Michelangelo, das Jüngste Gericht und die Römische Kirche

Debatte zwischen Pater Franz Solan Nüsslein, Peter Stephan und Paul Badde

Vatican magazin Mai 2013Quelle

Rom, Freitag, 03. Mai 2013, von vaticanmagazin

Eine Debatte zwischen Pater Franz Solan Nüsslein, Peter Stephan und Paul Badde zu dem Artikel “Der Tag des Zorns” in der Doppelnummer des Vatican-magazins von März/April 2013

Lieber Herr Badde, lieber Herr Horst!

Darf ich Ihre Zeit mit ein paar Gedanken beanspruchen? Ich hatte nämlich Schwierigkeiten mit der Interpretation des Wandbildes der Sixtina durch Peter Stephan im letzten Heft. Sie scheint mir zu gewaltsam.

Bei der Betrachtung des Bildes fiel mir auf, dass die weiblichen Figuren alle bekleidet sind und meist von Christus wegschauen, während die männlichen praktisch alle nackt sind und mit angstvollem Ausdruck auf den Herrn blicken. Manche – die des alten Testaments? – sind leicht bekleidet.

Dass die Schlüssel des Petrus zerbrochen seien, kann ich nicht nachvollziehen. Auffällig ist, dass es zwei sind: ein silberner (kleinerer) und ein goldener. Der Finger des Petrus weist nicht auf die geduckte Frau, denn er ist noch vor den Haaren des jungen Mannes vor ihm (Johannes Ev.?) gemalt. Vielleicht meint der silberne Schlüssel den Alten Bund und der goldene das Evangelium. Dann würde sein “Fingerzeig” darauf hinweisen, dass er ihn als vom Herrn gegeben betrachtet: “Der ist doch von dir!”.

Nun muss ich gestehen, dass ich bisher keinerlei Literatur über das Gemälde gelesen habe, mir also auch keine andere Erklärung bekannt ist.

Herzliche Grüsse

Ihr

P. Franz Solan Nüsslein

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Danke, lieber Pater Franz,

für Ihre liebe Anfrage, die ich mir erlaubt habe, an Peter Stephan weiter zu schicken, damit er Ihnen gleich selbst darauf antwortet.

Sehr von Herzen

Ihr

Paul Badde

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Lieber Herr Badde, lieber Herr Horst!

Für den Fall, dass Sie Zeit haben und es Sie interessieren sollte, sende ich Ihnen mit den besten Grüssen meinen Briefwechsel mit Prof. Stephan.

Auf meine von Ihnen weitergeleitete Gedanken vom 11. 4. hat er schon am 12.4. mit dem folgenden Brief geantwortet; worauf ich ihm am 14. weitere Überlegungen mailte und er mir noch am gleichen Tag antwortete. Hier der Ablauf:

Sehr geehrter Pater Nüsslein,

vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Artikel. Die Schlüssel, die Petrus hält, sind seit dem Mittelalter Bildzeichen für die Binde- und Lösegewalt nach Mt. 16,18. Mit dieser Bedeutung zieren sie – in den Farben Gold und Silber – auch das Papstwappen.

Der simonistische Missbrauch der Schlüsselgewalt bzw. der Petrusschlüssel durch die Kirche ist seit dem frühen 16. Jahrhundert ein zentrales Thema der Reformtheologen (Contarini, Sodaleto), der Humanisten (Erasmus) und der Reformatoren.

Michelangelo hat bei der Verwendung dieses Bildmotivs, wie meine jüngeren Forschungen zeigen, eng mit Paul III. und seinen kurialen Reformtheologen zusammengearbeitet. Um auf die Simonie der Kirche hinzuweisen, hat er die Schlüssel ohne Griffe dargestellt – sie sind also zerbrochen.

Die Apostel sind, wenn man genau hinsieht, wirklich nicht verängstigt, sondern ergrimmt oder zornig. Dass die Kirche dieser Zeit das Erbe der Apostel veruntreut hat und sich an diesem nicht (mehr) messen lassen kann, ist gleichfalls ein immer wiederkehrender Topos in den Quellen (sehr aufschlussreich sich die Dokumente, die im Vorfeld des Tridentinums entstanden sind und von Hubert Jedin und Vinzenz Schwarz in Konzilium Tridentinum Bd. 9 ediert wurden.)

Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meinen Ergänzungen weiterhelfen und verbleibe mit freundlichen Grüssen

Prof. Dr. Peter Stephan

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Sehr geehrter Herr Professor Stephan!

Ganz herzlichen Dank für Ihre erhellende Antwort.

Ich habe daraufhin das Bild nochmals in aller Ruhe – ich bin 87 und nicht mehr im Arbeitsstress eingebunden – betrachtet. Sie haben recht: Petrus schaut nicht erschrocken sondern eher ernst-fragend. Es ist schon erstaunlich, welche Vielfalt an Emotionen Michelangelo in die Gesichter bringen konnte.

Allerdings habe ich einige Schwierigkeiten Ihre Identifizierung der Personen nachzuvollziehen. Petrus ist klar. Ist der bärtige Mann zu seiner rechten Schulter Paulus oder der Täufer? Ich vermute, dass Sie den jungen Mann, räumlich zwischen Christus und Petrus, als den Täufer ansehen. Dann kann aber der Greis zu seinen Füssen nicht Herodes sein, denn das Messer und die geschundene Haut weisen eindeutig auf den Apostel Bartholomäus hin. Die Figur hinter Petrus scheint mir eine alte Frau zu sein, denn sie hat keinen Bart und ist wie die übrigen Frauen gänzlich bekleidet. Warum sie sich im wörtlichen Sinn verkriecht kann ich mir nicht erklären. Sie weiss es wohl selbst am besten.

Betrachte ich das Bild vom Zentrum her, dann holt Christus zu einem Schlag aus. Und tatsächlich, das Ziel ist offensichtlich die geduckte Frau, die ihre Hände abwehrend erhebt. Der junge Mann vor ihr hält seinen Arm schützend vor sie. Auch die breitschultrige, vorgebeugte Gestalt – oberhalb des Paulus – scheint den Schlag abwehren zu wollen. Und Paulus selbst hebt erschrocken die Hände. Michelangelo hat da schon ein mächtiges Puzzle gemalt.

Ja, wer ist mit der Frau gemeint? Am plausibelsten scheint mir, dass es Eva sein soll, die ja am Anfang der Beschuldigungslinie steht. Bei ihr kommen letztlich alle Schuldzuweisungen an, auch Verfehlungen von Päpsten, Bischöfen und Priestern. Adam und seine Nachfahren – die nackten Männer? – stehen nun doch nackt da und können sich nicht auf den Ungehorsam Evas im Paradies berufen. Maria, die ihr “fiat” des Gehorsams gesprochen hat, hat damit alle Frauen bekleidet, die bis auf wenige vom Geschehen wenig beeindruckt scheinen oder es gar nicht erst mitkriegen. Oder schauen sie lieber nicht hin? Aber warum? Aus Verlegenheit? Rätsel über Rätsel!

Man könnte auch versucht sein, die geduckte Frau mit der Reformation zu identifizieren. Die war zwar gut gemeint, hat aber die Schlüsselgewalt der Kirche erschüttert, indem Reformatoren die Petrus-Kirche beschuldigten, der Anti-Christ zu sein und damit eine Spaltung provozierten.

Auslassen darf man aber keinesfalls, dass die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten erfolgt. Dann ist auch die Schlüsselgewalt des Petrus und seiner Nachfolger obsolet geworden, d.h. die Schlüssel sind nun unbrauchbar und werden zurückgegeben.

Würde der Herr am Ende der Zeiten “die” Kirche verurteilen, würde er sein eigenes Werk, entgegen Mt. 16:18, als unbeständig bezeichnen, ja sie wäre ihm entglitten; dann hätte er uns aber letztlich in die Irre geführt. Aber das Gericht ergeht nicht über Gruppen, Allegorien oder Abstrakta, es ergeht über Einzelmenschen. Jeder Einzelne wird zur Verantwortung gezogen. Und offensichtlich fühlt sich jeder Einzelne des Gemäldes mehr oder weniger “be-troffen”. Der Simonie kann sich nicht die Kirche sondern eben nur eine konkrete Person, ein bestimmter Papst oder Bischof schuldig gemacht haben. Denn wer immer es tat, tat es ja gegen das Grundgesetz der Kirche. Sonst könnte er nicht schuldig sein.

Das ist so der Stand meiner erneuten Meditation der grossartigen Komposition Michealangelos.

Nochmals herzlichen Dank für Ihre Hinweise und mit besten Grüssen

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Sehr geehrter Pater Nüsslein,

vielen Dank für Ihre Mail und Ihre in die Tiefe des Bildes vordringenden Überlegungen. Vielleicht darf ich zur Identifizierung der Figuren – die ich im Text nur ungenügend vorgenommen habe – hinweisen. Johannes der Täufer (mit leichten Andeutungen eines Kamelhaarfells am Rücken und an der Scham) bildet das Pendant zu Petrus, er steht – von Christus aus gesehen – rechts im Vordergrund. Auch er ist erzürnt, wohl weil er auf den Missbrauch des Busssakraments hinweist bzw. auf die mangelnde Unbussfertigkeit der Welt. Er wird von einem nicht näher identifizierbaren jungen Mann, der seinen rechten Arm anfasst, zurückgehalten. Hinter Johannes d. T. kriecht Herodes Antipas mit leicht orientalischer Frisur. Hinter Petrus steht Paulus (mit Bart), er weicht von der Angeklagten erschrocken zurück. Zu Füssen des Petrus sieht man auf allen Vieren Simon Magus. Den Mann vor Petrus mit dem Schindermessen deuten Sie zu Recht als Bartholomäus. Der junge Mann, der seinen Arm schützend vor die angeklagte verschleierte Frau hält, ist m. E. Johannes der Evangelist, der jüngste der Jünger (zumindest der Bildtradition nach).

Der Ansatz, die Frau als Eva zu deuten, ist sehr interessant, aber was hätte Eva mit den zerbrochenen Schlüsseln zu tun? Diese haben ja eine eindeutig ekklesiologische Komponente. Vielleicht kann man sagen, dass die Kirche in ihrer Heiligkeit durch Maria, in ihrer Sünde durch Eva präfiguriert wird.

In den zeitgenössischen Quellen jedenfalls taucht mehrfach das Bild der trauernden, der entstellten Kirche auf, die unter den Päpsten gelitten hat. Paul III. erklärt mehrfach, dass der derzeitige Zustand der Kirche auf das Versagen seiner Vorgänger zurückzuführen sei – eine für uns heute undenkbare Kritik. Paul III. meinte vor allem die Della-Rovere Päpste Sixtus IV. (Simonie) und Julius II. (Kriegführung) sowie die Medici-Päpste Leo X. (Verweltlichung) und Clemens VII. (Aufhetzung der Fürsten gegeneinander, was zum Sacco di Roma geführt habe). Die Sixtina ist ja von Sixtus IV. nicht nur als päpstliche Palastkapelle, sondern indirekt auch als ein Ruhmesmonument der Familie Della Rovere errichtet worden und als ein solches wird dieser Bau von seinem Neffen Julius II. weiter ausgestaltet. In dieses Ruhmesmonument einer ehrgeizigen Papstfamilie ruft Paul III. nun den Weltenrichter hinein – um an die Dringlichkeit einer Kirchenreform zu erinnern. Er selbst hat den Kardinälen mehrfach angedroht, er werde sie dereinst vor dem göttlichen Thron verklagen, sollten sie nicht endlich mit den Reformen beginnen.

Christi rechter Arm ist vielleicht zum Fluch, vielleicht aber auch einfach ‘nur‘ machtvoll gebietend erhoben – letzteres wäre ein gängiges Motiv Seiner Allmacht und Seiner Gerechtigkeit (vgl. Ex 15,6, Lk 1, 51). Jedenfalls scheint sich die Linke zu einem Segensgestus zu formen. Christus vergibt seiner Kirche, Er erneuert sie, die aus Seinem Blut entstammt (weshalb die linke Hand auch Richtung Seitenwunde zeigt). Michelangelo stellt dar, wie der Rex tremendae majestatis zur Fons pietatis wird, wie es im Dies Irae heisst.

Hier kommen zwei Motive ins Spiel: die Kirche als Magna Peccatrix und die Kirche als Casta Meretrix (hierzu gibt es auch einen schönen Beitrag von Hans Urs von Balthasar). Die Volte Pauls III. gegenüber den Reformatoren ist: Die Kirche ist nicht die Hure Babylon, sondern die keusche Hure, die Christus untreu wird, durch Ihn aber immer wieder gereinigt wird.

An eine Identifizierung der Frau mit den Reformatoren habe ich auch schon gedacht. Haben diese die Schlüssel – und damit die Autorität des Papsttums – zerbrochen? Doch warum sollte Christus den Reformatoren vergeben?

Aber Sie haben Recht, das Bild ist sicherlich mehrdeutig, und diesen verschiedenen Deutungen lohnt es nachzugehen. Eigenartig ist nur, dass bislang in der gesamten Literatur der eigentliche Vorgang, die Interaktion zwischen Christus und der Angeklagten sowie die zerbrochenen Schlüssel und der Zorn der Apostel gar nicht gesehen wurden. Und diese wichtigen Details wollte ich mal zur Kenntnis bringen.

Ich grüsse Sie herzlich und wünsche Ihnen eine gute Woche. Und bei dieser Gelegenheit auch herzlichen Dank für Ihre vielen schönen Briefe im Vatican-magazin, die immer zum meiner Lieblingslektüre gehören.

Ihr Peter Stephan

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Lieber Pater Franz, lieber Herr Stephan,

vielen Dank für Ihre hochinteressante Debatte, für die sich ja jede andere Redaktion eine oder zwei Hände abhacken würden, wenn ihre Autoren so untereinander kommunizieren möchten.

Ich bin bei all dem ein Laie und Lernender und stehe deshalb nur um so staunender davor. Kompletter Laie bin ich nur im Herzen dieses Gerichts nicht, worüber ich (Anfang 2008?) auch einmal einen Bericht im VM hatte – über diese “Häresie der Bilder”, die für mich da irgendwie ihren spektakulärsten Ausgang genommen hat, wenn Sie mich fragen. Doch es hat mich noch keiner gefragt – und eine Antwort oder Anfrage habe ich noch nie darauf bekommen, auch nicht auf ein ähnliches Stück von mir in der WELT.

Darf ich deshalb Sie nun als Fachleute fragen, was Sie dazu sagen? Ich habe ein paar Bilder zum Vergleich angehängt: also die Bildmutter (in Manoppello) dann einige Exemplare der kanonischen Christusbilder bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts und eben die Abkehr davon bei Michelangelo, “il terribile”.

Herzlich Ihr

Paul Badde

Es gibt kein aufreizenderes Dogma als die Menschwerdung Gottes. Die Vorstellung, dass der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Urheber aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge, der Herr des Universums, der Sonne, des Mondes und aller Sterne auch meine Frau und mich, die Gattung der Elefanten, die Katze des Nachbars und jede noch so kleine Amöbe in die Existenz gerufen hat, dass dieser Gott eines Tages selbst durch den Geburtskanal ging, das ist einfach nicht mehr zu glauben. Da treffen sich der Atheist und der Christ, wenn er ehrlich ist. Dieses Dogma sprengt jeden Verstand. Es ist unfassbar. Dieser Glaube aber ist das Fundament der ganzen Christenheit.

Die “Epiphanie“, das Fest des Erscheinung Gottes, erinnert uns jedes Jahr am 6. Januar radikal daran. Denn Gott, als er Mensch wurde, hat ja auch ein bestimmtes menschliches Gesicht angenommen. Zuerst ist er damit Maria, Joseph und den Hirten mit ihren Tieren erschienen, als schielender Säugling. Nach diesen Juden aus Jerusalem, Nazareth und Bethlehem sahen ihn heidnische Sterndeuter aus dem Osten, vielleicht dem heutigen Irak. In jenen Tagen hatte Gott das zentrale Bilderverbot der Bibel selbst für immer ausser Kraft gesetzt. Denn als er Mensch wurde, wurde er auch Bild. – “Wollen wir wirklich das Antlitz Gottes erkennen“, sagte Benedikt XVI. deshalb am 7. September 2006, “haben wir nichts anderes zu tun, als das Antlitz Jesu zu betrachten. In seinem Antlitz sehen wir wirklich, wer Gott ist und wie Gott ist!“. Jahre zuvor war Jürgen Habermas, dem “religiös unmusikalischen“ Philosophen in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche gedämmert, dass sich das Konzept der Menschenwürde im Grunde nur vom Urbild des jüdisch-christlichen Glaubens an eine Gottesebenbildlichkeit des Menschen ableiten liess. Von jenen Sätzen also, wo es im Buch der Genesis heisst: “Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbild. Als Mann und Frau erschuf er ihn”.

Den Gedanken aber, dass dieser Gott nicht nur den Menschen nach seinem Bild geschaffen, sondern am Schluss auch selbst sein Gesicht den Menschen gezeigt hat, findet Habermas offensichtlich auch heute noch zu kühn, als dass er ihn mit allen Konsequenzen an sich heranlassen möchte. Das menschliche Gesicht Gottes gehört dennoch ganz wesentlich zu jener “Bildung“ Europas, von der Hans-Georg Gadamer kurz vor seinem Tod sagte, “dass Bildung nicht ist, was irgendein Mensch gemacht hat. Sondern Bildung ist wie die Formation der Berge, die in Jena oder in Heidelberg über die Häuser der Städte hinweg blicken.” Eine der letzten grossen Visionen Johannes Paul II. war ein “Europa des Menschen, über dem das Angesicht Gottes leuchtet”. Was Europas Schönheit ausmacht, hat sicher damit zu tun, dass dieses Angesicht schon Jahrhunderte lang mehr als alle Berge über die Städte Europas geblickt hat. Wie dieses Gesicht aussah, stand dabei ausser Zweifel.

Das war im Westen schon sehr früh klar, im Osten noch länger. Es war ein leicht asymmetrisches Porträt mit Mittelscheitel, schlanker Nase, geschwollener rechter Wange, Locken zu beiden Seiten des Kinns, mit leicht offenem Mund und schütterem Bart. Bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts gab es so gut wie kein Bild Christi, das von dieser Vorlage abwich. Im Jahr 1499 hatte Michelangelo mit 24 Jahren Christus auf dem Schoss seiner Mutter so in Marmor gemeisselt, als hätte er Christus selbst vor Augen gehabt. Ein Jahr später, 1500, schuf Albrecht Dürer in Nürnberg ein revolutionäres Selbstporträt, wo er sich selbst so darstellte, als radikales Ebenbild Christi. Häretisch war das nicht. Das Bild ist ein hervorragendes Zeugnis, um die Habermas’sche These vom Zusammenhang der Menschenwürde mit der biblischen Gottesebenbildlichkeit zu belegen.

Vielleicht hat sich ein Zeitalter selten profilierter ausgedrückt als damals. Vierzig Jahre nach dem selbstbewussten Meisterwerk Dürers und der Vollendung der Pietà stand Michelangelo wieder vor der Aufgabe, Christus zu porträtieren. 1508, vor 500 Jahren, hatte die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle begonnen. Zur Vollendung sollte der Meister dort nicht nur einfach ein weiteres Fresko anbringen, sondern die Stirnwand des Raumes, in dem bis heute die Päpste gewählt werden, mit einem letzten Meisterwerk krönen. Es war praktisch das Zentrum der christlichen Bilderwelt, das dem 60jährigen Genie hier anvertraut wurde: es war das Jüngste Gericht. Bei seiner Enthüllung im Jahr 1541 ging Papst Paul III. quasi mit allen Kardinälen und Prälaten vor dem neuen Kunstwerk in die Knie, das rasch zum unübertrefflichen Schatz der Christenheit erklärt wurde.

Paul III. war eine schillernde Gestalt auf dem Stuhl Petri, der sich nach der Reformation um eine Erneuerung der katholischen Kirche bemühte. Sein Pontifikat ist mit dramatischen Schritten verbunden, etwa der Einberufung des Konzils von Trient oder der Zulassung des neuen Ordens der Jesuiten. Vielleicht ist darum auch etwas untergegangen, dass im Herzen der katholischen Bilderwelt, im Herzen Roms, im Herzen des Vatikans, im Herzen der Sistina, im Herzen des Jüngsten Gerichts die zentrale Figur des Weltenrichters seit seinen Regierungsjahren nicht mehr das wohl bekannte Gesicht Jesu Christi trägt! Deutsche könnten diesen Jesus vielleicht für Friedrich Schiller halten. Doch es ist weder Schiller noch Christus, sondern der bartlose Apoll: es ist der Rächer unter den Göttern, der Sohn des Zeus und der Leto, den Michelangelo hier an die Stirnseite der Sistina gemalt hat. Die antike Vorlage für das Porträt findet sich heute im Belvedere-Hof der Vatikanischen Museen: es ist eine griechische Marmorbüste, die Michelangelo nachweislich als Modell für diesen Christus benutzt hatte. Im Grunde war es eine ungeheuerliche Blasphemie.

Was Michelangelo dabei geritten und bewegt hat, weiss der Himmel. Ein “nicht von Menschenhand geschaffenes“ Urbild Christi hatte sich bis 1527 gewiss nur ein paar Schritte von der Sixtinischen Kapelle entfernt befunden, bis deutsche und spanische Söldner im “Sacco di Roma“ die Schätze des Vatikans plünderten. Beim Petrusgrab im Petersdom befindet sich jetzt noch das Mosaik eines Weltenrichters, das seit dem 9. Jahrhundert dort unverändert geblieben ist. An Vorbildern des kanonischen Christusbildes mangelte es nirgends in Rom. Der neue “Christus“ Michelangelos hat zwar noch (winzige) Wundmale an Händen und Füssen, doch eher als manikürische Verzierung. Dieser Mann ist ein Athlet, sein Gesicht zeigt keine Spuren der Passion, keine geheilten Verwundungen. Dieser Jesus ist nur hübsch. Er schaut uns auch nicht an wie bis dahin jedes Christusbild, sondern dreht den Kopf ab wie ein selbstverliebter Tänzer. Kurz, er ist überhaupt nicht Christus und er war es nie. Dieser Mann ist nicht Jesus von Nazareth, er ist nicht der Mensch gewordene Gott. In ihm zeigt Gott nicht sein menschliches Gesicht. Er ist nur ein weiterer Götterliebling, doch im Grunde ein Götze. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn hat Michelangelo hier kurzerhand das Gottesbild der Christen durch ein heidnisches Götzenbild ausgewechselt.

Die Sache ist natürlich bekannt und ruft doch längst nur ein müdes Achselzucken der Kunsthistoriker hervor, aber nie ein Ah und Oh der Philosophen oder Historiker, oder gar einen Aufschrei der Theologen, für die das Gottesbild längst zu einer Metapher geworden scheint, die mit dem konkreten Gesicht Christi nichts mehr zu tun hat. Wer unter Kunsthistorikern von Gott redet, macht sich gewöhnlich schon lächerlich, bevor er den Mund aufmacht. Nach der Enthüllung des Jüngsten Gerichts gab es zwar noch kleine Debatten darüber, dass Michelangelo hier auf traditionelle Attribute wie Heiligenscheine oder Flügel (der Engel) verzichtet hatte, die sogar bis in das Konzil von Trient hinein getragen wurden, doch im Grunde ging vor diesem Meisterwerk des Meisters bald alle Welt in die Knie. Selbst Johannes Paul II. stöhnte vor Jahren in einem seiner letzten Gedichte angesichts des Bildes nur erschrocken über “das Gericht, das Weltgericht“ das jedem einzelnen von uns bevor stehe – doch nicht über dieses Gesicht. Über den ausgewechselten Weltenrichter verlor er kein Wort.

Dass Michelangelo hingegen wusste, was er tat, ist klar. Das Genie war nicht naiv. In späteren Arbeiten – etwa der Pietà Bandini (1548/55) oder seiner letzten unvollendeten Pietà Rondandini – ist er wieder zum traditionellen Christusbild zurückgekehrt. Im Weltgericht der Sixtinischen Kapelle aber ist sein Apollo an der Stelle Christi zurückgeblieben. Es war der spektakuläre erste Schritt auf einem Weg, auf dem Künstler später auch behaupten konnten, ein Stacheldrahtgebinde stelle (wegen der Konzentrationslager usw.) Gott dar. Irrlehren haben die Welt der Bilder also genauso heimgesucht wie die Welt des geschriebenen und gesprochenen Wortes, doch mit bisher noch gar nicht ausgeloteten Folgen.

Vielleicht zeigt das Jüngste Gericht deshalb noch einmal mehr die wahre Grösse Michelangelos. Dass er die Grösse der Menschwerdung Gottes nämlich noch ernst nahm und darum nicht mehr ausgehalten halt. Den Mensch gewordenen Gott liess er in diesem Bild jedenfalls wieder zurücktreten in ein beliebiges Glied des Götterhimmels. Ob die Diktatur des Relativismus hier ihren Ausgang nimmt, ist schwer zu sagen. Eine schwerer wiegende Relativierung als das Auswechseln vom Bild Gottes ist dennoch kaum vorstellbar. Es war eine klassische “Resignation der Wahrheit gegenüber“, wie Joseph Ratzinger es einmal formulierte, wenn wahr ist, dass Gott Mensch wurde und deshalb ein bestimmtes konkretes Gesicht angenommen hat.

In diesem Bild hatte Michelangelo also einer Dimension Ausdruck verliehen, die wir gewöhnlich verdrängen: dass nämlich das Unglaubliche am Beginn vom Credo der Christen steht: “Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde und an seinen eingeborenen Sohn …“ – Kein Christ fällt vor Schreck um bei diesen Worten. Müsste aber nicht wirklich, wer das glauben kann, auch mit einem einzigen Wort einen Berg versetzen können? Es bleiben noch andere Fragen. Hat es irgendetwas geändert, dass Michelangelo quasi in die Mitte der Christenheit ein falsches Gottesbild hinein malte? Oder ist spurlos an uns vorbei gegangen, dass hier das zentrale Leitbild einer Kultur durch eine unidentische Kopie ausgetauscht wurde? Denn das Bild Gottes ist für unsere “Bildung“ doch nicht weniger bedeutsam als etwa “die Formation der Berge“ über Jena oder Heidelberg. Was heisst dieser Vorgang am Anfang der Neuzeit also für die “Bildung“ Europas? Für die Bildung der Christenheit? “Ein Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder;“ hat Elias Canetti einmal geschrieben. “Bilder bestimmen, was man erlebt. Als eine Art von Grund und Boden gliedern sie sich in einem ein. Je nach den Bildern, aus denen einer besteht, gerät er in ein verschiedenes Leben.“ Kann das beim Bild Gottes anders sein, beim Antlitz Jesu, wo “wir wirklich sehen, wer Gott und wie Gott ist.“

Paul Badde – 6. Dezember 2007

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Lieber Herr Badde,

vielen Dank für diesen sehr schönen Artikel! Immerhin dürfte es Sie beruhigen, dass Christus sich nicht wie ein Tänzer wegdreht, sondern wirklich in seiner Eigenschaft als Richter agiert.

Habe heute das sehr schöne Benedikt -Buch Alexander Kisslers gelesen, und da sind mir zwei Dinge aufgefallen: Kissler deutet das Dies Irae auch als eine Rede der sündigen Kirche – er stellt dabei einen indirekten Bezug zum Missbrauchsskandal her. Und er zitiert Benedikt XVI., der – gleichfalls im Zusammenhang des Missbrauchs – auf eine Vision der Hildegard von Bingen hinweist. Diese schildert die von den Sünden der Priester geschändete Kirche als eine zerlumpte und beschmutzte alte Frau.

Ob Michelangelo bzw. seine Berater die Vision der heiligen Hildegard kannte(n), weiss ich nicht – aber wir haben damit eine weitere Quelle für das Bildmotiv der sündigen Kirche als hässliche, unansehnliche Gestalt. Und wenn die Worte des Dies Irae – die dem Bildkonzept Michelangelos fraglos zugrunde lagen – wirklich auch von der Kirche gesprochen werden, dann ergibt ihre elende Darstellung noch mehr Sinn (man müsste dann freilich darüber hinwegsehen, dass der Autor des Dies Irae von sich immer nur in der Maskulin-Form spricht).

Was das atypische Gesicht Christi betrifft, so könnten die apollinischen Züge eine Analogie zwischen dem Judex mundi und dem Sol Iusitiae implizieren. Oder aber Christus erscheint als der Neue Adam, in Analogie zum Adam des Deckenfreskos.

Man kann hier noch viel spekulieren. Mal sehen, worauf wir bei längerem Nachdenken noch stossen. Das letzte Wort ist jedenfalls noch nicht gesprochen – und ich bin schon auf die Verdikte meiner Kunstgeschichtskollegen gespannt…)

Herzlich

Peter Stephan

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Lieber Herr Badde!

Dass die Zentralfigur des “Jüngsten Gerichts” in der Sixtina nicht Christus, sondern Apollo ist, ist zuerst verblüffend, bestätigt sich aber bei genauerem Hinschauen. Man sieht da wieder, wie sehr wir von unseren Erwartungshaltungen gesteuert sind und viel Anstrengung brauchen, sie zu durchbrechen, um die Realität in den Blick zu bekommen. Und Michelangelo ist nicht ganz unschuldig daran, wenn er seinem Apollo Andeutungen von Wundmalen gibt. Michelangelo war ein zu grosser Künstler, als dass er zufällig den Christus mit den Gesichtszügen Apollos bedacht hätte. An der Fülle der ausdrucksvollen, von höchster emotionaler Differenzierung zeugenden Vielfalt seiner Gesichter wird das deutlich. Mit diesem Ansatz bekommt aber das ganze zentrale Geschehen einen ganz neuen Sinn.

Der zum Schlag gegen die geduckte Frau ausholende Apoll schaut auf einen Knäuel von Leibern, die sich um sie scharen und sie schützen wollen. Betrachtet man genau die Richtung ihrer Blicke, so sind sie eindeutig auf Apoll gerichtet, nirgends auf die geduckte Frau, und oszillieren zwischen Entsetzen, Empörung und “Das kann doch nicht wahr sein!”.

Dann würde Michelangelo mit dem Bild nicht die sündige Kirche kritisieren sondern den Einbruch der Renaissance, der die Kirche bedroht. Symbol dafür ist Apollo. Und de facto ist sie bis heute davon bedroht, wenn die damit verbundene Naturwissenschaft, besonders in ihrer aggressiven Form der “Aufklärung”, ihre Grenzen nicht erkennt und sich an die Stelle der Kirche setzen will. Das wäre eine geradezu prophetische Schau des Weltgeschehens durch Michelangelo.

Petrus sagt dann Richtung Apollo: “Du führst dazu, dass die Kirche nicht mehr öffnen und schliessen kann, weil die Schlüssel nicht mehr ‘griffig’ sind!”

Bartholomäus, der für Christus seine Haut zu Markte getragen hat und Laurentius mit dem Rost über der Schulter, beide am untern Rand des Geschehens wenden sich ab. Sie haben ihr Leben doch nicht für diesen Apoll geopfert.

“Apollo” ist auch heute noch aggressiv, ja fast hat man den Eindruck, dass die Aggressivität wächst.

Lieber Herr Badde! Vielen Dank, dass Sie mir mit Ihren Bildern die Augen für diesen Blickwinkel geöffnet haben. Da haben wir wohl den richtigen Schlüssel zum Verständnis gefunden.

Beste Grüsse
 Ihr 
P. Franz Solan Nüsslein

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Darf ich Sie heute Pater Michelangelo nennen, lieber Pater Franz!

Das ist eine der kühnsten und plausibelsten Deutungen, die ich je dazu gehört und gelesen habe (was eine umso grössere Leistungen erscheint, da es bisher nullkommanichts zu diesem unglaublichen Bruch in der europäischen Bildgeschichte zu lesen kam – der dennoch auch irgendwie in Entsprechung zu der Frechheit Dürers steht, der sich im Jahr 1500 plötzlich selbst nach der Vorlage des bis dahin kanonischen “wahren” Christusbildes dargestellt hat. Also: der Mensch als Gott – und Christus als Apoll. Das passt doch.)

Bin gespannt, was unser kaum minder genialer Peter “Raffaele” Stephan dazu sagt.

Herzlich Ihr

Paul Badde

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Lieber Herr Badde,

grundsätzlich bin ich ja für radikale Neudeutungen sehr offen, sie bringen frischen Wind in oftmals verstaubte und eingefahrene Interpretationstraditionen. Doch kann ich die hier vorgetragene Deutung nur schwer nachvollziehen. Das Thema ist ganz eindeutig das Jüngste Gericht – das belegen sämtliche schriftlichen Quellen, das besagt auch die Ikonographie des Bildes eindeutig. Die Analogien zum Dies Irae und anderen Weltgerichtsdarstellungen habe ich ja herausgearbeitet.

Am Jüngsten Gericht ist aber die Herrschaft des Antichristen vorüber. Und ob Michelangelo, der sich ja ganz dem Geist der Renaissance und dem humanistischen Virtuosentum verspflichtet fühlte, seine eigene Kunst derart in Frage gestellt, ja als antichristlich herabgewürdigt hätte, wage ich doch zu bezweifeln. Noch undenkbarer aber ist, dass Paul III. das Erscheinen des Antichristen als Thema in seiner Palastkapelle zugelassen hätte. So pessimistisch war man am Vorabend des Trienter Konzils denn doch nicht.

Auch ergäben viele andere Bildmotive keinen Sinn. Warum etwa sollte Maria sich an die Seite des Antichristen schmiegen? Hat etwa der Antichrist die Bösen in die Hölle verdammt? Ich fürchte, dieser Deutungsansatz wirft mehr Fragen auf, als dass sie sie beantworten. Aber Fragen können ja durchaus anregend sein.

In diesem Sinne mit herzlichen Grüssen

Ihr Peter Stephan

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Das weiss ich ja alles, lieber Herr Stephan,

und diese Fragen, die Sie nun aufwerfen, wird Pater Franz wohl wieder besser beantworten können.

Viel irritierender bleibt für mich aber dennoch, dass Michelangelo hier zum dröhnenden Schweigen aller Kleriker und Kunsthistoriker im Zentrum dieses emblematischen Bildes der christlichen Neuzeit das bis dahin auch ihm wohl bekannte Gesicht Christi vollkommen eindeutig durch das Gesicht Apolls auswechselte. Und kein Pieps dazu, von keinem! Das würden wir doch mit keinem Familienfoto ohne Protest durchgehen lassen, wenn da unser Vater oder Grossvater plötzlich durch einen Fremden ausgewechselt würde!

Ich habe keine Antwort darauf. Es ist für mich ein Rätsel. Umso erfrischender finde ich deshalb, dass und wie Pater Franz hier plötzlich eine Deutung zumindest versucht.

Sehr von Herzen

Ihr

Paul Badde

dem heute Morgen diese Schriftauslegung Papst Gregors in diesem Zusammenhang besonders gut gefallen hat:

Kommentar zum heutigen Evangelium :

Hl. Gregor der Grosse (um 540 – 604), Papst und Kirchenlehrer
Predigten zum Evangelium, Nr. 14

“Ich gebe ihnen ewiges Leben”

Der Herr sagt: “Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen ewiges Leben“. Kurz vorher hat er in Bezug auf sie gesagt: “Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden“ (Joh 10,9). Er wird eintreten, wenn er gläubig wird; er wird vom Glauben zum Schauen kommen, von Angesicht zu Angesicht, vom Glauben zur Kontemplation; er wird Weide finden, wenn er zum ewigen Festmahl gelangt.

Die Schafe des guten Hirten finden also Weide, weil alle, die ihm mit einfältigem Herzen folgen, auf den immergrünen Weideplätzen Nahrung finden. Und was ist der Weideplatz der Schafe, wenn nicht die innerlichen Freuden eines ewig grünenden Paradieses? Denn die Weide der Erwählten ist das stets gegenwärtige Antlitz Gottes. Da man es unentwegt betrachtet, sättigt es uns ohne Ende mit einer Speise des Lebens.

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Lieber Herr Badde,

ja, das apollinische Gesicht ist befremdlich. Noch befremdlicher aber finde ich, dass Pius IV. weit mehr an der Nacktheit der Figuren Anstoss nahm. Der liess bekanntlich nicht nur die Tuchfetzen hinzufügen, sondern auch die heilige Katharina und das Gesicht des Simon Zelotes komplett ersetzen (unter Abschlagung der Originalsubstanz!). Und er kam nicht auf die Idee, dem Christus ein paar Barthaare wenigstens al secco hinzuzufügen!

Nicht weniger skandalös ist um diese Zeit, dass Gottvater als alter Mann abgebildet wird (schon in Raffaels Disputa, zeitgleich auch bei Dürer und dann 1512 gleichfalls von Michelangelo in der Sixtina). Denn Gott hat sich uns ja ausschliesslich im Antlitz Christi gezeigt weswegen er im MA immer so dargestellt wird.

Die ganze Epoche hat also etwas Problematisches. (Im Übrigen muss man auch in der Disputa schon sehr nach den Barthaaren Christi suchen. Das ist auch schon eine recht apollinische Gestalt).

Herzliche Grüsse

Ihr Peter Stephan

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Lieber Herr Badde!

Wie sie sehen, lässt mir die Angelegenheit keine Ruhe. Sie ist aber auch höchst interessant. Folgende ergänzende Gedanken zu “Tag des Angriffs” kamen mir in den Sinn:

Die Frauen, wohl Teil des damals weniger “gebildeten” Anteils in Europa, kriegen das Geschehen anscheinend gar nicht mit. Der Apostel Andreas gibt sich sichtlich Mühe, bei einer Frau das Ungeheuerliche “in den Blick” zu bringen. Es hat tatsächlich damals nur die akademisch gebildeten Schichten betroffen. Aber vielleicht ist auch damit gemeint, dass die Frauen in ihrer besonderen Sensibilität mehr oder weniger zum Ausdruck bringen: “den kannste vergessen, nimm den doch nicht so wichtig! Lass dich nicht reinlegen! Schau einfach weg!”

Wenn man will, kann man in den Haaren des Apoll Andeutungen für Hörner finden. Ob der Vater aller Lügen hier am Werk ist und sich als Heiland verkleidet? Die Verkleidung ist allerdings sehr durchsichtig. Und offensichtlich stiftet er Verwirrung. Kuehelt-Leddihn zeigt in seinem Aufsatz “Die Reformation” sehr deutlich auf, wie schon Luther gegen die Renaissance anging (s. Anhang). Das würde sogar mit der Bemerkung korrespondieren, dass Michelangelo ein Faible für die reformatorischen Gedanken hatte. Die Irritationen mit Galilei werfen ihre Schatten voraus und es wird einige Zeit dauern, bis die Grenzen zwischen den Bereichen einigermassen deutlich gezogen werden konnten, weil ja auch Missbrauch nach beiden Seiten bis heute (vgl. Darwinismus [Zufall] und Kreationismus [die Welt wurde in sechs Tagen geschaffen]) möglich ist. D.h. die Schlaghand Apollos ist immer noch erhoben und so wird es wohl bis zum Ende der Zeiten sein (vgl. Offenbarung des Johannes).

Erinnert werde ich auch an die Warnung Jesu vor falschen Messiassen (Mt 24,23-27): “Wenn dann jemand zu euch sagt: Seht, hier ist der Messias!, oder: Da ist er!, so glaubt es nicht! Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet auftreten, und sie werden grosse Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich, auch die Auserwählten irrezuführen. Denkt daran: Ich habe es euch vorausgesagt. Wenn sie also zu euch sagen: Seht, er ist draussen in der Wüste!, so geht nicht hinaus; und wenn sie sagen: Seht, er ist im Haus!, so glaubt es nicht. Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.”

Schon in Clemenswerth mit unserer schönen Barock-Kapelle habe ich mich immer wieder gefragt, wie denn seinerzeit die Aufträge an die Künstler vergeben wurden. Man hat doch sicherlich nicht nur auf eine Fläche gedeutet und gesagt: “Mach mal”. Ich habe verschiedene Kunsthistoriker, ja sogar Kardinal Brandmüller gefragt, aber sie konnten mir keine Antwort und keine Tips geben. Es wäre sicherlich ein ganz wichtiges Forschungsprojekt, die Art der Vergabe in der Barockzeit näher zu erkennen und eventuell Quellen aufzuspüren.

Nochmals herzlichen Dank an den “Vater der hl. Gesichter”, den Fachmann für feinste Unterscheidung.

Ihr

P. Franz Solan Nüsslein

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Lieber Herr Badde, lieber Herr Stephan!

Der gute Michelangelo hat mir mit seinem rätselhaften Gemälde in dieser Nacht die verrücktesten Träume beschert. Allerdings fand sich die Lösung leider nicht darunter.

Jedenfalls kommen mir folgende Fragen:


1. Was will er damit aussagen, dass man in den beiden Bögen am oberen Rand des Gemäldes sich um die Leidenswerkzeuge des Herrn rauft? Eine Gruppe hat offensichtlich die Dornenkrone erbeutet und flüchtet damit.


2. Ganz unten im Bild wird der Styx dargestellt, über den Charon ein überfülltes Boot zum Ufer des Hades(?) steuert und dabei mit seinem Ruder auf die Passagiere eindrischt. Ist doch kein Bild des Evangeliums und auch nicht des Gerichts sondern der tagtäglichen Wirklichkeit menschlicher Sterblichkeit.


3. Es ist schon ein merkwürdiger Weltenrichter, bei dessen Erscheinen sich das Gros der Gestalten um alles Mögliche kümmert, statt voll Ehrfurcht den Richterspruch zu erwarten.


4. Ausgerechnet die deutlich herausgearbeiteten Frauenfiguren schauen ostentativ weg; auch die “Maria” schmiegt sich nicht an, sondern rafft, sich abwendend, ihr Gewand zusammen. Dies scheint mir eher eine Schutzgeste.


5. Mir wird nicht ganz klar (ich habe nur das Bild aus dem Heft), ob die Figuren am linken Rand des Bildes, die sich über das nach vorn ragende Gesims beugen, die Gestalten darunter emporheben oder nach unten stossen. Am linken Bildrand scheint mir eher, dass man nach oben helfen will, am rechten in die Tiefe zu stossen.


6. Auffällig sind auch die vielen Doppelpaare, die sich gegenseitig helfen oder bekämpfen. Ich kann’s nicht genau erkennen. Auch sie scheinen mit anderem beschäftigt zu sein, als auf den Weltenrichter zu achten.

Mein vorläufiges Fazit: Die Wiederkunft des Herrn kann es nicht sein, allzu viele Einzelheiten widersprechen dem. Eher ist die Warnung des Herrn vor falschen Messias-Erscheinungen ins Bild gesetzt gemäss Mt. 24,23-27. Hier aber gehen so unglaublich viele ihren offenkundig ganz persönlichen Interessen nach, dass der endzeitliche Augenblick noch nicht gegeben sein kann. Wenn man die sieben Posaunen-Bläser unten in der Mitte berücksichtigt samt dem aufgeschlagenen Buch, dann kann es auch eine Szene aus der Apokalypse nach Johannes ein.

Natürlich bleibt meine Frage: Was wollte uns Michelangelo sagen? Was ist das Lösungswort dieses phänomenalen Vexierbildes? Wie waren die Vorgänge im Hintergrund und im Zusammenhang mit der Vergabe des Auftrags? Gibt es wirklich die Vorgabe des Themas mit dem Thema “Das Letzte Gericht”?

Lauter Puzzle-Teile, die ich nicht voreilig wegwerfen will. Vielleicht findet jemand diejenigen Stellen, wo das Aha-Erlebnis eintritt.


Da mir nicht ganz klar ist, ob Sie meine letzte E-Mail erhalten haben, füge ich sie nochmals sicherheitshalber an.

Lieber Herr Stephan,

ich glaube, da hilft jetzt nur eins und darum möchte ich Sie sehr gern einmal bitten. Planen Sie für das nächste Mal, wenn Sie nach Rom kommen, doch bitte unbedingt auch eine Reise nach Manoppello ein, wo ich Sie dann gern persönlich hin chauffieren möchte.

Denn gerade der Disputa-Jesus scheint mir noch sehr nah an diesem Original, dessen Kennzeichen unter anderem auch ein extrem schwacher und schütterer Bartwuchs ist. Im richtigen Licht könnte man jedes Haar einzeln zählen. Sehr schön kommt das z.B. auch noch bei da Messina zum Vorschein.

Also, bitte, für Ihre nächste Romreise bitte einen Tag mehr einplanen. Es wird Ihr Nachteil nicht sein.

Sehr von Herzen

Ihr

Paul Badde

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Lieber Herr Badde, ich danke schon jetzt sehr für die Einladung, der ich bei meinem nächsten Rombesuch gerne nachkommen werde.

Sehr herzlich

Ihr Peter Stephan

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Lieber Herr Badde!

Wie Sie sehen, lässt mir Michelangelo keine Ruhe. Ich schaue mir das Bild immer wieder an und frage mich, was er wohl sagen will.

Zwischendurch dachte ich einmal, ob es irgendeine Szene aus Dantes Göttlicher Komödie ist. Aber die kenne ich nicht richtig. Das “Dies irae” passt letztlich auch nicht in seiner positiv gestimmten Schlusssequenz:
 “Zum Gericht der Mensch voll Sünden;
 Lass ihn, Gott, Erbarmen finden.
 Milder Jesus, Herrscher Du,
 Schenk den Toten ew’ge Ruh. Amen.”

Auffällig ist, wie die Gruppe um die geduckte Frau eine Art Festung bildet. Vielleicht sollte der damalige Vatikan-Betrieb ermahnt werden. Ähnlich wie heute, gibt es Seilschaften, die sich nach oben lavieren (linke Seite von Betrachter aus) und wütende Konkurrenzkämpfe mit dem Versuch, den Konkurrenten abzuschmettern (rechte Seite). Vatileaks ist dann nur der Schaum davon. Allein die pusillus grex ist es, die das Eigentliche der Kirche behütet, drum herum eine ziemlich ratlose Menge. Der apollinische Schönling wäre dann Hinweis, dass man in vorchristlichen Verhältnissen landet, wenn man sich nicht bekehrt. Und diese Verhältnisse sind sehr aggressiv und mitleidslos. Man bedenke nur die Äusserung von EB Piero Marini (kath.net).

Herzliche Grüsse


Ihr
P. Franz Solan Nüsslein

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Lieber Pater Franz,

ja, dieses Bild kann einem keine Ruhe lassen, wenn man sich einmal dahin versenkt hat. Ähnlich wie der kongeniale “Tag des Zorns” von Peter Stephan, der mir in seiner Deutung in sich so stimmig und kohärent erscheint wie nichts, was ich bisher dazu gehört oder gelesen habe.

Um so rätselhafter bleibt deshalb für mich eben wirklich auch das zentrale Motiv: das Gesicht Christi, das hier durch das Gesicht des Appolls ausgewechselt wurde. Und was mir jetzt eben auch erst auffällt, ist dies: dass bei den “arma Christi”, die oben von Engeln in die Höhe getragen werden, nirgends das “Sudarium Christi” auftaucht, das in dieser Sammlung meist ganz zentral erscheint (bis hin zu der Bernini-Komposition auf der Engelsbrücke).

Sehr gespannt sehe ich deshalb dem Tag entgegen, an dem ich mit Peter Stephan einmal nach Manoppello vor die wahre Ikone hintreten kann.

Sehr von Herzen Ihr

Paul Badde

PS: Und Marini? Er personifiziert wie kaum ein anderer die wirkliche Schwäche Benedikts. Er hat ALL seine Feinde – aus Mitleid und Erbarmen – an seinem Hof belassen. Die haben jetzt ALLE wieder Oberwasser. Hoffentlich wird Papa Franz ihrer endlich Herr werden.

—–

Lieber Pater Nüsslein, lieber Herr Badde,

zu den letzten Interpretationsansätzen, die in unserer Dreier-Kommission erörtert wurden:

Es ist generell immer faszinierend, Bilder gegen den Strich zu bürsten, das kann sehr produktiv sein. Im Fall des Jüngsten Gerichts würde ich generell Folgendes anmerken:

Das Thema, das Michelangelo vorgegeben wurde, war natürlich, ich betone es nochmals, das Jüngste Gericht. Das sagen die Quellen ganz eindeutig, auch die, die Michelangelos Bild unmittelbar nach seiner Entstehung kommentieren. Bis auf das Antlitz Christi entspricht die Darstellung dem ikonographischen Apparat des Jüngsten Tags auch weitgehend (Posaunen, Schuldbuch, Erlöste, Verdammte, Maria, der Täufer, die Apostel, die arma Christi (in der Regel übrigens immer ohne Schweisstuch) usw.). Es ist nur alles irgendwie durcheinander gebracht.

Dass Christus apollinische Züge trägt, ist eine Eigenmächtigkeit Michelangelos, die sich in der Tat nur schwer erklären lässt. Sie ist wohl auch durch frühchristliche Christusdarstellungen (Pastor Bonus, Junius-Bassus-Sarkophag) inspiriert. Hier mal eine kühne These: Michelangelo stilisierte sich zeitlebens – durchaus nicht demütig – als ein Il Divo, als ein Il Terribile und als ein artifex divinus, der, indem er die Natur perfekt wiedergibt, zu einem irdischen Pendant des Schöpfergottes, des Deus artifex, wird. Dass sein Jüngstes Gericht auch ein riesiges Aktstudium ist, mit dem der Künstler zeigt, dass er die menschliche Anatomie in allen Proportionen, perspektivischen Verkürzungen und Positionen perfekt wiedergeben kann und auch die gesamte Facette der Emotionen und Affekte beherrscht, haben schon die Zeitgenossen (Ascanio Condivi, Giorgio Vasari) gerühmt. Der Künstler schafft die Schöpfung nach, er kann sogar die Schrecklichkeit des Jüngsten Tages darstellen. Und natürlich kann Michelangelo nach seinem Selbstverständnis nach auch die Schöpfungsgeschichte nacherzählen und so den göttlichen Schöpfungsakt wiederholen.

Schon das Grabdistichon, das der Humanist Bembo auf Raffael verfasste, besagt, dass Raffael die Natur so vollkommen wiedergegeben habe, dass sie zu seinen Lebzeiten fürchtete, von ihm übertroffen zu werden und nun, da er tot sei, fürchten müsse, mit ihm zu sterben.

Wenn Gott also der grosse Schöpfer ist und der Renaissance-Künstler sein Ebenbild, so liegt die Versuchung nahe, dass der Künstler sich selbst auf Christus reprojiziert. Apoll ist der Vater der Musen, der Patron der Künste. Michelangelo gibt ihm die Züge des Herrn der Künste und betont auf diese Weise die Analogie zwischen artifex divinus und Deus artifex. Immerhin erschafft Christus am Jüngsten Tag die Welt neu. Neben den ersten Schöpfungsakt an der Decke tritt der zweite, endgültige Schöpfungsakt.

Das ist natürlich alles extrem vermessen, aber dass Michelangelo wirklich so dachte, zeigt sich vielleicht auch an der Gestaltung der männlichen Körper. Wie die Jünglinge an der Decke folgen sie seinem künstlerischen Schönheitsideal.

Kein Wunder, dass das Konzil von Trient dann von solch selbstherrlichem Virtuosentum nichts mehr wissen wollte und Carl Borromaeus ein ganz anderes Ideal, nämlich das einer dienenden Kunst, vertrat. Kein Wunder aber auch, dass das säkulare Bildungsbürgertum genau diese Kunst so geschätzt hat. Michelangelo steht für die Entsakralisierung des Gottesbildes bzw. für ein Gottesbild, das nicht mehr nach theologischen, sondern nach ästhetisch-philosophischen Kriterien gestaltet ist.

Allerdings glaube ich, dass Michelangelo sich der Folgen und Tragweite seiner Vermessenheit nicht wirklich bewusst war.

Was Marini d. Ä. und Konsorten betrifft: Im Moseszyklus an den Längsseiten der Sixtina gibt es den Sturz der Rotte Korah, also jener Ungetreuen, die Moses (und Gott) den Gehorsam verweigert haben – damals wohl eine Warnung jene Kardinäle und Kurialen, die dem Papst als einem alter Moses nicht gehorchen. Diese Rotte Korah sollte auch heute aus dem Vatikan entfernt werden. In diesem Punkt war Benedikt XVI. wohl tatsächlich zu milde und zu gütig.

Herzliche Grüsse

Peter Stephan

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Vielen Dank, lieber Herr Stephan,

da bin ich wieder ganz bei Ihnen – und bei Carlo Borromeo sowieso, seit langem schon, der mir überall angenehm in dieser Zeit auffällt, wo es kritisch wird.

Sehr von Herzen, im Abflug nach Jerusalem

Ihr

Paul Badde

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