Aller Anfang ist göttlich

Keineswegs ist göttlich, was wir Menschen so alles anfangen

SchöpfungDoch unsere Anfänge sind nur relativ, bestenfalls in einem analogen Sinn “Anfang”. In allen unseren Anfängen steckt das Vergängliche, die Ahnung, dass das heute wichtig Scheinende bald in die Bedeutungslosigkeit zurücksinkt, aus der es aufstieg. Grund genug, sich aller Dinge Anfang zuzuwenden.

Die Tagespost, 03. Januar 2014, von Stephan Baier

Der Terminkalender von 2013 ist weggeräumt. Das alte Jahr ist unwiderruflich Geschichte: unwiederbringlich vergangen, aber auch unaufhebbar geschehen. Nichts können wir an dem, was geschah – und darum nun Geschichte ist – noch ändern.

Nichts von dem, was wir taten, machen wir je ungeschehen. Nichts von dem, was wir sagten, wird jemals wieder ungesagt sein. Selbst “was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden”, wie Möbius in Friedrich Dürrenmatts “Die Physiker” weise bemerkt.

Der Jahreswechsel ist aus guten Gründen als Zäsur im Jahreslauf, als entschleunigte Zeit für viele Menschen Anlass, zu bilanzieren, die Höhen und Tiefen des endenden Jahres auszuloten und gute Vorsätze für das neue Jahr zu fassen.

Doch kaum sind wir einige Tage weit in das neue Jahr eingedrungen, schon müssen wir feststellen, dass der Modergeruch des alten Jahres uns nicht verlassen hat. Das liegt nicht nur am Willen des Menschen, an Gewohntem und Vertrautem festzuhalten. Auch nicht bloss an seiner Einsicht, dass nicht alles Alte schon deshalb überholt und wegzuwerfen ist, weil es alt ist. Wie umgekehrt nicht alles Neue schon deshalb begrüssenswert und besser ist, weil es neu ist. Das alles ist richtig, und der Spagat zwischen bewahren und erneuern deshalb eine bleibende, Kräfte raubende Herausforderung. Doch der tiefere Grund dafür, dass am “neuen Jahr” so wenig neu ist, dass es nach wenigen Tagen schon nach dem alten riecht und schmeckt, ist in der Natur des Menschen selbst begründet: Wir Menschen sind einfach schlecht im Aufhören (wie die Raucher unter uns am allerbesten wissen), und erst recht im Anfangen. Das Innehalten und Bilanzieren an der Jahreswende tut uns gut und ist sinnvoll wie eine erfrischende und reinigende Dusche nach harter Arbeit oder anstrengendem Sport. Doch keiner von uns macht sich unter der Dusche die Illusion, nie wieder schmutzig und verschwitzt sein zu können. So ähnlich ist es auch mit unseren Jahresvorsätzen, die wir brauchen wie das Aufstehen nach dem Fallen, wie die Dusche nach der Gartenarbeit – und die doch bald von den alten Lastern und Gewohnheiten, den alten Schrullen unseres alten Ich eingeholt werden. Die Kirche hat darum klugerweise die regelmässige Sünden-Dusche zuerst ermöglicht und dann sogar empfohlen, auch wenn davon heute recht wenig Gebrauch gemacht wird. Wer diese Dusche engmaschig nutzt, wird vielleicht Sorge haben, den Beichtvater zu langweilen, und in der Versuchung sein, zu sagen: “Sie wissen schon: Das Gleiche wie immer.” Kaum haben wir den Beichtstuhl verlassen, winken uns von der anderen Strassenseite schon die alten Sünden zu. Wir sind einfach schlecht im Aufhören – und im (neu) Anfangen.

“Aller Anfang ist schwer”, sagt ein Sprichwort. “Aller Anfang ist leicht”, halten manche wacker dagegen. Interessanterweise steckt in beidem viel Erfahrung und praktische Lebensweisheit. Mitunter ist der Anfang schwer (etwa beim Autofahren, Skifahren oder Sprachenlernen) und lässt anfangs gar nicht ahnen, wie leicht es später einmal fallen könnte. Mitunter aber ist der Anfang leicht (beim Rauchen, Trinken und Verlieben) und lässt nicht ahnen, welche Mühsal aus dieser Leichtigkeit des Anfangs noch erwachsen kann. Doch ob leicht oder schwer: vor allem ist aller Anfang relativ. Wir Menschen kennen nämlich “aller Anfang” gar nicht. Bei allem, was wir anfangen, fangen wir unter Voraussetzungen an. Nichts von dem, was wir machen, ist nur Anfang, nur originell, ganz voraussetzungslos, ganz eigen, ungeschuldet. Nichts von dem, was wir (selbst die grössten Künstler unter uns) schaffen, ist “creatio ex nihilo” – echte Schöpfung aus dem Nichts.

Was immer wir schaffen, verdankt sich zu einem Teil auch dem Vorgefundenen und Vorgegebenen. Die Skulptur verdankt sich nicht nur dem genialen Bildhauer, sondern auch dem Stein, der Erfindung von Hammer und Meissel, der Erziehung und Ausbildung des Bildhauers, den Werken seiner Vorläufer. Analoges lässt sich von jedem Kunstwerk, jedem Text, jeder Erfindung sagen, ja von jedem Gedanken, der in aller denkbaren Originalität noch immer notwendigerweise Altes voraussetzt. Das “Neue” an einem Werk, einer Idee, einem Unterfangen, einem Jahr, einer Epoche, einer Weltordnung ist deshalb auch stets nur relativ neu. Und auch das hat nicht nur praktische Gründe, denn sonst könnte eine vollständige Amnesie einem Künstler zu wahrhaft Neuem verhelfen. Der Grund für die Relativität alles Neuen liegt vielmehr darin, dass wir Menschen selbst nicht absolut, sondern relativ sind – oder präziser formuliert: kontingent. Es gibt keinen dümmeren Satz als den häufig zu hörenden Spruch “Alles ist relativ“. Er widerlegt sich selbst, weil hier das Bekenntnis zur Relativität selbst Absolutheit beansprucht. Widerspruchsfrei liesse sich allenfalls sagen: “Fast alles ist relativ” oder “Alles ist relativ, ausser dieser einen Aussage, dass alles relativ ist.” Das ist dann zwar in sich stimmig, aber trotzdem noch eine Beleidigung des Denkens. Doch so unsinnig die Behauptung, alles sei relativ, auch ist, verweist sie uns doch auf zwei wesentliche Wahrheiten des Menschseins: auf unser Leben inmitten vielfältiger Relativitäten, und auf unsere Sehnsucht, es möge darüber hinaus etwas geben – etwas Nichtrelatives, Absolutes. Mit unserer Frage nach dem Anfang hat das viel zu tun, denn unsere Anfänge sind wesenhaft relativ: 2014 riecht bereits heute nach 2013, so wie schon 2013 von 2012 und 2011 durchweht war. Die alten Kriege und Konflikte, Nöte und Notwendigkeiten begleiten uns über den Jahreswechsel tief ins “neue Jahr” hinein. Die alten Gesichter und Geschichten – in der Weltpolitik wie auf Facebook oder in der Familie – bleiben uns erhalten. Selbst wer morgen neu auf die Bühne des Weltgeschehens oder unseres Blickfeldes torkelt, hat bereits seine Vorgeschichte. Und auch wir selbst kämpfen – in uns und um uns – die alten Kriege und Konflikte, schlagen uns mit den alten Nöten und Notwendigkeiten herum. Die neuen Kriege, die kommen, erwachsen aus alten Wurzeln: in der weiten Welt wie in der privaten. Neue Falten zeugen von alten Sorgen.

Sogar noch da, wo die Natur uns die schrillsten Signale von Anfang und Ende gibt, umweht uns deren Relativität: in Geburt und Tod. Nichts scheint “finaler”, also mehr Aufhören und Ende zu sein als der Tod. Und doch ist bereits profan – ohne den Jenseitsglauben bemühen zu müssen – der Tod kein vollumfängliches Ende und Aufhören: Selbst wenn ein Mensch nicht mehr in Urkunden, Dokumenten und Büchern, nicht einmal mehr in den Gedanken seiner Mitmenschen fortlebt, selbst wenn er dem Vergessen anheim fällt, so ist es doch auf immer bleibend wahr, dass er einmal gelebt, gewirkt und gedacht hat. Einmal geboren, kann er nie mehr nicht gewesen sein. Ebenso ist die Geburt auch nur ein relativer Anfang, und zwar nicht bloss, weil sie ein rund neunmonatiges vorgeburtliches Dasein eben dieses zur Welt kommenden Menschen voraussetzt, weil also “wir” nicht mit der Geburt, sondern bereits eine Schwangerschaft lang vorher beginnen. Sondern weil jede Geburt unter einer Vielzahl von Voraussetzungen stattfindet, auf die “wir” – wider alle Autonomie-Allüren des Menschen – keinerlei Einfluss haben: Keiner ist je ganz Anfang, denn keiner verdankt sich nur sich selbst. Jeder Mensch ist Kind von Eltern, geboren an einem (nicht von ihm selbst) bestimmten Ort und zu einer (nicht von ihm selbst) bestimmten Zeit. Wir werden in eine Zeit, in eine Generationenkette, in eine Epoche und Kultur hineingeboren, die nicht mit uns beginnen und enden.

All die Anfänge, die wir selbst setzen, sind nicht nichts und nicht wertlos, aber doch relativ anfanghaft, und damit Ausweis unserer Kontingenz. Wenn unsere Relativitäts- und Kontingenzerfahrung auch noch das Anfanghafteste und das Endgültigste des Menschlichen erfasst, wenn alles Neue vom Alten geprägt und geformt ist, wenn uns wahrhaft Neues einfach nicht gelingen will – gibt es dann überhaupt einen echten Anfang? Ist alles nur Kreislauf (wie die Buddhisten meinen) oder gar Leerlauf (wie der Nihilismus nahelegt)? Woher kommt dann – wenn die These, dass “alles relativ” sei, in sich widersinnig ist – “aller Anfang” in einem nicht-relativen, sondern absoluten Sinn?

Der theologisch dichteste aller Schöpfungsberichte der Heiligen Schrift, der Prolog des Johannes-Evangeliums, gibt darauf eine Antwort: “Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott” (Joh 1,1). Ist das nun wirklich und originell “Anfang”? Setzt nicht auch dieser Anfang bereits die vorgefundene Zeit voraus, weil jeder Anfang immer der “Anfang von etwas” sein muss, sich also von diesem “etwas” her definiert? Oder ist nur unsere menschliche Rede vom Anfang notwendigerweise mit einem “dann” und “später” – also mit der Vorgabe von Zeit – verbunden, weil unsere relativen Anfänge eben des Absoluten entbehren? “Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist”, antwortet darauf der Johannes-Prolog.

Hier also sind wir am Anfang aller Anfänge, nicht bloss vor aller Geschichte, sondern wirklich “vor aller Zeit”, die auch “geworden” ist und deren Wesen im stets relativen Werden und Vergehen besteht. Auch die Zeit ist nicht absolut, sondern kontingent. Auch die Zeit selbst hat einen Anfang. Auch sie ist von Gott geschaffen: ex nihilo, aus dem Nichts, voraussetzungslos. “Im Anfang war das Wort” – dieser Satz ist wie ein Doppelpunkt vor allem Lobpreis des schöpferischen Wirkens Gottes. Die Zeit selbst steht – um in diesem Bild zu bleiben – nach diesem Doppelpunkt.

Das ist bedeutungsvoll: Zwar findet Heilsgeschichte (woran uns Weihnachten und der Karfreitag dramatisch erinnern) inmitten profanster Profangeschichte statt, doch ist alle Weltgeschichte immer schon eingebettet in Heilsgeschichte. Der Johannes-Prolog fasst in knappen Sätzen Schöpfungs- und Erlösungsordnung zusammen. Er erinnert uns daran, dass der am Heiligen Abend besungene holde Knabe im lockigen Haar jenes “wahre Licht” ist, das “jeden Menschen erleuchtet”. Das Baby im Holz der Krippe wie auch der sterbende Gottesknecht am Holz des Kreuzes ist identisch mit dem schöpferischen Wort Gottes. Johannes komprimiert dies in dem einen Satz: “Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.” (Joh 1,10)

“Im Anfang war das Wort.” Goethes Doctor Faust hat zu Recht mit dieser Übersetzung gehadert: “Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen; ich muss es anders übersetzen; wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.” Die allzu schnelle Erklärung, dass “im Anfang das Wort” war, und nicht etwa das Schweigen, gibt zwar die Hoffnung, dass Gottes Wort Seine Schöpfung auch weiterhin begleitet und uns Menschen bleibend zur Antwort herausfordert. Und doch erschöpft sich die Aussage nicht in der Feststellung des Dialogs zwischen Schöpfer und Geschöpf. Die Heilsgeschichte ist kein Kaffeekränzchen.

Im Anfang war der “logos”, die Logik, der Sinn. Uns Menschen, denen es nicht gegeben ist, wirkliche Anfänge zu setzen, deren Anfang immer auch vom Modergeruch des Alten umweht ist, deren Neues immer schon alt wirkt, mag es Trost und Hoffnung geben, dass “im Anfang” nicht Schweigen war, sondern Wort. Mehr noch aber, dass nicht Zufall oder Abfall, Unfall oder Urknall war, sondern Sinn. Wenn am Anfang aller Anfänge der Sinn des Seins steht, dann kann er auch die Zeit, die er schuf, durchwirken – die Weltzeit wie die eigene Lebenszeit.

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