Gedanken zu einem Konzilskommentar
“Diesen Leuten dürfen wir die Kirche nicht überlassen”
Katholische Wochenzeitung 43/2012, 26. Oktober 2012, von Martin Meier-Schnüriger
50 Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ist dieses epochale Ereignis nicht nur kirchlichen, sondern auch weltlichen Medien mehr als nur eine Schlagzeile wert.
Liest man sich durch die endlosen Kommentare, die derzeit von berufener und weniger berufener Hand verfasst werden, so gewinnt man den Eindruck, “das Konzil”, wie es gemeinhin genannt wird (als ob es davor nicht schon 20 andere Konzilien gegeben hätte!), habe die katholische Kirche von Grund auf verändern wollen, aber böse rückwärtsgewandte Kräfte hätten sich bis heute erfolgreich gegen diesen Total-Umbau gewehrt, und so sei die Kirche nach wie vor jenes Bollwerk des Hinterwäldlertums, als das sie in der veröffentlichten Meinung gerne dargestellt wird.
Stellvertretend für diese Art der Konzilskommentare sei hier ein Ausschnitt aus dem Editorial einer Zeitschrift zitiert:
“Kaum war das Konzil zu Ende, begann auch schon die Gegenbewegung: Einige wollen zurück zu einer geschlossenen Kirche, wollen Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der heutigen Menschen nicht wahrnehmen und werden bis in höchste kirchliche Kreise darin bestätigt und ermuntert. Diese Bewegungen und Bestrebungen sind ein Verrat am Konzil. Und deswegen eine grosse Gefahr für die ganze Kirche. Wenn die Kirche die Probleme der heutigen Menschen, der Armen, der Ausgebeuteten, Suchenden, Zweifelnden, Fernstehenden und Ungläubigen nicht ernst nimmt, sie nicht liebt und meint, sich mit einem Rückschritt in die vormoderne Welt zu retten, verliert sie ihren Sinn. Sie ist dann zu Recht nur noch Salz, das zertreten wird. Doch diesen Leuten dürfen wir die Kirche nicht überlassen. Wir sind zum Widerstand verpflichtet.
Fürwahr ein düsteres Bild, das da gezeichnet wird! Doch entspricht es auch der Realität? Sicher, es gibt sie, die “Vorkonzilsnostalgiker”, die meinen, alles sei vor dem Konzil besser gewesen. Aber sie bilden, sofern sie nicht, wie etwa die Priesterbruderschaft St. Pius X., ihre eigenen Wege gegangen sind, eine kleine Minderheit und werden keineswegs bis in höchste kirchliche Kreise bestätigt und ermuntert. Papst Benedikt XVI. hat des öftern erklärt, dass es kein Zurück hinter das Konzil geben kann, und wenn er nun ausgerechnet auf den 50. Jahrestag des Konzilsbeginns ein “Jahr des Glaubens” ausgerufen hat, so zeigt das deutlich, dass er sich dem Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet weiss.
Was nun die Sorge um die Armen, Ausgebeuteten, usw, angeht, so hat die Kirche, auch lange schon vor dem Konzil, diese nie aus den Augen verloren. Unzählige Apostel der Nächstenliebe haben seit den ersten Anfängen der Christenheit bis heute nie aufgehört, sich in aufopfernder Weise der vom Leben Gebeutelten und Enttäuschten anzunehmen. Die Kirchengeschichte ist voll von Frauen und Männern, die Christi Liebesgebot in radikalster Art umgesetzt haben. Und sie wurden dabei – nicht immer, aber in der Regel – von der Kirchenleitung unterstützt und gefördert, wenn auch gelegentlich nach anfänglichem Zögern. Die katholische Kirche war an vorderster Stelle dabei, als es galt, menschenverachtenden Ideologien Einhalt zu gebieten. Nicht umsonst wurde sie von Nationalsozialisten und Kommunisten gleichermassen heftig bekämpft. Die Päpste der Gegenwart haben ihrerseits den Extremmodellen Kapitalismus und Sozialismus die kirchliche Soziallehre entgegengestellt, die wesentlich vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägt ist, auch wenn sie schon lange vor dem Konzil ihren Anfang genommen hat.
Dass sich die Kirche auch um die Fernstehenden, Zweifelnden, Suchenden und Ungläubigen kümmern muss, bestreitet niemand. Die Frage ist nur, wie sie es tun soll. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Kirche in erster Linie die Aufgabe hat, die Menschen zu Gott zu führen. Das kannn sicher auf verschiedene Art und Weise geschehen, nicht aber dadurch, dass sich die Kirche dem jeweils herrschenden Geist unterordnet und die Menschen in ihrem Tun und Lassen bestätigt auch dann, wenn dieses Tun und Lassen mit den Geboten Gottes nicht übereinstimmt. In diesem Falle hat die Kirche die Pflicht, ihre Stimme zu erheben und zu warnen. Tut sie es nicht, stimmt sie ein in den lauten Chor derer, die das sagen und denken, was man halt so sagt und denkt, dann, genau dann wird sie zum Salz, das schal geworden ist und zerstreten wird. Etwas pointiert könnte man sagen: Die Kirche darf vor lauter Sorge um die Fernstehendnen, Suchenden, Zweifelnden und Ungläubigen die Gläubigen nicht vergessen!
Bleibt die Frage, wen der Kommentator mit “diesen Leuten, denen man die Kirche nicht überlassen darf” meint. Die Formulierung “diese Leute” klingt sehr distanziert, ja abweisend. Aber sind nicht auch sie Mitchristen, Schwestern und Brüder, die auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst empfinden, denen die Kirche auch am Herzen liegt und die ohnmächtig zusehen mussten und müssen, wie ihr tiefer Glaube nicht nur von ausserhalb der Kirche – das wäre noch leicht zu ertragen -, sondern auch von innen geschmäht und ausgehöhlt wird? Das manche von ihnen dem Konzil die Schuld dafür geben, ist zwar bedauerlich, aber irgendwie verständlich.
Denn was wurde nicht alles im Namen des Konzils und unter Berufung auf den nebulösen sogenannten “Geist des Konzils” angerichtet! Dass, um ein Beispiel zu nennen, heutige “heilige” Messen oft eher einer Party als einer sakralen Handlung gleichen, war zwar vom Konzil mitnichten beachsichtigt, wurde aber von einigen seiner Interpreten in die Wege geleitet und wird heute als erfolgreiche Art, die Fernstehenden zurückzuholen, dargestellt. Dabei werden die “Fernstehenden” solcher Gottesdienste bald überdrüssig und feiern anderswo. Echte und nachhaltige Bekehrungen jedoch finden dort statt, wo unser Kommentator sie nie vermuten würde, nämlich dort, wo die Kirche ihre Botschaft, ihre Sendung und ihre Liturgie in Treue zu ihrer Lehre bekennt. Es spricht Bände, dass gerade jene Ordensgemeinschaften am wenigsten mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben, die am konsequentesten die Nachfolge Christi leben und in Treue mit der Kirche und ihrer Lehre verbunden sind!
Der obenzitierte Kommentar hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, erweckt er doch irgendwie den Eindruck, als würde hier auf scheinbare Probleme hingewiesen, um von den wirklichen Problemen abzulenken. Denn Verrat am Konzil üben nicht so sehr jene, die auf fragwürdige (und vom Konzil nicht gewollte!) folgen dieser Kirchenversammlung aufmerksam machen, sondern eher jene, die unter bewusster Falsch- oder Überinterpretierung der Konzilsbeschlüsse aus dem mystischen Leib Christi eine rein innerweltliche Sozialinstitution machen. Die “Diktatur des Relativismus”, vor welcher der Heilige Vater zu Recht warnt, hat durch die theologische Uminterpretierung des Zweiten Vatikansichen Konzils einen Sitz innerhalb der Kirche erhalten.
Letzlich wird allerdings auch dieser Sitz die Kirche nicht zum Einsturz bringen, hat sie doch die Verheissung des “non praevalebunt” – “die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen”. Das Zweite Vatikanische Konzil war ein verheissungsvoller Aufbruch der Kirche in die neue Zeit, und seine Beschlüsse und Absichten sind noch längst nicht vollständig in die Tat umgesetzt. Statt ein drittes vatikanisches Konzil zu fordern, statt Pfarrei- und ähnliche Initiativen ins Leben zu rufen und so der Kirche Schaden zuzufügen, sollte man sich dazu bequemen, die Konzilstexte genau zu lesen und nach ihnen zu handeln.
Was gäbe es da – gerade in der Schweiz – noch alles zu entdecken! Wir würden etwa erstaunt feststellen, dass das allgemeine Priestertum der Laien nicht darin besteht, sich in liturgische Gewänder zu hüllen und Ersatzpriester zu spielen, sondern darin, am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Schule und in der Freizeit den Glauben mutig in Wort und Tat zu bezeugen – was freilich viel schwieriger ist als am Sonntag in der Kirche die heilige Kommunion auszuteilen. Wir würden in den Konzilstexten keinen Hinweis auf das Frauenpriestertum finden, wohl aber ein eindeutiges Bekenntnis zum priesterlichen Zölibat. Wir würden die hohe Wertschätzung kennenlernen, welche die Konzilsväter der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria entgegenbrachten. Wir würden uns bewusst, dass das Konzil unter Glaubensfreiheit nicht Glaubensgleichgültigkeit verstand, sondern klar definierte, dass die Kirche Jesu Christi in der römisch-katholischen Kirche – und sonst nirgends – verwirklicht ist. Wir würden verwundert zur Kenntnis nehmen, dass das Konzil nie verboten hat, die heilige Messe auf Lateinisch zu feiern, nie etwas von Handkommunion gesagt oder gar angeordnet hat und nie die Priester beauftragt hat, versus populum, also mit dem Rücken zum Allerheiligsten zu zelebrieren. Es würde uns peinlich berühren, zu erfahren, dass der ordentliche Weg der Vergebung schwerer Sünden nach wie vor die Einzelbeichte, und die heilige Eucharistie Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens ist, dass sich also unser Fernbleiben am Sonntsg nicht mit dem Hinweis auf “das Konzil” rechtfertigen lässt. Besonders uns Schweizer müsste die Aufforderung des Konzils, auf staatliche Privilegien der Kirche gegenüber zu verzichten, aufhorchen lassen.
Mit anderen Worten: Wer all die gängigen Forderungen, die seit Jahren gebetsmühlenartig wiederholt werden, unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil stellt, spielt mit falschen Karten! Das Konzil deckt diese Forderungen nicht: allenfalls tut dies der obenerwähnte “Geist des Konzils”, der jedoch eine nicht fassbare und daher sehr leicht manipulierbare Grösse, auf jeden Fall eine Erfindung der Konzilsinterpreten und nicht der Konzilsväter ist.
Es wäre spannend, im eben angelaufenen “Jahr des Glaubens” überall “Konzilskurse” abzuhalten, in denen die Konziltexte gelesen und diskutiert würden. Wir könnten eine Menge daraus lernen!
Katholische Soziallehre
Katholische Soziallehre Papst Johannes XXIII.
Enzyklika Rerum Novarum
Dokumente des II. Vatikanischen Konzils: Vatikan
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