Der Papst geht, aber sein Werk bleibt

Papst Benedikt XVI. war doch so leise gekommen, dieser einfache Arbeiter im Weinberg des Herrn

Nun geht er mit einem Donnerschlag. – Von Peter Seewald (Focus)

Vatikan, kath.net/Focus, 20. Februr 2013

Das Unfassbare, das Unmögliche, das nahezu Verbotene ist geschehen. Und selbst wenn man es kommen sah, traf es einen wie ein Schock. Der Papst lebt, aber er sitzt nicht mehr auf dem Stuhl Petri. Er war so leise gekommen, dieser einfache Arbeiter im Weinberg des Herrn, als den er sich vorstellte. Nun geht er mit einem Donnerschlag.

Noch immer können die Folgen dieses historischen Aktes nicht ganz ausgelotet werden. Wird es bald Altpapst und Neupapst geben, die sich beim Spaziergang über Bischöfe austauschen? Wird künftig sofort nach Rücktritt verlangt, sobald ein Pontifex nicht genehm ist?

Viele wollten ihn sterben sehen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Andere beklagen, nun sei auch noch der letzte Fixpunkt verschwunden, das nur von Gott festzulegende Ende eines Pontifikates. Dass jemanden nach einem gewaltigen Lebenswerk, nach dem aufreibenden Dienst in einem unvergleichlichen Amt mit beinahe 86 Jahren die Kräfte verlassen, ist freilich nicht ganz unnatürlich.

Galt es nicht auch zu verhindern, dass Unbefugte in ein Vakuum vordringen, wenn die Kräfte des ersten Hirten nicht mehr ausreichen?
Dass Benedikt XVI. nicht durch eigenes öffentliches Leiden die Passion seines Vorgängers beschädigen wollte, darf als gesichert angenommen werden. Und wer Joseph Ratzinger kennt, weiss, dass er sehr wohl dazu fähig ist, einsame Entscheidungen zu treffen – aber nichts tut, ohne sie gründlich auszuloten. Nicht zuletzt im Hinhören auf das Wort des Herrn, der dann auch abberufen kann, wenn dies scheinbar vor der Zeit ist. Der Mystiker Wojtyla hat am Ende die Welt beeindruckt mit einer unfassbaren Leidensbereitschaft. Der Vernunftmensch Ratzinger tut es, indem er sehr modern auf Macht verzichtet. Schwer ist beides. Mit der Welle an Respekt und Sympathie jedoch, die damit in Bewegung kam, gibt es bei beiden die Chance, die verzerrten Bilder endlich aufzulösen, den Blick frei zu bekommen für das, was der Papst Kirche und Welt zu sagen hat.

Unsere letzte Begegnung liegt gut zehn Wochen zurück. Benedikt XVI. hatte mich im Apostolischen Palast empfangen, um unserer Gespräche für die Arbeit an seiner Biografie fortzusetzen. Sein Gehör hatte nachgelassen. Das linke Auge sah nicht mehr. Der Körper war abgemagert, so dass die Schneider Mühe hatten, mit neu angemessenen Gewändern nachzukommen. Er war so weich geworden, noch liebenswürdiger, und noch demütiger, ganz zurückgenommen. Er wirkte nicht krank, aber die Müdigkeit, die die ganze Person erfasst hatte, Körper und Seele, war nicht mehr zu übersehen.

Wir sprachen über seine Desertation aus Hitlers Wehrmacht; das Verhältnis zu den Eltern; die Schallplatten, mit denen er sich Fremdsprachen beibrachte; die prägenden Jahre auf dem “Mons doctus”, dem Gelehrtenberg von Freising, wo die geistliche Elite des Landes seit tausend Jahren in die Geheimnisse des Glaubens eingeführt wurde. Er hatte hier vor Schulkindern seine allerersten Predigten gehalten, stand Studenten als Pfarrer bei und hörte sich bei klirrender Kälte im Beichtstuhl des Domes an, was die Leute auf der Seele drückte.

Im August, bei einem eineinhalbstündigen Gespräch in Castel Gandolfo, hatte ich ihn gefragt, wie schwer ihn die Vatileaks-Affaire getroffen habe. Es wäre “nicht so, dass ich irgendwie in eine Art Verzweiflung oder Weltschmerz verfallen würde”, meinte er, “es ist mir einfach unverständlich. Auch wenn ich die Person ansehe, kann ich nicht verstehen, was man sich davon versprechen kann. Ich kann in diese Psychologie nicht eindringen.” Der Vorfall jedoch habe ihn nicht aus der Bahn geworfen, “denn ich meine, das kann ja immer passieren”. Wichtig sei ihm, dass bei der Aufarbeitung des Falles “im Vatikan die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt wird, dass nicht der Monarch sagt, jetzt nimm ich es aber in die Hand.”

Nie zuvor hatte ich ihn so erschöpft gesehen, so niedergeschlagen. Mit letzter Kraft hatte er den dritten Band seines Jesus-Werkes zu Ende gebracht, “mein letztes Buch”, wie er mit traurigem Blick bei der Begrüssung sagte. Joseph Ratzinger ist ein Stehauf-Mann. Jemand, der sich ungeheuer schnell regenerieren konnte. Noch zwei Jahre zuvor wirkte er trotz erster Altersbeschwerden fast jugendlich agil. Nun empfand er jede neue Aktenmappe, die aus dem Staatssekretariat auf seinem Schreibtisch landete, wie einen Anschlag.
“Was ist von Ihnen, von Ihrem Pontifikat noch zu erwarten?”, hatte ich gefragt.
“Von mir?”, kam die Antwort, “von mir nicht mehr viel. Ich bin doch ein alter Mann und die Kraft, die hört auf. Ich denke, das reicht auch, was ich gemacht habe.”
“Denken Sie an Rücktritt?”
“Das hängt davon ab, wie weit meine physischen Kräfte mich dazu nötigen werden.”

Im gleichen Monat schrieb er einem seiner Doktoranden, dass das kommende Schülertreffen wohl das letzte sein werde.

Es war ein Regentag in Rom, November 1992, als wir uns im Palazzo der Glaubenskongregation erstmals begegneten. Der Händedruck war nicht so, dass man davon gebrochene Finger hatte, die Stimme für einen “Panzerkardinal” ziemlich untypisch, ausgesprochen weich, zart. Mir gefiel, wie er über kleine, aber vor allem auch die grossen Fragen sprach. Wenn er etwa unseren Fortschrittsbegriff in Frage stellte und zur Überlegung gab, ob man denn das Glück der Menschen wirklich am Bruttosozialprodukt messen könne.

Die Jahre hatten ihm zugesetzt. Er wurde als Verfolger dargestellt, und war doch selbst ein Verfolgter, der willkommene Buhmann für alle Unbill, der “Grossinquisitor” schlechthin, eine Bezeichnung, die so zutreffend war, als würde man eine Katze als Grizzlybären verkaufen.

Aber niemand hörte ihn jemals klagen. Niemand hörte von ihm je ein schlechtes Wort oder gar eine üble Nachrede über andere Menschen, noch nicht einmal über Hans Küng.

Vier Jahre später sassen wir viele Tage zusammen, um für ein Buchprojekt über den Glauben, die Kirche, den Zölibat und über Einschlafprobleme zu reden. Mein Gesprächspartner schritt nicht im Zimmer umher, wie es Professoren üblicherweise tun. Da war nicht die geringste Spur von Eitelkeit oder gar einer selbstgerechten Hybris. Mir imponierten seine Souveränität, die unzeitgemässen Gedanken, und ich war einigermassen überrascht, aus dem grossen Schatz der Offenbarung heraus, aus der Inspiration der Kirchenväter und aus der Reflektion jenes Glaubenshüters, der mir gegenüber sass, treffende Antworten zu hören auf Probleme unserer Zeit, die fast unlösbar schienen. Ein radikaler Denker, so war mein Eindruck, und ein radikal Glaubender, der in der Radikalität seines Glaubens aber nicht zum Schwert greift, sondern zu einer weit stärkeren Waffe, der Kraft von Demut, Einfachheit und Liebe.

Joseph Ratzinger ist ein Mann der Paradoxe. Leise Sprache, laute Stimme. Weich und hart. In grossen Dimensionen denken, und dennoch das Detail achten. Er verkörpert eine neue Intelligenz im Erkennen und Aussagen der Geheimnisse des Glaubens, ist ein Meister der Theologie – und verteidigt zugleich den Glauben des einfachen Volkes gegen die Religion der Professoren, die so kalt ist wie alte Asche. In der Balance der scheinbaren Gegensätze ist alles austariert, alles mittig. Nicht im Sinne von mittelmässig, sondern von Gleichmass, seine Mitte gefunden zu haben – ohne die Leidenschaft zu verlieren für die Entschiedenheit des Fragens und die Suche nach Wahrheit. Semper idem, immer derselbe, wie Cicero den Gleichmut des Sokrates nannte.

Und wie er selbst austariert ist, so lehrte er auch. Mit der ihm eigenen Leichtigkeit, seiner Eleganz, seiner Eindringlichkeit, die das Schwere leicht macht, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen oder das Heilige zu bagatellisieren. Ein Denker und Beter zugleich, für den die Mysterien Christi die entscheidende Realität der Weltschöpfung und der Weltgeschichte darstellen, ein Menschenliebhaber, der auf die Frage, wie viele Wege es zu Gott gibt, nicht lange überlegen musste, um zu antworten: “So viele, wie es Menschen gibt.”

Seine Predigt war die Abkehr von Macht, vom Mammon, von der Kumpanei, vom falschen Schein, von Betrug und Selbstbetrug. Von Regeneration durch eine innere Reinigung. Für Joseph Ratzinger ist typisch, dass er nie ideologisch argumentierte oder einen polemischen Stil pflegte. Dass er mit Andersdenkenden keine Mühe hatte, liegt nicht zuletzt daran, dass er selbst ein kontroverser Denker ist, ein Unangepasster, ein Unbequemer, der auch zur Kirchenbürokratie stets angemessen Distanz hielt; dessen Freunde und Gesprächspartner immer auch Menschen waren, die quer zum Establishment standen. Etwa ein Hubert Jedin, Konzilshistoriker mit jüdischen Wurzeln, der in der Nazizeit im Vatikanstaat Schutz gefunden hatte. Ein Heinrich Schlier, Mitglied der bekennenden Kirche, dem die Nazis den Lehrstuhl entzogen. Ein Henry de Lubac, den die katholische Obrigkeit mit Lehrverbot belegt hatte. Ein Hans Urs von Balthasar, der nicht zum Konzil eingeladen worden war. Ein Paul Hacker, Indologe und kritischer Konvertit, mit dem er so häufig telefonierte, dass Hacker zuhause klagte, er könne die Telefonrechnung nicht mehr bezahlen.

Er ist der kleine Papst, der mit dem Bleistift grosse Werke schrieb. Keiner vor ihm hat in seiner Amtszeit dem Volk Gottes ein so gewaltiges Jesus-Werk hinterlassen, noch überhaupt eine Christologie verfasst, als dieser mit seinen Millionenauflagen erfolgreichste deutsche Theologe aller Zeiten, der letzte, der noch ganz dem einmal berühmten Typus des deutschen Genius entspricht. Und wenn an einem Donnerstag ein Vaticanista verkündete, niemand würde sich mehr für den alten Mann in Rom interessieren, stand derselbe am Montag mit einem neuen Titel auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.

Er sei die falsche Wahl gewesen, sagen Kritiker. Die Wahrheit ist, dass es gar keine andere Wahl gab. Ratzinger pflegte nie eine Hausmacht. Dem Intrigenspiel im Vatikan entzog er sich. Er lebte seit jeher in der Bescheidenheit eines Mönches, dem Luxus fremd und ein Ambiente, das über das Nötigste an Komfort hinaus geht, völlig gleichgültig ist. Und kaum je zuvor waren sich die Kardinäle aller Kontinente so einig darüber, in diesem grossen Theologen und Denker auch die absolut integre Persönlichkeit gekürt zu haben, die wie niemand sonst aus den beiden Milleniums-Pontifikaten das Fundament für die Zukunft bauen konnte. Alleine es geschafft zu haben, nach einem Mann wie Wojtyla ohne jeden Bruch in ein neues Pontifikat überzuleiten, gilt im weltweiten Bischofskollegium als unüberbietbare Leistung.

Aber bleiben wir bei den vermeintlich kleinen Dingen, die oft aussagekräftiger sind als grosse Deklarationen, Kongresse und Programme. Mir gefiel sein Pontifex-Style. Dass er als seine erste Amtshandlung einen Brief an die jüdische Gemeinde schrieb. Dass er die Tiara aus dem Wappen nahm, Symbol auch für die weltliche Macht der Kirche. Dass er bei den Bischofs-Synoden Gäste anderer Religionen um einen Vortrag bat, auch dies ein Novum.

Mit Benedikt nahm der Mann an der Spitze erstmals selbst an der Diskussion teil und sprach nicht von oben herab, sondern führte jene Kollegialität ein, für die er auf dem Konzil gekämpft hatte. Korrigiert mich, erklärte er, als er sein Jesus-Buch vorstellte, das er nicht als Dogma verkünden oder mit höchster Autorität versiegeln wollte. Dass er den Handkuss abschaffte, war wohl am schwersten durchzusetzen. “Ach”, nahm er einen ehemaligen Schüler beim Arm, als der sich mit einer Beuge dem Fischerring näherte, “bleiben wir doch normal.”

So viele Prämieren: Erstmals besuchte mit Benedikt ein Papst eine deutsche Synagoge (und besuchte anschliessend mehr Synagogen weltweit als alle Päpste vor ihm zusammengenommen). Erstmals sprach ein Papst in einer Moschee. Erstmals nahm einer an einem protestantischen Gottesdienst teil. Ein historischer Akt ohnegleichen, dass mit ihm ein Papst an die Wirkstätte Luthers kam (und von Luthers ungezogenen Kindern angeraunzt wurde, weil er keine “Geschenke” mitgebracht habe). Ratzinger ist ein Mann der Tradition, er setzt gerne auf Bewährtes, aber er unterscheidet, ob etwas wirklich auf Ewigkeit Bestand hat, oder nur für jene Epoche, aus der es entstanden ist. Wenn es sein muss, holt er, wie im Falle der tridentinischen Messe, old fashion zum Neuen hinzu, weil beides zusammen den liturgischen Raum nicht kleiner macht, sondern ihn erweitert. Und wenn sein Sekretär in der Wohnung über ihm Rockmusik hörte, mag er das vielleicht nicht genossen haben, er selbst aber konnte den traditionellen Camauro genauso tragen wie eine Baseballmütze.

Benedikt war kein Managertyp, aber dass er nicht regiert habe, ist ein Märchen (seltsamerweise hat man hat ihm vorgehalten, eine zentralistische Machtpolitik zu betreiben – und gleichzeitig, dass er die Zügel schleifen lasse). Hat er nicht der Unsitte, mit dem Obstteller auch ein Kuvert mit Banknoten zu überreichen, schnell den Riegel vorgeschoben? Stattdessen liess er die Spenden akkurat notieren, schickte Millionen für die Aidshilfe nach Afrika, und machte daraus kein Aufhebens. Hat er nicht auch konsequent die Reorganisation der Vatikanbank IOR in Angriff genommen? Deren Präsident Ettore Tedeschi wurde in die Wüste geschickt, nicht weil er etwas aufgedeckt hätte, sondern weil er den Umbau nicht entschieden vorantrieb. Und wenn der Papst einen Aufklärer wie den international renommierten Bankexperten René Brüllhart anstellt, um auch noch den verschlungensten Wegen von möglichen Geldwäschern auf die Schliche zu kommen, unterstreicht das seine Konsequenz.

Richtig ist, dass er Privataudienzen von Politikern drastisch reduzierte und sich lieber Zeit für tausende von Einzelgespräche mit seinen Bischöfen und Priestern nahm. Er hat nicht alles richtig gemacht, aber die Fehler gestand er ein, auch solche (wie den Williamson-Skandal), für die er nichts konnte. Unter keinem Versagen litt er mehr, als unter dem seiner Priester, auch wenn er bereits als Präfekt die Massnahmen einleitete, dass die schrecklichen Missbrauchsfälle aufgedeckt, die Täter bestraft wurden. Noch vor einem Monat liess er einen US-amerikanischen Kardinal degradieren, auch dies ein Novum, weil der sich der Aufklärungsarbeit verweigert hatte.

Das alles wird man vermissen: Sein schüchternes Lächeln, seine oft ein wenig linkischen Bewegungen, wenn er über ein Podium schritt. Seine klugen Reden, die einen den Verstand kühlen und das Herz wärmen konnten. Vor allem seine Bereitschaft zum Zuhören, bei der ihn niemand übertreffen konnte.

Was für ein Bild, als beim Besuch Benedikts in Kuba der ehemalige Jesuitenschüler Fidel Castro sich ein wenig verstohlen an den Pontifex heranwagte, ob er ihm denn nicht einige Bücher schicken könnte, zur geistlichen Erneuerung. Der Capitano der Katholiken hat’s bestimmt getan, Gott zum Grusse, dem alten Revolutionär zum Heil. Der Papst als Problem? Der Papst als Lösung!

Es hat sich in deutschen Intelligenzblättern die Mode breitgemacht, unseren Mann in Rom als Feind zu betrachten. Kluges, Abwägendes, Wahres war da kaum noch zu lesen. So wurde Papst Ratzinger wie zu einem Spiegel, in dem nicht er selbst, sondern das hässliche Gesicht deutscher Medien deutlich wurde. “Was macht ihr mit unserem Papst!”, empörten sich polnische Priester, die nicht fassen können, wie ihre Nachbarn mit einem der grössten Söhne der Nation umgehen; unfähig, selbst im Moment des Abschieds ein grosses Lebenswerkes zu würdigen und den Pathos des Augenblicks zu erkennen. Im Dauerfeuer der Kirchenschelte schienen selbst viele Gläubige und immer weniger Bischöfe im Heimatland Ratzingers nicht mehr zu wissen, was sie an diesem Papst wirklich haben.

Reform war für ihn nicht in erster Linie eine Frage von Organisation und Strukturen, sondern des inneren Aufbruchs, des Bewusstseinswandelns. Er sah es als seine Hauptaufgabe, dass “das Wort Gottes in seiner Grösse und Reinheit erhalten bleibt – gegen alle Versuche der Anpassung und Verwässerung”. Das Herz der Kirche schlägt in der Liturgie, postulierte er. Deren Wiederentdeckung sei die wahre Reform. Hier entscheide sich das Geschick von Glaube und Kirche, und nirgendwo sonst.

Wenn Kleriker in der toten Sprache der Bürokraten über Gott und die Welt sprachen, war er im hohen Alter noch immer glühend, entbrannt im Feuer der Erkenntnis und der Liebe zu jenem, den die Christenheit als Sohn Gottes bekennt. Damit beeindrucke er nicht nur junge Leute, sondern auch Erwachsene, die sich den kritischen Blick für gesellschaftliche Entwicklungen genauso bewahrt haben wie die Lust auf geistliche Abenteuer, die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, die Hoffnung auf die Zukunft, den Sinn für Inhalte und nicht zuletzt den rebellischen Geist, der sich mit heiligem Geist sehr gut mischen lässt.

Benedikt XVI. ist nicht nur der Papst einer Renaissance des christlichen Ursprungs, er übte auch den Primat Petri in einer ökumenischen Weise aus, eine, die es anderen Konfessionen leicht macht, im Bischof von Rom nicht einen Konkurrenten zu sehen, sondern ein Symbol für die grosse Aufgabe der Einheit. In seiner Amtszeit wuchs die katholische Kirche weltweite um einhundert Millionen Mitglieder, und zwar überproportional zur allgemeinen Bevölkerungszunahme. In Deutschland wurde sie mit über 25 Millionen Getauften erstmals wieder, vor der evangelischen Kirche, die grösste Religionsgemeinschaft. Und wer dumm frägt: Was hat er uns denn eigentlich gebracht, dieser bayerische Papst, so sei zumindest an die Neuevangelisation der Welt erinnert, die Johannes Paul II. ausrief, aber Benedikt erst richtig in Angriff nahm. Das ist nicht unbedingt eine Bagatelle, sondern – nach dem Zusammenbruch der Ideologien und dem Desaster des entfesselten Kapitalismus – mit das grösste globale Projekt der Moderne überhaupt.

Er war der Unbequeme, der sich den Schneid nicht abkaufen liess. Der nicht danach fragte, ob etwas zeitgemäss, sondern ob etwas zukunftsgemäss ist. Ein genialer Geist, der die Demut lehrte – und das nicht nur in Worten. Vielleicht passe es ja auch “zu einem Papst in diesem Augenblick der Geschichte der Kirche”, meinte er einmal, als er aus Zeitgründen ohne Redemanuskript vor sein Publikum treten musste, “in jeder Hinsicht arm zu sein.”

Kaum ein Papst hat sich so zurückgenommen, damit ER hervortreten kann, damit die Gottesfrage wieder ins Zentrum kommt; eines Gottes, der uns anredet, der uns etwas zu sagen hat, der ein Richter, aber vor allem ein Gott der Liebe ist. Es gibt so viele Probleme, rief er aus, die alle gelöst werden müssten. Und die doch alle nicht gelöst werden können, wenn wir nicht Gott wieder in die Mitte stellen. Wenn Gott wegfällt, erklärte er unermüdlich, wird auch der Mensch seine Würde, seine Menschlichkeit verlieren. Und wenn es dem Glauben schlecht geht, kann es der Gesellschaft nicht gut gehen.

Benedikt XVI. hat das Papsttum neu interpretiert und ihm einen starken Ausdruck gegeben: stellvertretend für Christus als der gute Hirte, der Prophet und Ratgeber, der Mahner, der an die unverbrüchlichen Massstäbe erinnert, der Warner vor der todbringenden Macht des Bösen.

Er war der Brückenbauer nicht nur zwischen den Konfessionen und Religionen, zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen den Völkern in Ost und West, letztlich zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Himmel und Erde. Er wird in die Geschichte eingehen als einer jener tapferen Päpste, die sich der inneren Reinigung der Kirche gewidmet haben, nicht um ihren Schatz aufzulösen, sondern um ihn zu retten, damit die Welt ihren Anker behält. Nichts kann sich ändern, so seine Maxime, wenn nicht auch die Herzen der Menschen sich verändern. Kirche kann nicht wieder erstarken, wenn nicht der Glaube wieder stark wird. Ihre Stärke ist dabei nicht für sich selbst gedacht, sondern um Salz der Erde, Segen der Menschheit, Licht der Welt zu sein.

Längst werden in Redaktionstuben, die sehr genau wissen, “worauf Christen in der ganzen Welt hoffen”, Forderungskatologe für das nächste Oberhaupt der katholischen Kirche aufgestellt. An deutschem Wesen, so wunderbar glaubensstark und bibeltreu, soll genesen, was anderswo nicht in Ordnung ist. Aber man möge sich nicht täuschen. Benedikt XVI. ist gegangen, aber sein Erbe ist nicht aus der Welt. Der Nachfolger dieses wohl demütigsten Papstes der Neuzeit wird in seine Fussstapfen treten. Jemand mit anderem Charisma, eigenem Stil, aber gleich in dem Auftrag, nicht die Zentrifugalkräfte zu fördern, sondern jene, die das Glaubensgut zusammenhalten, die mutig bleiben, authentisch verkünden und Zeugnis ablegen.

Es ist kein Zufall, dass der scheidende Papst für seine letzte grosse Liturgie den Aschermittwoch wählte. Seht, will er damit zeigen, hierhin wollte ich euch von Anfang an führen. Dies ist der Königsweg. Entschlackt euch. Entgiftet euch. Macht euch frei von Ballast. Lasst auch nicht auffressen von den Zeitgeistern und Zeiträubern. Entweltlicht euch! Abnehmen, um zuzunehmen ist das Programm der Kirche der Zukunft. Abspecken, um an Vitalität, geistiger Frische, nicht zuletzt an Inspiration und Ausstrahlung zu gewinnen. Und an Schönheit, an Anziehungskraft. Letztlich auch an Energie, um das vielfach so schwierig gewordene Programm bewältigen zu können. “Kehrt um”, so sprach er mit den Worten der Bibel, als er seinen Leuten das Aschekreuz auf die Stirn zeichnete, “glaubt an das Evangelium.”

Und wenn die Zeit des Fastens und der Busse überstanden ist, sagt diese Geste, dann steht eine neue Auferstehung bevor, Ostern, die Zeit des Lichtes. Die Kirche wird weiterleben, sie ist unzerstörbar, und sie wird, in jenem Zauber, der den Anfang jedes Pontifex begleitet, einen neuen Schub erhalten. Er aber, der Lastesel Gottes, so war ihm anzusehen, habe nun seine Schuldigkeit getan.

Eine Ära geht zu Ende, vielleicht sogar ein Äon, einer jener Zeitenabschnitte, der im Jahrtausendschritt die grossen Wenden in der Geschichte kennzeichnet. Und mit dem Blitz, der am Abend der Demission Benedikts donnernd in die Kuppel der Peterskirche einschlug, setzte die himmlische Regie noch eins drauf: “Ihr habt die Propheten wieder weggeschickt”, schien das Menetekel zu sagen, “aber dieser Mann, den viele nicht hören wollten, kann im Schweigen noch lauter werden!”

“Sind Sie nun das Ende des Alten”, so hatte ich den Papst bei unserer letzten Begegnung gefragt, “oder der Beginn des Neuen”? Die Antwort war: “Beides”.

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