“Eugenik steht im Mittelpunkt”

Gesellschaftliche Folgen genetischer Diagnostik

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Stellungnahme des Ethikrates löst Debatte über gesellschaftliche Folgen genetischer Diagnostik aus.

Von Stefan Rehder und Markus Reder

Berlin/Augsburg/Münster/Köln, Die Tagespost. 30. April 2013

Die vom Deutschen Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung erarbeitete Stellungnahme “Die Zukunft der genetischen Diagnostik – von der Forschung zur klinischen Anwendung” hat in Kirchenkreisen und bei Lebensrechtlern für Besorgnis und Kritik gesorgt.

Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, Mitglied des Deutschen Ethikrates, nannte gegenüber dieser Zeitung die Stellungnahme des Ethikrates zur Zukunft der genetischen Diagnostik “eines der Dokumente, die von nachhaltigstem Einfluss auf das Leben und die Zukunft der Gesellschaft sein werden”. Die Entwicklung auf dem Gebiet der Gendiagnostik sei rasant. Damit verbunden seien einerseits grosse Hoffnungen auf Heilung durch medizinischen Fortschritt. Andererseits werfe der Fortschritt immer neue ethische Fragen und Probleme auf. “Die Antworten darauf entscheiden über die Humanität der Gesellschaft, in der wir morgen leben”, hob Losinger hervor. Auch finanzielle Interessen, die mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn verbunden seien, dürften nicht ausser acht gelassen werden, sagte der Weihbischof. “Das ist ein riesiger Markt.“ Die Ambivalenz der Entwicklung müsse gesehen und Probleme deutlich benannt werden. Daher hätten sich die Vertreter der katholischen Kirche im Ethikrat mit einem Sondervotum zu Wort gemeldet. Zu den Problemfeldern bei der Gendiagnostik zählen laut Losinger unter anderem die Frage der Treffsicherheit von Untersuchungen oder die Frage, wie man mit Ergebnissen umgehe, die man aufgrund ihrer hohen Komplexität gegenwärtig gar nicht deuten könne. Auch die Interpretation des genetischen Datenmaterials sei von grosser Bedeutung. Mit Blick auf den PraenaTest sprach der Weihbischof von einem “klassischen Wertungswiderspruch“. “Einerseits will sich die Gesellschaft ein humanes Antlitz bewahren. Der Ruf nach Inklusion von Behinderten wird immer lauter.“ Andererseits werde nach vorgeburtlichem Test behindertes Leben verworfen. Das sei inakzeptabel. Mit dem PraenaTest erhöhe sich zugleich der soziale Druck auf Mütter von behinderten Kindern.

In dem zweiten Sondervotum des Ethikrates werde allerdings deutlich, dass es auch “Stimmen gibt, die eine deutlich liberale Nutzung der genetischen Diagnostik fordern“, sagte Losinger. In diesem Sondervotum sei fälschlich von einem “Recht auf Abtreibung“ die Rede. Dies zeige: “Wer die gesetzliche Regelung der Abtreibung für ein Recht auf Abtreibung hält, ist der Problematik enthoben, über genetische Testverfahren mit Blick auf das Überleben von Kindern mit Behinderung nachdenken zu müssen.”

Die “Aktion Lebensrecht für Alle” (ALfA) e.V. wandte sich nach der Vorstellung der Stellungnahme des Ethikrates mit einem Appell an den Deutschen Bundestag. Bei der “nun absehbaren Novellierung des Gendiagnostikgesetzes“ sollten in Deutschland “künftig nur noch solche Gentests“ zugelassen werden, “bei denen nach Krankheiten gefahndet wird, für die es auch eine Therapie gibt“. Wie die ALfA-Bundesvorsitzende Claudia Kaminski weiter erklärte, lege der “erste Teil der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates eindrucksvoll dar, wie gering bei allen vorhandenen und in der Entwicklung befindlichen genetischen Diagnoseverfahren die Aussichten auf eine über jeden Zweifel erhabene Diagnose sind und wie hoch stattdessen die Gefahr falsch positiver und falsch negativer Ergebnisse ist“. Leider zögen jedoch nur die Unterzeichner des Sondervotums 1 daraus die notwendigen Konsequenzen.

“Auf das Schärfste“ verwahrt sich Kaminski gegen die im Sondervotum 2 niedergelegte Behauptung, es gäbe “ein gesellschaftlich breit akzeptiertes Recht des Schwangerschaftsabbruchs“.

Die Ärztin nannte es “äusserst befremdlich, dass ausgerechnet Experten, die Bundesregierung und Bundestag in bioethischen Fragen beraten sollen, in Erinnerung gerufen werden muss, dass vorgeburtliche Kindstötungen in Deutschland wegen der besonderen Situation, in der sich Schwangere befinden, ‘straffrei‘ erfolgen können, wenn sich die Schwangere zuvor hat beraten lassen, jedoch keine rechtmässigen Formen der Geburtenregelung darstellen. Sie stehen – auch wenn der Gesetzgeber in vielen Fällen von einer strafbewehrten Ahndung absieht – vielmehr in einem krassen Widerspruch zu dem im Grundgesetz verbürgten Recht auf Leben.“ “Eltern, die Kinder erwarten, die Gefahr laufen, mit einer genetisch bedingten Krankheit geboren zu werden, benötigen alle Unterstützung, die ihnen die Solidargemeinschaft bieten kann. Es würde von einem hohen Mass an Inhumanität und Primitivität zeugen, wenn der Staat ihnen solche Hilfen versagen wollte und ihnen stattdessen ein ‘gutes Gewissen‘ zu machen sucht, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheiden“, so Kaminski weiter.

Die Bundesvorsitzende der “Christdemokraten für das Leben“ (CDL) e.V., Mechthild Löhr, sagte gegenüber der “Tagespost“ die Stellungnahme des Ethikrates zur Zukunft der genetischen Diagnostik biete “eine bemerkenswert breite Analyse und Zusammenfassung der dramatischen Entwicklungen in der Biomedizin“. “Auch wenn kein einziges Mal der Begriff Eugenik fällt“, stehe “jedoch genau dies im Mittelpunkt: alle Gendiagnostik mündet unweigerlich in eine positive oder negative Bewertung von Erbanlagen, sei es bei ungeborenen oder geborenen Menschen, und macht ihre Ergebnisse für Dritte verfügbar und manipulierbar“, so Löhr.

“Zu Recht“ werde in der Stellungnahme “davor gewarnt, dass die neue Gendiagnostik, die inzwischen für wenige tausend Euro bereits die Analyse des kompletten Genoms eines Menschen ermöglicht, das Verhältnis und das Zusammenleben der Menschen tief gehend verändern wird.“ Dies treffe zukünftig Ungeborene wie Geborene gleichermassen: “Die genetische Analyse wird mit all ihren Unsicherheiten zur dokumentierten gesundheitlichen Risiko-Prognose für den Einzelnen“, so Löhr. Der Embryo werde “zum Produkt, das nach den Kategorien krank oder risikobehaftet selektiert werden darf. Aber auch die bereits Geborenen werden zu möglichen und tatsächlichen Prognoseopfern einer Gendiagnostik, die kaum noch allgemeine ethische Limitierungen akzeptieren wird, weil sie der Autonomie des Einzelnen widersprechen.“ Die Autonomie der Mutter, der Eltern, des Patienten, werde zum Massstab für die Zuteilung von Lebenschancen: Die Gendiagnostik ermögliche dies durch Risikoprofile aufgrund immer genauerer Einzelanalysen und aufgrund von statistischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen.

“Besonders deutlich wird die neuere Entwicklung auch am Beispiel des jüngst zugelassenen Praenatests, der Embryonen ab der 10./11. Woche ziemlich sicher auf Trisomie 13, 18 und 21 testet.“ Nüchtern analysiere die Stellungnahme, dass durch medizinische Indikation Abtreibung ohnehin bis vor der Geburt straffrei möglich ist.

Dies ist sei jedoch erst der Anfang: “Die nichtinvasiven Bluttest-Methoden lassen sich ohne Risiko für die Mütter oder jeden Bürger auf generell alle genetischen Dispositionen ausweiten. Auch individuelle Krankheitsrisiken bereits Geborener können heute ohne Kontrolle als Direct-to-Customer- Leistung angeboten, verkauft und gespeichert werden.“ Eine Blutprobe genüge, die Rechnerkapazitäten ermöglichten bald das Genscreening breiter Bevölkerungsgruppen, sei es zu Studienzwecken oder zur individuellen oder staatlichen Gesundheitsplanung“, so Löhr. Die CDL-Bundesvorsitzende kritisierte, dass in der Stellungnahme “leider nur vage angerissen“ werde, “was dies alles für die einzelnen Personen, für die zukünftigen Eltern, für Familien und für das Gesundheitssystem und den Staat bedeutet“. Immerhin sei “zwischen den Zeilen eine wachsende Skepsis spürbar, ob Fortschritt und Ethik hier noch miteinander Schritt halten können“.

Auf hohem, abstrakten Niveau könnten die vom Ethikrat gut geschilderten Herausforderungen noch vertretbar erscheinen, “in der Praxis aber ist die Selektion von Menschen inzwischen in den Laboren und Praxen längst eingeübt.“ Leider hätte sich in der Vergangenheit gerade der Ethikrat positiv zur Akzeptanz von PID und Abtreibung geäussert. “Dies klingt auch hier wieder klar durch“, so Löhr.

Am Dienstagnachmittag hatten die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen und der Sprecher der Arbeitsgruppe Gendiagnostik, der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, Wolf-Michael Cantenhusen (SPD), im Beisein der Bundesministerin für Bildung und Forschung Johanna Wanka (CDU) und dem Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit Thomas Ilka die 195 Seiten umfassende Stellungnahme im Haus der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Stellungnahme enthält ein Haupt- und zwei Sondervoten. Das Hauptvotum enthält 23 Empfehlungen zur allgemeinen Gendiagnostik sowie neun zur pränatalen Diagnostik. Während den vier Unterzeichnern des Sondervotums 1 – darunter der Augsburger Weihbischof Anton Losinger und der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff – letztere zu weit gehen, sind sie den acht Unterzeichnern des Sondervotums 2 zu restriktiv: “Wir sind der Auffassung, dass einige der Empfehlungen zur Präntaldiagnostik im Hauptvotum des Ethikrates zu sehr darauf ausgerichtet sind, der Schwangeren den Zugang zu wichtigen Informationen zu erschweren, die sie als unentbehrlich ansieht. Zugleich würde mit diesen Empfehlungen, sofern der Gesetzgeber ihnen nachkäme, das gesellschaftlich breit akzeptierte Recht des Schwangerschaftsabbruchs verschärft.“

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