Eine grosse Intellektuelle

Hildegard von Bingen wurde offiziell in das Verzeichnis der Heiligen aufgenommen

Von Lucetta Scaraffia / L´Osservatore Romano

Rom, kath.net/Osservatore Romano, 11. Mai 2012

Hildegard von Bingen wurde endlich von der Kirche offiziell zur Heiligen proklamiert, und dies nach Jahrhunderten, in denen sie – seit dem Augenblick ihres Todes – als solche verehrt worden ist, insbesondere innerhalb des Benediktinerordens, dem sie angehörte. Ihre erhabene und komplexe Persönlichkeit sticht heraus aus dem Panorama des so leidgeprüften 12. Jahrhunderts, in dem ihre weise und prophetische Gegenwart eine grosse und für eine Frau sicherlich bisher ungekannte Rolle spielte.

Nonne, Äbtissin und Gründerin von zwei neuen Klöstern, die dann von ihr mit sicherer Hand geleitet wurden, erlebt sie von Kindesbeinen an mystische Visionen und hat den Mut, ihre prophetischen Visionen zu veröffentlichen – sie sollte Kaiser Friedrich Barbarossa schreiben: “Du benimmst dich wie ein Kind.” Neben Büchern über Mystik und Theologie verfasste sie auch Abhandlungen über Medizin und Untersuchungen zu Naturphänomenen, zum Kosmos und zum Menschen, und sie machte dabei ganz neue Lösungsvorschläge und hatte bahnbrechende Intuitionen.

Von der Gewissheit getragen, Botin der göttlichen Botschaft zu sein, widmet sie sich auch der Verkündigung, wobei sie durch verschiedene Gegenden Deutschlands zieht und sogar in Kirchen spricht. Sie spornt die Päpste zur Reform an und kritisiert sie mitunter sehr scharf, wobei sie erklärt, dass der Heilige Geist durch sie – eine Frau – spreche, da die von Männer geführte Kirche in verschiedenerlei Hinsicht ihr Wesen und ihre Sendung verraten habe.

In ihren prophetischen Visionen bilden die menschliche und die göttliche Wirklichkeit eine Einheit, die von der Liebe gewährleistet wird, die Frauen zu verkörpern wissen. Sie sieht und beschreibt Gott als “lebendiges Licht”, ein Licht, das auch zum Menschen gehört: sich selbst bezeichnet sie als “Schatten des lebendigen Lichtes”.

Es darf daher nicht verwundern, dass sich die feministische Geschichtsschreibung und Theologie sehr engagiert der Neuentdeckung dieser Persönlichkeit gewidmet haben und dass sich CDs mit ihrer Musik – Hildegard war auch eine grosse Komponistin geistlicher Musik – in feministischen Buchhandlungen in weiten Teilen der Welt – und nicht nur in religiösen Buchhandlungen – zu finden sind.

Die vom Rhein stammende Mystikerin ist der lebende Beweis dafür, dass es innerhalb der christlichen Kultur auch einer – zweifelsohne ganz aussergewöhnlichen – Frau möglich war, gehaltvolle Kultur hervorzubringen und sich bei den Mächtigen Gehör zu verschaffen.

Benedikt XVI. hat ihr in seinen Betrachtungen bei den Generalaudienzen, in den er über grosse Frauengestalten des Mittelalters sprach, zwei Ansprachen widmen wollen, und er erklärte dabei gerade von Hildegard ausgehend, auf welche Weise “auch die Theologie durch die Frauen einen besonderen Beitrag empfangen kann, da diese mit ihrer besonderen Klugheit und Empfindsamkeit über Gott und die Geheimnisse des Glaubens zu sprechen vermögen”.

Die heute offiziell bekanntgegebene Heiligsprechung soll also die Bedeutung herausstellen, die der Papst dieser Frau beimisst, die nicht nur eine grosse Mystikerin, sondern auch eine wahre Intellektuelle ihrer Zeit war. Sie war so aussergewöhnlich, dass man, um eine in intellektueller Hinsicht so reiche Gestalt zu finden – natürlich abgesehen von den beiden grossen Teresas, den Lehrmeisterinnen der Mystik – zu einer anderen deutschen Heiligen gelangen wird, nämlich Edith Stein.

Heilige und Selige: Grosse Frauengestalten des Mittelalters
Hildegard von Bingen
DVD

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