Ein Apostolat der Ehrfurcht
Neuer Ritus nicht in allen Teilen zweifelsfreier Ausdruck katholischer Lehre
Als Papst Paul Vl. die Liturgie einer strengen Reform unterzog, nahm die Katholische Kirche von einer Institution Abschied, die wie keine andere bis dahin ihre Identität bezeichnet hatte. Der alte römische Messritus, dessen Entstehen in das frühe Christentum hineinreicht und der nur darum “tridentinisch” genannt wird, weil er vom Konzil von Trient bestätigt worden ist, hatte die gigantischen Missionserfolge in aller Welt begleitet, er hatte in der Gegenreformation ganze Völker für die Kirche von Rom zurückgewonnen, er hatte eine hohe Spiritualität geschaffen, die den Gebildeten und den Armen gleicherweise zugänglich war, und war durch seine weltweite Verbindlichkeit und seine Sprache zugleich zum Schöpfer und Werkzeug einer universellen Einheit geworden.
Die zum Teil heftige Diskussion, die seine Abschaffung und Verdrängung ausgelöst haben, soll hier nicht weiter berührt werden. Immerhin können wenigstens drei Ergebnisse dieser Diskussion inzwischen als unumstritten gelten: Der neue Ritus kann sich weder in der Ausformung, die er in den neuen Messbüchern gefunden hat, noch gar in der liturgischen Praxis, die er ermöglicht, auf den Reformauftrag des II. Vatikanischen Konzils stützen, das lediglich eine “behutsame Durchsicht der liturgischen Bücher” angeordnet hatte, nicht aber die Schaffung eines neuen Kultes.
Der neue Ritus ist nicht in allen Teilen der zweifelsfreie Ausdruck der katholischen Lehre – so hat der Präfekt der Glaubenskongregation zum Beispiel darauf hingewiesen, dass das Friedensgebet in seiner neuen Fassung den irrtümlichen Schluss zulässt, die Kirche, der Leib Christi, könne sündigen. Zum dritten: die Reform hat nicht die erwartete apostolische Wirkung gezeitigt und die Auszehrung der Kirche nicht verhindern können.
Ebenso zweifelsfrei steht jedoch fest, dass der neue Ritus inzwischen in der ganzen Welt durchgesetzt ist, selbst die chinesische Kirche, die bis jetzt am alten römischen Ritus festgehalten hatte, hat ihn angenommen. Eine der wichtigsten Kraftquellen des alten römischen Ritus war seine durch die Jahrtausende ununterbrochene Tradition – diese Tradition ist auf dem Verordnungsweg beendet worden, und man darf sicher sein, dass dieser Ritus, der keiner Verordnung sein Leben verdankte, durch ein Dekret zwar zerstört, aber mit bürokratischen Mitteln nicht ohne weiteres wieder zurückgerufen werden kann. Wo eine religiös-kulturelle Kontinuität vernichtet worden ist, braucht es oft Jahrhunderte für den Wiederaufbau, wenn er denn überhaupt gelingt. Die Verfechter des neuen Ritus dürfen zufrieden sein: sie haben Realitäten geschaffen, die keiner ihrer Gegner so bald wird antasten können.
So ist auch das Indult von 1984, mit dem Papst Johannes Paul II. den alten römischen Ritus wieder unter die Bücher der Kirche aufgenommen hat, zunächst kaum mehr als ein juristischer Akt ohne weitreichende praktische Folgen geblieben, weil er die Gewährung des alten römischen Ritus weitgehend in das Belieben der Ortsbischöfe stellte, die in den meisten Fällen keine Bedenken hatten, das vom Heiligen Vater ausdrücklich als “berechtigt” anerkannte Begehren nach dem alten römischen Ritus mit administrativen Massnahmen abzuweisen. Immerhin ist so das Licht des alten römischen Ritus, einst eine mächtige Sonne, heute nur ein Fünkchen, vor dem endgültigen Zertretenwerden bewahrt worden. Wer das heilige Messopfer in der Form des alten römischen Ritus feiern will, kann es wieder tun – wofern er Geduld, Zähigkeit und Opferbereitschaft im Ausmass heroischer Tugenden beweist. Aber wie lange noch? Das wird zum Teil auch davon abhängen, ob der Geist des alten Ritus in denen, die ihn feiern, so lebendig wird, dass er apostolische Wirksamkeit entfalten kann. Zu den guten Ergebnissen des Kampfes um die alte Liturgie gehört gewiss, dass ihre Vorzüge und ihr Wesen überhaupt bis dahin vielleicht noch nie so gründlich und vielfältig erörtert worden sind.
Wer die alte Liturgie begehrte, musste zu ihrem Kenner werden, so dass man sagen darf, dass die vom II. Vaticanum abgelehnte Haltung einer passiven Hinnahme des Ritus wahrscheinlich nirgendwo so erfolgreich überwunden worden ist wie bei den Gläubigen, die am alten Ritus festhalten wollen. Die Darstellungen, die den alten römischen Ritus aus liturgiehistorischer, seelsorgerischer, theologischer, künstlerisch-ästhetischer und gar soziologischer Sicht rechtfertigen, füllen mittlerweile Bibliotheken.
Erstaunlicherweise befinden sich diese Darstellungen in weitgehender Übereinstimmung mit der Lehre des Papstes, der in seinen Lehrschreiben sowie in dem neuen Katechismus ein Bild der eucharistischen Zelebration entwirft, das sich keineswegs mit der üblichen neuen liturgischen Praxis deckt und dafür sehr nachdrücklich das Element des Opfermysteriums betont, das in der neuen Liturgie doch gerade an den Rand gedrängt werden soll. (Allein dieser Umstand zeigt, wie vorsichtig in der Kirche mit den heute beliebten Kategorien der Mehrheit und der Minderheit umgegangen werden muss – womöglich käme man sonst eines Tages zu dem Ergebnis, der Heilige Vater vertrete den Standpunkt einer Minderheit!)
Der alte römische Ritus vermag gerade in dieser vermutlich noch lange andauernden Zeit des Auseinanderfallens von kirchlicher Lehre und Praxis eine für die Zukunft bedeutsame Rolle zu spielen: in seiner Verborgenheit am Rande der sichtbaren Kirche das Gefühl der Ehrfurcht am Leben zu erhalten, bis eine kommende Generation im Ganzen wieder ihren geistlichen Gewinn daraus zu ziehen vermag.
Ehrfurcht – wenn einem Aussenstehenden das Wesen des alten römischen Ritus dargestellt werden sollte, dann müsste man mit diesem Wort beginnen. Der alte Ritus ist eine Schule der Ehrfurcht; er übersetzt diese Empfindung in Sprache, Musik, Bewegung und Schweigen, in die Art, wie die liturgischen Gefässe angefertigt sind, wie das Leinen, das mit den Opfergaben in Berührung kommt, behandelt wird, und in die Vorschriften über die geistliche und körperliche Vorbereitung auf die Feier der heiligen Mysterien.
Ehrfurcht vor wem?
Vor dem körperlich anwesenden Gott. Ihm gelten diese unendliche Behutsamkeit, diese gespannte Aufmerksamkeit, diese unablässigen Beweise der Unterwerfung und Anbetung. Solange die Kirche lehren wird, dass sich auf das Gebet ihrer Priester hin Brot und Wein auf dem Altar in das Fleisch und Blut Christi verwandeln, solange werden sich die hohen Formen der Verehrung mit dem natürlichen Bedürfnis aller jener decken, die diese Lehre wirklich glauben. Jeder Mensch, dem das Geheimnis der realen Gegenwart Christi zugänglich ist, muss davor in eine wahre Verzweiflung fallen – wie können wir vor Christus bestehen? Man bedenke: hier geht es nicht um eine gelassene Auseinandersetzung mit den Lehren der Heiligen Schrift, nicht um erbauliches gemeinsames Gebet und belehrende Betrachtung, sondern um das physische Gegenüberstehen mit dem zugleich leidenden und verklärten Gottessohn. Hier beginnt die Unterweisung des alten Ritus, man könnte sie eine Einübung in den Zustand des Erlöstseins nennen. Im Schutz der neugeschaffenen Schöpfung, an der Hand und mit der Stimme der Heiligen und der Engel wagt der Gläubige, sich dieser Gegenwart auszusetzen, sich vor ihr zu verneigen und zu ihr zu sprechen. “Ihr nennt mich Herr und Meister, und ihr tut recht daran, denn ich bin es, aber ich bin nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen” – in diesem Wort ist in knappster Form der Ablauf des alten Ritus zusammengefasst. Ehrfurcht und Anbetung durch die Gläubigen – “und ihr tut recht daran!”- wird beantwortet durch den Dienst Jesu, der sich in Brotsgestalt seiner Gemeinde zur Speise gibt. Diesen Dienst als unverdientes, von oben gewährtes Geschenk auf Knien empfangen zu können, ist wohl das geistlich bedeutsamste Ergebnis des alten Ritus.
Die Bischöfe haben entschieden, dass dieses Apostolat der Ehrfurcht zunächst nur wenigen Gläubigen zugute kommen soll. Der ängstliche Umgang mit diesem Gnadenmittel darf aber nicht vergessen lassen, dass in Form des alten römischen Ritus nicht ein bloss zeitabhängiges ephemeres Element der christlichen Botschaft aus dem Blickfeld der meisten Gläubigen verschwunden ist, sondern eines ihrer innersten Bestandteile.
Wo immer der alte römische Ritus gefeiert wird, unter welchen Umständen auch immer – es wird meist an armseligen Orten sein -, sollte sich jeder Katholik, dem es möglich ist, einfinden. Der innere Glanz dieses Ritus bedarf nicht der Kathedrale – er ist es vielmehr, der die Kathedralen möglich gemacht hat und der auch in der Katakombe die unsichtbare Kathedrale der Ehrfurcht entstehen lässt.
Der Artikel von Martin Mosebach ist der 48seitigen Broschüre “Von der Liturgie und dem Geheimnis der heiligen Messe” entnommen. Die Broschüre enthält Beiträge von Prof. Robert Spaemann, Bernward Deneke u.a. Sie ist inzwischen leider vergriffen.
Martin Mosebach gehört zu den bekanntesten Schriftstellern der Gegenwart, von dem auch schon die taz taz einen Artikel, nämlich über **Nicolás Gómez Dávila, veröffentlichte. Aufsehen erregte sein Buch Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind über die Liturgiereform in der katholischen Kirche.
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