sich als die Jungfrau aus Jes 7,14: Nicht aus Unglaube stellt sie die erstaunte Rückfrage “wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“, sondern weil sie bereits von vorne herein, noch bevor sie wusste dass sie die auserwählte Mutter Gottes sein soll, das persönliche Gelübde ewiger Jungfräulichkeit abgelegt hatte. Als der Engel bei ihr eingetreten war und sie begrüsste, “erschrak“ sie und “dachte darüber nach, was der Gruss zu bedeuten habe“, worauf hin sie zu den rechten Erkenntnissen und Schlussfolgerungen gelangt, wie wir aus ihren folgenden Aussagen und Allusionen schliessen. Hätte sie im Gruss des Engels nicht all seine Bedeutungsschwere mitgehört und wäre sich daher dessen nicht bewusst gewesen, dass sie die “Tochter Zion“ ist, so hätte sie nicht mit Erschrecken und Rückfrage reagiert. Gerade ihre Jungfräulichkeit ist es, welche es ihr so glaubwürdig macht, dass sich die alte Verheissung aus Jesaja an ihr erfüllen wird.

In St. Matthäus ist der verheissene “Emmanuel“ (Gott mit uns) mit dem Kind, welches “Jesus“ (Gott rettet) genannt werden soll identifiziert, und es wird eindeutig gesagt, dass sich durch ihn die Verheissung erfüllen wird. Auch dies zeigt uns, dass Maria sich über die Ereignisse und Verheissungen, welche dabei waren sich zu erfüllen, vollkommen bewusst war.

Darüber hinaus hat Gott noch vor dem Fiat Mariens (um welches er ja seit Ewigkeit wusste) ein ultimatives Zeichen gewirkt an welchem sich abermals, nicht zuletzt auch hier wieder durch Querverbindungen und Parallelen zum Alten Testament (die Schwangerschaft Sarahs, der Frau des Abraham bzw. der Mutter des Isaak etwa, dessen Geschichte ja ebenfalls mit einem Opfer verbunden ist), die bedeutungsvolle Rolle Mariens zeigt: Ihre Base Elisabeth war trotz vorgerückten Alters in guter Hoffnung.

Als Maria davon erfährt und zu Elisabeth eilt, stimmt sie das überschwängliche Magnificat an, welches voll ist von Anspielungen auf die Verheissungen des Alten Testamentes. Zu der Erfüllung dieser Verheissungen gibt sie ihr freudiges und unbedingtes Fiat, voll Vertrauen und Dankbarkeit gegenüber Gott.

Dies sind nur Andeutungen die man noch sehr viel weiter vertiefen könnte um zu entdecken, mit welchem tiefen Bewusstsein, unbedingtem Glauben und grossem Vertrauen die Gottesmutter ihre Aufgabe in der Heilsgeschichte annahm. Dies zumindest zu erwähnen ist deshalb so wichtig, weil die Haltung Mariens, welche wir in den Berichten rund um die Kindheitsgeschichte erkennen können, dieselbe Haltung ist, welche Maria auch unter dem Kreuz eingenommen hat. Sie kann nicht gezweifelt und gehadert haben, sondern was bei der Geburt des Heilands für sie galt, wozu sie Ja gesagt hatte und was sie gläubig annahm, das gilt unvermindert auch bei seinem Tod.

Dass Maria bei der eigentlichen und endgültigen Erfüllung litt, d.h. das Schwert in ihrer Seele spürte, ist kein Widerspruch zu ihrem Glauben und legt keinen Glaubenszweifel, Zwist oder Hader nahe. Im Gegenteil, dies ist ausgeschlossen. Ihr Leiden ist aber notwendig, um auf ihre – menschliche – Weise am Erlösungsopfer ihres Sohnes Anteil zu nehmen, wozu sie bestimmt war. Ihre Sendung hört mit dem Tod Jesu nicht auf, sondern beinhaltet diesen und geht dann noch weiter.

Ihre Teilhabe besteht in der Versenkung in das Leid ihres Sohnes, welchem sie nicht mit Hader oder Zweifel begegnet, sondern mit klagloser Annahme, so sehr sie auch von Weh zerschlagen sein mag. Deshalb hat das Stabat mater theologisch vollkommen Recht wenn es in der Übertragung von Heinrich Bone sagt:

Ist ein Mensch auf aller Erden,
der nicht muss erweichet werden,
wenn er Christi Mutter denkt,
wie sie, ganz von Weh zerschlagen,
bleich da steht, ohn‘ alles Klagen,
nur ins Leid des Sohns versenkt?

Mag. theol. Michael Gurtner ist katholischer Theologe aus der Erzdiözese Salzburg

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Sauerteig der Welt. Zwischenrufe aus dem Herzen der Kirche
Von Michael Gurtner
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