Über die Religionsfreiheit

Erklärung Dignitas humanae

Religionsfreiheit für alleQuelle: Anhang

Das Recht der Person und der Gemeinschaft auf gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit in religiösen Belangen

Vorwort

1. Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein (1), und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Pflicht geleitet. In gleicher Weise fordern sie eine rechtliche Einschränkung der öffentlichen Gewalt, damit die Grenzen einer ehrenhaften Freiheit der Person und auch der Gesellschaftsformen nicht zu eng umschrieben werden.

Diese Forderung nach Freiheit in der menschlichen Gesellschaft bezieht sich besonders auf die geistigen Werte des Menschen und am meisten auf das, was zur freien Übung der Religion in der Gesellschaft gehört. Das Vatikanische Konzil wendet diesen Bestrebungen seine besondere Aufmerksamkeit zu in der Absicht, eine Erklärung darüber abzugeben, wie weit sie der Wahrheit und Gerechtigkeit entsprechen, und deshalb befragt es die heilige Tradition und die Lehre der Kirche, aus denen es immer Neues hervorholt, das mit dem Alten in Einklang steht.

Fürs erste bekennt die Heilige Synode: Gott selbst hat dem Menschengeschlecht Kenntnis gegeben von dem Weg, auf dem die Menschen, ihm dienend, in Christus erlöst und selig werden können. Diese einzige wahre Religion, so glauben wir, ist verwirklicht in der katholischen, apostolischen Kirche, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten. Er sprach ja zu den Aposteln: “Gehet hin, und lehret alle Völker, taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe” (Mt 28,19-20). Alle Menschen sind ihrerseits verpflichtet, die Wahrheit, besonders in dem, was Gott und seine Kirche angeht, zu suchen und die erkannte Wahrheit aufzunehmen und zu bewahren.

In gleicher Weise bekennt sich das Konzil dazu, dass diese Pflichten die Menschen in ihrem Gewissen berühren und binden, und anders erhebt die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt. Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemässen Gottesverehrung beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet. Bei der Behandlung dieser Religionsfreiheit beabsichtigt das Heilige Konzil, zugleich die Lehre der neueren Päpste über die unverletzlichen Rechte der menschlichen Person wie auch ihre Lehre von der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft weiterzuführen.

I. Allgemeine Grundlegung der Religionsfreiheit

2. Das Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von jedem Zwang sowohl von seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt, so dass in religiösen Dingen niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen – innerhalb der gebührenden Grenzen – nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird (2). Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird.

Weil die Menschen Personen sind, d.h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und damit auch zu persönlicher Verantwortung erhoben, werden alle – ihrer Würde gemäss – von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben nach den Forderungen der Wahrheit zu ordnen. Der Mensch vermag aber dieser Verpflichtung auf die seinem eigenen Wesen entsprechende Weise nicht nachzukommen, wenn er nicht im Genuss der inneren, psychologischen Freiheit und zugleich der Freiheit von äusserem Zwang steht. Demnach ist das Recht auf religiöse Freiheit nicht in einer subjektiven Verfassung der Person, sondern in ihrem Wesen selbst begründet. So bleibt das Recht auf religiöse Freiheit auch denjenigen erhalten, die ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen, und ihre Ausübung darf nicht gehemmt werden, wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.

3. Dies tritt noch klarer zutage, wenn man erwägt, dass die höchste Norm des menschlichen Lebens das göttliche Gesetz selber ist, das ewige, objektive und universale, durch das Gott nach dem Ratschluss seiner Weisheit und Liebe die ganze Welt. und die Wege der Menschengemeinschaft ordnet, leitet und regiert. Gott macht den Menschen seines Gesetzes teilhaftig, so dass der Mensch unter der sanften Führung der göttlichen Vorsehung die unveränderliche Wahrheit mehr und mehr zu erkennen vermag (3). Deshalb hat ein jeder die Pflicht und also auch das Recht, die Wahrheit im Bereich der Religion zu suchen, um sich in Klugheit unter Anwendung geeigneter Mittel und Wege rechte und wahre Gewissensurteile zu bilden.

Die Wahrheit muss aber auf eine Weise gesucht werden, die der Würde der menschlichen Person und ihrer Sozialnatur eigen ist, d.h. auf dem Wege der freien Forschung, mit Hilfe des Lehramtes oder der Unterweisung, des Gedankenaustauschs und des Dialogs, wodurch die Menschen einander die Wahrheit, die sie gefunden haben oder gefunden zu haben glauben, mitteilen, damit sie sich bei der Erforschung der Wahrheit gegenseitig zu Hilfe kommen; an der einmal erkannten Wahrheit jedoch muss man mit personaler Zustimmung festhalten.

Nun aber werden die Gebote des göttlichen Gesetzes vom Menschen durch die Vermittlung seines Gewissens erkannt und anerkannt; ihm muss er in seinem gesamten Tun in Treue folgen, damit er zu Gott, seinem Ziel, gelange. Er darf also nicht gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln. Er darf aber auch nicht daran gehindert werden, gemäss seinem Gewissen zu handeln, besonders im Bereiche der Religion. Denn die Verwirklichung und Ausübung der Religion besteht ihrem Wesen nach vor allem in inneren, willentlichen und freien Akten, durch die sich der Mensch unmittelbar auf Gott hinordnet; Akte dieser Art können von einer rein menschlichen Gewalt weder befohlen noch verhindert werden (4). Die Sozialnatur des Menschen erfordert aber, dass der Mensch innere Akte der Religion nach aussen zum Ausdruck bringt, mit anderen in religiösen Dingen in Gemeinschaft steht und seine Religion gemeinschaftlich bekennt.

Es geschieht also ein Unrecht gegen die menschliche Person und gegen die Ordnung selbst, in die die Menschen von Gott hineingestellt sind, wenn jemandem die freie Verwirklichung der Religion in der Gesellschaft verweigert wird, vorausgesetzt, dass die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.

Hinzu kommt, dass die religiösen Akte, womit sich der Mensch privat und öffentlich aufgrund einer geistigen Entscheidung auf Gott hinordnet, ihrem Wesen nach die irdische und zeitliche Ordnung übersteigen. Demnach muss die staatliche Gewalt, deren Wesenszweck in der Sorge für das zeitliche Gemeinwohl besteht, das religiöse Leben der Bürger nur anerkennen und begünstigen, sie würde aber, wie hier betont werden muss, ihre Grenzen überschreiten, wenn sie so weit ginge, religiöse Akte zu bestimmen oder zu verhindern.

4. Die Freiheit als Freisein vom Zwang in religiösen Dingen, die den Einzelnen zukommt, muss ihnen auch zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln. Denn die Sozialnatur des Menschen wie auch der Religion selbst verlangt religiöse Gemeinschaften.

Deshalb steht diesen Gemeinschaften, wenn nur die gerechten Erfordernisse der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden, Rechtens die Freiheit zu, dass sie sich gemäss ihren eigenen Normen leiten, der Gottheit in öffentlichem Kult Ehre erweisen, ihren Gliedern in der Betätigung ihres religiösen Lebens beistehen, sie durch Unterricht unterstützen und jene Einrichtungen fördern, in denen die Glieder zusammenarbeiten, um das eigene Leben nach ihren religiösen Grundsätzen zu ordnen.

In gleicher Weise steht den religiösen Gemeinschaften das Recht zu, dass sie nicht durch Mittel der Gesetzgebung oder durch verwaltungsrechtliche Massnahmen der staatlichen Gewalt daran gehindert werden, ihre eigenen Amtsträger auszuwählen, zu erziehen, zu ernennen und zu versetzen, mit religiösen Autoritäten und Gemeinschaften in anderen Teilen der Erde in Verbindung zu treten, religiöse Gebäude zu errichten und zweckentsprechende Güter zu erwerben und zu gebrauchen.

Auch haben die religiösen Gemeinschaften das Recht, keine Behinderung bei der öffentlichen Lehre und Bezeugung ihres Glaubens in Wort und Schrift zu erfahren. Man muss sich jedoch bei der Verbreitung des religiösen Glaubens und bei der Einführung von Gebräuchen allzeit jeder Art der Betätigung enthalten, die den Anschein erweckt, als handle es sich um Zwang oder um unehrenhafte oder ungehörige Überredung, besonders wenn es weniger Gebildete oder Arme betrifft. Eine solche Handlungsweise muss als Missbrauch des eigenen Rechtes und als Verletzung des Rechtes anderer betrachtet werden.

Es gehört ausserdem zur religiösen Freiheit, dass die religiösen Gemeinschaften nicht daran gehindert werden, die besondere Fähigkeit ihrer Lehre zur Ordnung der Gesellschaft und zur Beseelung des ganzen menschlichen Tuns zu zeigen. Schliesslich ist in der gesellschaftlichen Natur des Menschen und im Wesen der Religion selbst das Recht begründet, wonach Menschen aus ihrem eigenen religiösen Sinn sich frei versammeln oder Vereinigungen für Erziehung, Kultur, Caritas und soziales Leben schaffen können.

5. Einer jeden Familie, die ja eine Gesellschaft eigenen und ursprünglichen Rechtes ist, steht das Recht zu, ihr häusliches religiöses Leben unter der Leitung der Eltern in Freiheit zu ordnen. Die Eltern haben das Recht, die Art der religiösen Erziehung ihrer Kinder gemäss ihrer eigenen religiösen Überzeugung zu bestimmen. Daher muss von seiten der staatlichen Gewalt das Recht der Eltern anerkannt werden, in wahrer Freiheit Schulen und andere Erziehungseinrichtungen zu wählen, und aufgrund dieser Wahlfreiheit dürfen ihnen weder direkt noch indirekt irgendwelche ungerechten Lasten auferlegt werden. Ausserdem werden die Rechte der Eltern verletzt, wenn die Kinder gezwungen werden, einen Schulunterricht zu besuchen, der der religiösen Überzeugung der Eltern nicht entspricht, oder wenn nur eine einzige Erziehungsform für alle verpflichtend gemacht wird, bei der die religiöse Ausbildung völlig ausgeschlossen ist.

6. Das Gemeinwohl der Gesellschaft besteht in der Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, unter denen die Menschen ihre eigene Vervollkommnung in grösserer Fülle und Freiheit erlangen können; es besteht besonders in der Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person (5). Somit obliegt die Sorge für das Recht auf religiöse Freiheit sowohl den Bürgern wie auch den sozialen Gruppen und den Staatsgewalten, der Kirche und den anderen religiösen Gemeinschaften, dies je nach ihrer eigenen Weise und je nach der Pflicht, die sie dem Gemeinwohl gegenüber haben.

Der Schutz und die Förderung der unverletzlichen Menschenrechte gehört wesenhaft zu den Pflichten einer jeden staatlichen Gewalt (6). Die Staatsgewalt muss also durch gerechte Gesetze und durch andere geeignete Mittel den Schutz der religiösen Freiheit aller Bürger wirksam und tatkräftig übernehmen und für die Förderung des religiösen Lebens günstige Bedingungen schaffen, damit die Bürger auch wirklich in der Lage sind, ihre religiösen Rechte auszuüben und die religiösen Pflichten zu erfüllen, und damit der Gesellschaft selber die Werte der Gerechtigkeit und des Friedens zugute kommen, die aus der Treue der Menschen gegenüber Gott und seinem heiligen Willen hervorgehen (7).

Wenn in Anbetracht besonderer Umstände in einem Volk einer einzigen religiösen Gemeinschaft in der Rechtsordnung des Staates eine spezielle bürgerliche Anerkennung gezollt wird, so ist es notwendig, dass zugleich das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen für alle Bürger und religiösen Gemeinschaften anerkannt und gewahrt wird.

Endlich muss die Staatsgewalt dafür sorgen, dass die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die als solche zum Gemeinwohl der Gesellschaft gehört, niemals entweder offen oder auf verborgene Weise um der Religion willen verletzt wird und dass unter ihnen keine Diskriminierung geschieht.

Hieraus folgt, dass es für die öffentliche Gewalt ein Unrecht wäre, den Bürgern durch Zwang oder Furcht oder auf andere Weise das Bekenntnis oder die Verwerfung irgendeiner Religion aufzuerlegen oder jemand daran zu hindern, sich einer religiösen Gemeinschaft anzuschliessen oder sie zu verlassen. Um so mehr wird gegen den Willen Gottes und gegen die geheiligten Rechte der Person und der Völkerfamilie gehandelt, wenn auf irgendeine Weise Gewalt angewendet wird zur Zerstörung oder Behinderung der Religion, sei es im ganzen Menschengeschlecht oder in irgendeinem Lande oder in einer bestimmten Gemeinschaft.

7. Das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen wird innerhalb der menschlichen Gesellschaft verwirklicht, und deshalb ist ihre Ausübung gewissen umgrenzenden Normen unterworfen.

Beim Gebrauch einer jeden Freiheit ist das sittliche Prinzip der personalen und sozialen Verantwortung zu beobachten: Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung ihrer Rechte durch das Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der andern wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten. Allen Menschen gegenüber muss man Gerechtigkeit und Menschlichkeit walten lassen.

Da die bürgerliche Gesellschaft ausserdem das Recht hat, sich gegen Missbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können, so steht es besonders der Staatsgewalt zu, diesen Schutz zu gewähren; dies darf indessen nicht auf willkürliche Weise oder durch unbillige Begünstigung einer Partei geschehen, sondern nur nach rechtlichen Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen und wie sie für den wirksamen Rechtsschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich sind, auch für die hinreichende Sorge um jenen ehrenhaften öffentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht, und schliesslich für die pflichtgemässe Wahrung der öffentlichen Sittlichkeit. Dies alles gehört zum grundlegenden Wesensbestand des Gemeinwohls und fällt unter den Begriff der öffentlichen Ordnung. Im übrigen soll in der Gesellschaft eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muss, und sie darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist.

8. In unserer Zeit stehen die Menschen unter vielfachem äusserem Druck und geraten dabei in Gefahr, die eigene Wahlfreiheit zu verlieren. Auf der anderen Seite zeigen manche die Neigung, unter dem Vorwand der Freiheit jederlei Unterordnung abzulehnen und den schuldigen Gehorsam geringzuschätzen.

Deshalb richtet das Vatikanische Konzil die Mahnung an alle, besonders aber an die, denen es obliegt, andere zu erziehen, dass sie danach streben, Menschen zu bilden, die der sittlichen Ordnung gemäss der gesetzlichen Autorität gehorchen und zugleich Liebhaber der echten Freiheit sind; Menschen, die die Dinge nach eigener Entscheidung im Licht der Wahrheit beurteilen, ihr Handeln verantwortungsbewusst ausrichten und bemüht sind, was immer wahr und gerecht ist, zu erstreben, wobei sie zu gemeinsamem Handeln sich gern mit anderen zusammenschliessen.

So muss denn die Religionsfreiheit auch dazu dienen und dahin geordnet werden, dass die Menschen bei der Erfüllung ihrer Pflichten im Leben der Gesellschaft mit Verantwortung handeln.

II. Die Religionsfreiheit im Licht der Offenbarung

9. Was das Vatikanische Konzil über das Recht des Menschen auf religiöse Freiheit erklärt, hat seine Grundlage in der Würde der Person, deren Forderungen die menschliche Vernunft durch die Erfahrung der Jahrhunderte vollständiger erkannt hat. Jedoch hat diese Lehre von der Freiheit ihre Wurzeln in der göttlichen Offenbarung, weshalb sie von Christen um so gewissenhafter beobachtet werden muss. Denn obgleich die Offenbarung das Recht auf Freiheit von äusserem Zwang in religiösen Dingen nicht ausdrücklich lehrt, lässt sie doch die Würde der menschlichen Person in ihrem ganzen Umfang ans Licht treten; sie zeigt, wie Christus die Freiheit des Menschen in Erfüllung der Pflicht, dem Wort Gottes zu glauben, beachtet hat, und belehrt uns über den Geist, den die Jünger eines solchen Meisters anerkennen und dem sie in allem Folge leisten sollen. All dies verdeutlicht die allgemeinen Prinzipien, auf welche die Lehre dieser Erklärung über die Religionsfreiheit gegründet ist. Besonders ist die religiöse Freiheit in der Gesellschaft völlig im Einklang mit der Freiheit des christlichen Glaubensaktes.

10. Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von den Vätern ständig verkündet (8), dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott antworten soll, dass dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden darf (9). Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser Christus losgekauft und zur Annahme an Sohnes Statt durch Jesus Christus berufen (10), dem sich offenbarenden Gott nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht (11), Gott einen vernunftgemässen und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang von seiten der Menschen ausgeschlossen ist. Und deshalb trägt der Grundsatz der Religionsfreiheit nicht wenig bei zur Begünstigung solcher Verhältnisse, unter denen die Menschen ungehindert die Einladung zum christlichen Glauben vernehmen, ihn freiwillig annehmen und in ihrer ganzen Lebensführung tatkräftig bekennen können.

11. Gott ruft die Menschen zu seinem Dienst im Geiste und in der Wahrheit, und sie werden deshalb durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn er nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll. Dies aber ist vollendet in Christus Jesus erschienen, in dem Gott sich selbst und seine Wege vollkommen kundgetan hat. Denn Christus, unser Meister und Herr (12) und zugleich sanft und demütig von Herzen (13), hat seine Jünger in Geduld zu gewinnen gesucht und eingeladen (14). Gewiss hat er seine Predigt mit Wundern unterstützt und bekräftigt, um den Glauben der Hörer anzuregen und zu bestätigen, nicht aber um einen Zwang auf sie auszuüben (15). Gewiss hat er den Unglauben seiner Hörer gescholten, aber so, dass er die Züchtigung Gottes für den Tag des Gerichtes zurückstellte (16). Bei der Aussendung der Apostel in die Welt sprach er zu ihnen: “Wer glaubt und sich taufen lässt, wird selig werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden” (Mk 16,16). Als er bemerkte, dass Unkraut zugleich mit dem Weizen gesät war, befahl er, dass man beides wachsen lasse bis zur Ernte, die am Ende der Weltzeit geschehen wird (17). Er lehnte es ab, ein politischer Messias zu sein, der äussere Machtmittel anwendet (18). Statt dessen zog er es vor, sich den Menschensohn zu nennen, der gekommen ist, “um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für die vielen” (Mk 10,45). Er erwies sich als der vollkommene Gottesknecht (19), der “das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht” (Mt 12,20).

Die staatliche Gewalt und ihre Rechte erkannte er an, als er befahl, dem Kaiser Steuer zu zahlen, mahnte aber deutlich, dass die höheren Rechte Gottes zu wahren seien: “Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist” (Mt 22,21). Schliesslich hat er durch das Erlösungswerk am Kreuz, um den Menschen das Heil und die wahre Freiheit zu erwerben, seine Offenbarung zur Vollendung gebracht. Er gab der Wahrheit Zeugnis (20), und dennoch wollte er sie denen, die ihr widersprachen, nicht mit Gewalt aufdrängen. Sein Reich wird ja nicht mit dem Schwert beschützt (21), sondern wird gefestigt im Bezeugen und Hören der Wahrheit und wächst in der Kraft der Liebe, in der Christus, am Kreuz erhöht, die Menschen an sich zieht (22).

Die Apostel sind, belehrt durch das Wort und das Beispiel Christi, den gleichen Weg gegangen. Schon in den Anfängen der Kirche haben sich die Jünger Christi abgemüht, die Menschen zum Bekenntnis zu Christus dem Herrn zu bekehren, nicht durch Zwang und durch Kunstgriffe, die des Evangeliums nicht würdig sind, sondern vor allem in der Kraft des Wortes Gottes (23). Mit Festigkeit verkündigten sie allen den Ratschluss des Erlösergottes, der “will, dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen” (1 Tim 2,4); dabei aber nahmen sie Rücksicht auf die Schwachen, selbst wenn sie im Irrtum waren; so zeigten sie, wie “jeder von uns Gott Rechenschaft für sich geben wird” (Röm 14,12) (24) und dementsprechend zum Gehorsam in seinem Gewissen verpflichtet ist.

Gleich wie Christus waren die Apostel allzeit bestrebt, der Wahrheit Gottes Zeugnis zu geben, und sie nahmen dabei in reichem Masse das Wagnis auf sich, vor dem Volk und seinen Vorstehern “mit Freimut das Wort zu sagen” (Apg 4,31) (25). Mit starkem Glauben hielten sie daran fest, dass das Evangelium wahrhaft eine Kraft Gottes zum Heil ist für jeden, der glaubt (26). So verschmähten sie alle “fleischlichen Waffen” (27). Dem Beispiel der Güte und Bescheidenheit Christi folgend, verkündeten sie das Wort Gottes, im vollen Vertrauen, dass die göttliche Kraft dieses Wortes imstande ist, die gottwidrigen Mächte zu zerstören (28) und die Menschen dahin zu führen, an Christus zu glauben und ihm zu gehorchen (29). Wie ihr Meister, so achteten auch die Apostel die legitime staatliche Autorität: ” Es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott stammt”, lehrt der Apostel, und deshalb befiehlt er: “Jedermann sei den obrigkeitlichen Gewalten untertan …; wer sich der Gewalt widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes” (Röm 13,1-2) (30). Dabei scheuten sie sich nicht, der öffentlichen Gewalt zu widersprechen, wenn sie zu dem heiligen Willen Gottes in Gegensatz trat: “Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen” (Apg 5,29) (31). Märtyrer und Gläubige ohne Zahl sind zu allen Zeiten überall diesen Weg gegangen.

12. Somit verfolgt die Kirche in Treue zur Wahrheit des Evangeliums den Weg Christi und der Apostel, wenn sie anerkennt und dafür eintritt, dass der Grundsatz der religiösen Freiheit der Würde des Menschen und der Offenbarung Gottes entspricht. Sie hat die Lehre, die sie von ihrem Meister und von den Aposteln empfangen hatte, im Laufe der Zeit bewahrt und weitergegeben. Gewiss ist bisweilen im Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt – im Wechsel der menschlichen Geschichte – eine Weise des Handelns vorgekommen, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war; aber die Lehre der Kirche, dass niemand zum Glauben gezwungen werden darf, hat dennoch die Zeiten überdauert.

Der Sauerteig des Evangeliums hat sich so im Geist der Menschen schon lange ausgewirkt und hat viel dazu beigetragen, dass die Menschen im Laufe der Zeit die Würde ihrer Person besser erkannten und dass die Überzeugung heranreifte, in religiösen Dingen müsse sie in der bürgerlichen Gesellschaft vor jedem menschlichen Zwang geschützt werden.

13. Im Rahmen alles dessen, was zum Wohl der Kirche, ja auch zum Wohl der irdischen Gesellschaft selbst gehört und was immer und überall gewahrt und gegen alles Unrecht zu verteidigen ist, steht sicherlich mit an erster Stelle, dass die Kirche eine so grosse Handlungsfreiheit geniesst, wie sie die Sorge für das Heil der Menschen erfordert (32). In der Tat ist sie etwas Heiliges, diese Freiheit, mit der der eingeborene Sohn Gottes die Kirche beschenkt hat, die er sich in seinem Blute erwarb. Sie gehört in Wahrheit der Kirche so sehr zu eigen, dass, wer immer gegen sie streitet, gegen den Willen Gottes handelt. Die Freiheit der Kirche ist das grundlegende Prinzip in den Beziehungen zwischen der Kirche und den öffentlichen Gewalten sowie der gesamten bürgerlichen Ordnung.

In der menschlichen Gesellschaft und angesichts einer jeden öffentlichen Gewalt erhebt die Kirche Anspruch auf Freiheit als geistliche, von Christus dem Herrn gestiftete Autorität, die kraft göttlichen Auftrags die Pflicht hat, in die ganze Welt zu gehen, um das Evangelium allen Geschöpfen zu verkündigen (33). Ebenso fordert die Kirche Freiheit für sich, insofern sie auch eine Gesellschaft von Menschen ist, die das Recht besitzen, nach den Vorschriften des christlichen Glaubens in der bürgerlichen Gesellschaft zu leben (34).

Wenn der Grundsatz der Religionsfreiheit nicht nur mit Worten proklamiert oder durch Gesetze festgelegt, sondern auch ernstlich in die Praxis übergeführt ist und in Geltung steht, dann erst erhält die Kirche rechtlich und tatsächlich die gefestigte Stellung, welche die Bedingung zu jener Unabhängigkeit darstellt, die für ihre göttliche Sendung nötig ist und wie sie die kirchlichen Autoritäten in der Gesellschaft mit immer grösserem Nachdruck gefordert haben (35). Zugleich haben die Christen wie die übrigen Menschen das bürgerliche Recht, dass sie nach ihrem Gewissen leben dürfen und darin nicht gehindert werden. So steht also die Freiheit der Kirche im Einklang mit jener religiösen Freiheit, die für alle Menschen und Gemeinschaften als ein Recht anzuerkennen und in der juristischen Ordnung zu verankern ist.

14. Damit die katholische Kirche ihren göttlichen Auftrag: “Lehret alle Völker (Mt 28,19-20), erfüllen kann, muss sie mit eifriger Hingabe dafür arbeiten, “dass das Wort Gottes seinen Lauf nehme und verherrlicht werde” (2 Thess 3,1).

Inständig bittet deshalb die Kirche ihre Söhne, dass “an erster Stelle Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen für alle Menschen verrichtet werden …; denn das ist gut und wohlgefällig vor Gott, vor unserm Erlöser, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen” (1 Tim 2,1-4).

Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben (36). Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen. Ferner sollen die Christen bemüht sein, in Weisheit wandelnd vor den Aussenstehenden, “im Heiligen Geist, in ungeheuchelter Liebe, im Wort der Wahrheit” (2 Kor 6,6-7), mit der Tapferkeit der Apostel bis zur Hingabe des Blutes das Licht des Lebens mit allem Freimut zu verbreiten (37).

Denn der Jünger hat gegenüber Christus, dem Meister, die ernste Pflicht, die von ihm empfangene Wahrheit immer vollkommener kennenzulernen, in Treue zu verkünden und kraftvoll zu verteidigen unter Ausschluss aller Mittel, die dem Geist des Evangeliums entgegengesetzt sind. Zugleich wird er von der Liebe Christi gedrängt, den Menschen, die in Irrtum oder Unwissenheit in den Dingen des Glaubens befangen sind (38), in Liebe, Klugheit und Geduld zu begegnen. So ist Rücksicht zu nehmen sowohl auf die Pflichten gegenüber Christus, dem lebendigmachenden Wort, das es zu verkünden gilt, wie auch auf die Rechte der menschlichen Person und auf das Mass der Gnade, das von Gott durch Christus dem Menschen gewährt wird, an den sich die Einladung richtet, den Glauben freiwillig anzunehmen und zu bekennen.

Schlusswort

15. Zweifellos verlangen die Menschen unseres Zeitalters danach, die Religion privat und öffentlich in Freiheit bekennen zu können; bekanntlich ist die Religionsfreiheit auch in den meisten Verfassungen schon zum bürgerlichen Recht erklärt (39), und sie wird in internationalen Dokumenten feierlich anerkannt.

Anderseits gibt es auch Regierungsformen, in denen die öffentlichen Gewalten trotz der Anerkennung der religiösen Kultusfreiheit durch ihre Verfassung doch den Versuch machen, die Bürger vom Bekenntnis der Religion abzubringen und den religiösen Gemeinschaften das Leben aufs äusserste zu erschweren und zu gefährden.

Indem das Konzil jene glückhaften Zeichen unserer Zeit mit Freude begrüsst, diese beklagenswerten Tatsachen jedoch mit grossem Schmerz feststellt, richtet es die Mahnung an die Katholiken und die Bitte an alle Menschen, dass sie sich angelegentlich vor Augen stellen, wie notwendig die Religionsfreiheit ist, besonders in der gegenwärtigen Situation der Menschheitsfamilie.

Denn es ist eine offene Tatsache, dass alle Völker immer mehr eine Einheit werden, dass Menschen verschiedener Kultur und Religion enger miteinander in Beziehung kommen und dass das Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit im Wachsen begriffen ist. Damit nun friedliche Beziehungen und Eintracht in der Menschheit entstehen und gefestigt werden, ist es erforderlich, dass überall auf Erden die Religionsfreiheit einen wirksamen Rechtsschutz geniesst und dass die höchsten Pflichten und Rechte des Menschen, ihr religiöses Leben in der Gesellschaft in Freiheit zu gestalten, wohl beachtet werden.

Gebe Gott, der Vater aller, dass die Menschheitsfamilie unter sorgsamer Wahrung des Grundsatzes der religiösen Freiheit in der Gesellschaft durch die Gnade Christi und die Kraft des Heiligen Geistes zu jener höchsten und ewigen herrlichen “Freiheit der Söhne Gottes” (Röm 8,21) geleitet werde.

7. Dezember 1965

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