Wie eine schismatische Nationalkirche entsteht

“Appell zum Ungehorsam gegen Papst und Bischöfe”

Die “Pfarrer-Initiative” von heute vor dem Hintergrund der tschechoslowakischen Klerikerrevolte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Von Walter Kardinal Brandmüller

Rom, kath.net, 10. März 2012

Aufrufe von Klerikern zum Ungehorsam gegenüber der katholischen Kirchenführung sind nicht neu. Das gilt vor allem für den mitteleuropäischen Raum. Bekannt sind aber auch die – im Sinne der Rebellen – jeweils enttäuschenden Ergebnisse, was die Erwartungen der Ungehorsamen erheblich dämpfen müsste. Wer neben den Felsen Petri baut, baut eben auf Sand.

Dabei fällt etwa der Blick auf die um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in Österreich entstandene “Los-von-Rom-Bewegung” des Georg Ritter von Schönerer, der ebenso deutschnationale wie antiklerikale und antisemitische Ideen zu Grunde lagen: “Ohne Juda, ohne Rom bauen wir den deutschen Dom.” Aus diesem ideologischen Reservoir schöpften später auch die Nationalsozialisten.

Appell zum Ungehorsam gegen Papst und Bischöfe

In der Tat ist es damals intensiver und vom deutschen protestantischen “Gustav-Adolf-Verein” unterstützter Propaganda gelungen, im Verlauf von etwa einem Jahrzehnt ungefähr hunderttausend österreichische Katholiken zum Abfall von der Kirche zu bewegen. Ein halbes Jahrhundert später fand diese Bewegung eine Fortsetzung in der krisenhaften Zeit nach dem Zweiten Vatikanum durch die Anhänger von “Wir sind Kirche”, “Kirche von unten” und die Kreise um das “Kirchenvolksbegehren”. Diese und ähnliche Tendenzen summieren sich nun in dem Appell zum Ungehorsam gegen Papst und Bischöfe des ehemaligen Wiener Generalvikars und Caritaspräsidenten Helmut Schüller.

Zu diesem aber gibt es eine aussagekräftige historische Parallele in der Entstehung der tschechoslowakisch-hussitischen Nationalkirche in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.
Natürlich kann diese Parallele nicht in allen Einzelheiten nachgezogen werden. Zu verschieden von den gegenwärtigen Verhältnissen waren die politischen, gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter welchen die tschechische Nationalkirche entstand.
Es war die Zerschlagung der habsburgischen Monarchie und die Errichtung der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918, die zum Ausbruch der seit langem virulenten Bestrebungen grosser Teile des national gesinnten tschechischen Klerus zur Emanzipation von der widerwillig ertragenen österreichischen staatlich-kirchlichen Herrschaft führte. Das sich alsbald herausbildende Programm der schon seit 1890 bestehenden Protestbewegung “Jednota” richtete sich zunächst gegen habsburgtreuen Episkopat. Sodann ging es um die Verwirklichung einer “demokratisierten und nationalisierten … von Rom weitgehend unabhängigen Nationalkirche” (E. Hrabovec). Hinzu kam die Forderung nach nationalsprachiger Liturgie, nach der Vereinfachung (das heisst Verkürzung) des Breviergebetes und – vor allem anderen – nach der Abschaffung der Zölibatspflicht.

Da noch keine eigene vatikanische Vertretung in Prag bestand, entschloss sich der Wiener Nuntius Teodoro Valfre di Bonzo dazu, Ende Februar 1919 nach Prag zu reisen, um sich persönlich ein Bild der Lage zu verschaffen. Vorausgegangen war übrigens schon die Anweisung des Kardinalstaatssekretärs Gasparri an den untadeligen Prager Erzbischof Graf Huyn, seinen Sitz zu verlassen und nicht mehr dorthin zurückzukehren. Es waren ausschliesslich politische Gründe gewesen, die dazu gezwungen hatten.
Nun also weilte der Nuntius in Prag, wo er auch mit den Führern der “Jednota” zusammentraf. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm ein Katalog der bekannten Forderungen vorgelegt, den Bohumil Zahradník formuliert hatte, ein seit 1908 in illegaler Ehe lebender Priester und Romanautor, den die Regierung an die Spitze der Kirchenabteilung im Unterrichtsministerium berief.

Da ging es vor allem um die Abschaffung des Patronatsrechts des Adels, die Wahl der Bischöfe durch Klerus und Volk, die materielle Ausstattung der Priester, tschechische Liturgiesprache, Demokratisierung der Kirchenverfassung, vor allem aber um die Abschaffung des Zölibats und der klerikalen Kleidung. Nun war mit dem Ende der Monarchie das Patronat des Adels tatsächlich obsolet geworden und die Ernennung autochthoner tschechischer beziehungsweise slowakischer Bischöfe lag durchaus auf der Linie Papst Benedikts XV., der entschlossen war, den neuen politischen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Auch die Frage der Liturgiesprache konnte erwogen werden, während die ökonomische Situation der Priester ausserhalb der römischen Zuständigkeit lag. Alles Übrige aber war mit dem Glauben und dem Recht der Kirche unvereinbar. Da gab es für den Nuntius keinen Verhandlungsspielraum. Aus diesem Grunde war auch einer Delegation der “Jednota”, die Mitte Juni 1919 im Einvernehmen mit der Regierung und auf deren Kosten nach Rom reiste und vom Papst empfangen wurde, kein Erfolg beschieden.

Immerhin wurde noch im September 1919 mit der Ernennung des hoch angesehenen tschechischen Professors František Kordaè eine berechtigte Erwartung erfüllt. Doch gerade daran zeigte sich das wahre Gesicht der nach Reformen rufenden Radikalen, denen es nicht bloss um die Ernennung eines Tschechen an die Spitze der Prager Erzdiözese ging, also um eine durchaus berechtigte und von Rom anerkannte Forderung, sondern darum, einen Bischof nach ihrem Wunsch und ihrer Gesinnung zu haben: Kaum wurde die Nomination des aufrecht tschechisch-national, aber ebenso ehrlich katholisch und papsttreu denkenden Prälaten bekannt, erhob sich gegen ihn eine Welle des Unmuts der Reformer, die auf Unterstützung der laizistisch gesinnten Regierung rechnen konnten.

Das für viele unbefriedigende Ergebnis der “Jednota”-Delegation hatte zur Folge, dass sich im Klerus eine Scheidung der Geister vollzog. Auch die theologische Fakultät der Karls-Universität von Prag distanzierte sich von ihrem Dekan, der an der Delegation teilgenommen hatte.

Die Wurzeln des Problems liegen sehr viel tiefer

Auf der anderen Seite ergab sich nun eine Radikalisierung, deren harter Kern eine Gruppe war, die sich “Ohnisko” (Brennpunkt) nannte. Deren Mitglieder waren schon vor der Romreise entschlossen, ihre Reformforderungen auch im Falle einer römischen Zurückweisung in die Tat umzusetzen. Sie riefen darum noch im August 1919 die Priester dazu auf, öffentlich die Ehe zu schliessen. Als einer der ersten tat dies der schon genannte Zahradník, der mit der zivilen Eheschliessung lediglich ein seit Jahren bestehendes Konkubinat “legalisierte”. Priester, die seinem Beispiel folgten, wurden mit Vorzug in den Staatsdienst übernommen, und im September übergab man dem Wiener Nuntius – noch immer gab es keine diplomatischen Beziehungen zwischen Prag und dem Vatikan – zwölfhundert (unglaublich, aber den Quellen zufolge richtig) Gesuche von Priestern um Dispens vom Zölibat.

Nun kam es unter dem Einfluss einer neuen antikirchlichen Regierung zu einer sich verschärfenden Radikalisierung der “Jednota”, deren Protagonisten entschlossen auf das Schisma zusteuerten. “Die Zölibatsfrage erwies sich einmal mehr als stärkste Triebfeder der schismatischen Bewegung” (Hrabovec). Am 8. Januar 1920 wurde die “Tschechoslowakische Kirche” proklamiert, und bald darauf in der Person des Priesters Karel Farský ein Patriarch gewählt.

Der Fortgang der Geschichte interessiert hier weniger – es kam uns auf die Genese einer schismatischen Nationalkirche an. Wie die Volkszählung von 1921 zeigt, schlossen sich dieser nur 3,9 Prozent der Tschechen an, während 76,3 Prozent der katholischen Kirche treu blieben. Neun Jahre später waren es 5,4 Prozent, die sich zum Schisma, und 73,5 Prozent, die sich zur katholischen Kirche bekannten. Heute dürfte die mittlerweile sich tschechisch-hussitische Kirche nennende Gemeinschaft etwa hunderttausend Mitglieder zählen. Soweit die historischen Fakten.

Nun aber ist die Frage zu stellen, wie der Heilige Stuhl auf diese Entwicklung reagiert hat. Es ist interessant zu beobachten, dass der Nuntius Valfre di Bonzo zunächst einmal nach den Ursachen fragte, die dazu geführt haben. Die Analyse des Nuntius bleibt keineswegs an der Oberfläche. Sicherlich erkennt auch er, in welchem Masse sich die Protestbewegung dem antihabsburgischen und dem antirömischen, durch die gezielte Glorifizierung von Jan Hus als Symbol der nationalen Aufruhr gegen Rom genährten Ressentiment weiter tschechischer Kreise ebenso verdankte, wie sie zudem allgemeine Säkularisierungstendenzen der Nachkriegsgesellschaft widerspiegelte. Die Hauptursachen für den Abfall dieser Priester erblickte er jedoch in der theologisch wie spirituell ungenügenden Ausbildung des Klerus in den vergangenen Jahrzehnten, aus der sich dann die Unfähigkeit vieler ergab, den herrschenden nationalistischen und liberalen Fortschrittsideen zu widerstehen. Aus heutiger Sicht ist hinzuzufügen, dass auch die Ideen des deutschen sogenannten Reformkatholizismus von Einfluss waren. Im Übrigen war die “Reform”-bewegung keine Sache von Professoren oder Intellektuellen, sondern des einfachen Klerus vom Lande. Die spätere Entwicklung der tschechischen Nationalkirche bezeugt auch den starken Einfluss des Modernismus. So etwa meinte der von Karel Farský verfasste Katechismus, Jesus sei Sohn Gottes nur in dem Sinne, in dem alle Menschen Kinder Gottes sind. Jesus ist nicht Gott, sondern der größsse der Propheten.

Es war also deutlich zu erkennen, dass die Wurzeln des Problems sehr viel tiefer lagen als im Bereich irgendwelcher praktischer, disziplinärer Reformen. Grössere Teile des Klerus befanden sich offensichtlich in einer die Fundamente des katholischen Glaubens erschütternden Krise. Der Katechismus von Farský von 1922 bestätigte im Nachhinein diese Diagnose.

In Rom erfasste man – nach einer relativ kurzen Phase des Beobachtens – nun den ganzen Ernst der Lage. Es bestand die akute Gefahr einer “Umbildung der katholischen Kirche nach presbyterisch-synodalem Muster… in eine von unten aufgebaute, mit weitgehender Selbstständigkeit von Rom ausgestattete, letztlich der staatlichen Souveränität untergeordneten nationalkirchlichen Organisation” (Hrabovec).

Vor diesem Hintergrund hatte der Nuntius Valfre di Bonzo schon im Hinblick auf die bevorstehende Ankunft der “Jednota”-Delegation in Rom dem Kardinalstaatssekretär Gasparri zu einer unmissverständlichen und entschiedenen Haltung gegenüber den tschechischen Forderungen geraten. Die Protagonisten der “Jednota” seien auch durch Konzessionen nicht mehr zu gewinnen, während Schwankende durch Nachgeben nur weiter verunsichert würden. Gegenüber dem Rest der “Jednota”-Forderung, insbesondere der nach Abschaffung der Zölibatspflicht, komme nur entschiedene Zurückweisung in Frage.

Dieser Empfehlung Valfre di Bonzos folgte denn auch – es hätte ihrer gar nicht bedurft – das Handeln von Kurie und Papst. Noch bevor es zu dem Ausbruch des Schismas gekommen war, hatte der Papst den neuen Prager Erzbischof Kordaè am 3. Januar 1920 aufgefordert, unverzüglich eine Konferenz der Bischöfe des Landes einzuberufen, der – wenn es seine Gesundheit erlaubte – der Erzbischof von Olmütz, Kardinal Leo Skrbensky, präsidieren sollte.

Als dann – am 8. Januar – das Schisma vollzogen worden war, reagierte das Heilige Offizium unverzüglich. Mit Dekret vom 15. Januar wurde die “schismatica coalitio” ohne jeden Aufschub verurteilt und mit dem Kirchenbann belegt.
Die Priester, die dieser schismatischen Kirche anhängen, seien ohne Rücksicht auf Stand und Würden als ipso facto exkommuniziert zu betrachten. Nach Canon 2384 CIC sei diese Exkommunikation dem Heiligen Stuhl speciali modo reserviert. Die Bischöfe werden aufgefordert, dieses Dekret den Gläubigen unverzüglich bekannt zu geben und diese vor jeder Unterstützung des Schismas zu warnen.

Kurz darauf wandte sich der Papst selbst an Erzbischof Kordaè mit einem Schreiben vom 29. Januar 1920, in welchem er sich hoch befriedigt über die Initiative der tschechischen Bischöfe, über deren einmütige Haltung und ihre enge Verbindung mit dem Heiligen Stuhl äusserte. Mit Zustimmung nahm er die Auflösung der “Jednota” durch die Bischöfe und deren Aufteilung in diözesane Vereinigungen unter bischöflicher Autorität und Aufsicht zur Kenntnis.

Ganz entschieden betonte Benedikt XV., dass es eine Zustimmung zur Lockerung des Zölibatsgesetzes “qua ecclesia Latina tamquam insigni ornamento laetatur” niemals geben werde. Mit hoher Anerkennung bedenkt der Papst alsdann die Bischöfe, die sich der Herausforderung dieser schwierigen Situation gewachsen gezeigt hätten.

Gegen Ende des so dramatisch verlaufenen und verhängnisvollen Jahres nahm Benedikt XV. das Thema noch einmal auf und zwar in einer Allokution an das Konsistorium vom 16. Dezember.
In dieser Ansprache stellte der Papst fest, dass es bisher nicht sehr viele seien, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, und die weitaus grössere Zahl, obgleich durch schlechtes Beispiel in Versuchung geführt, treu geblieben seien.
Er wies noch einmal die Spitzfindigkeiten der Argumentation der Schismatiker zurück, die irgendwelche römischerseits festzustellende Verfahrensmängel angeführt hatten, und wies Behauptungen, man erwäge in Rom Milderungen der Zölibatsforderung, als irreführend zurück. Wie weit dergleichen von der Wahrheit entfernt ist, müsse man wohl nicht sagen. Vielmehr stehe fest, dass die Lebenskraft und Blüte der katholischen Kirche einen grossen Teil ihrer Kraft und ihres Glanzes dem Zölibat der Priester verdanke, der darum unversehrt zu erhalten sei. Dies sei niemals notwendiger gewesen als zu diesen Zeiten moralischer Verderbnis und ungezügelter Laster, in denen die Menschen der Führung und des guten Beispiels vorbildlicher Priester dringend bedürften.

Und Benedikt XV. fährt fort: “Wie wir schon mehrfach beteuert haben und nun feierlich fest bezeugen, wird es niemals geschehen, dass dieser heilige Apostolische Stuhl dieses heilige und höchst heilsame Gesetz des priesterlichen Zölibats in irgendeiner Hinsicht abschwächen oder abschaffen werde.” Gleiches gelte von Änderungen in der Kirchenverfassung. Damit war seitens des Heiligen Stuhles das letzte Wort gesprochen.

Betrachtet man nun rückblickend die Art und Weise, wie man im Vatikan dieser schismatischen Entwicklung zu begegnen versucht hat, so fällt zunächst das äusserst wachsame und überlegte Vorgehen des Wiener Nuntius ebenso ins Auge wie seine zutreffenden Analysen. Dem entsprachen seine Handlungsempfehlungen, die dem römischen Staatssekretariat kompromisslose Festigkeit gegenüber den wesentlichen Forderungen der “Jednota” nahelegten, während er in Sachen der Liturgiesprache Möglichkeiten des Entgegenkommens zu prüfen empfahl.
Wie ernst der Heilige Stuhl die Lage einschätzte, zeigt auch die Entsendung des vielversprechenden jungen Monsignore Clemente Micara im Oktober 1919 nach Prag, noch ehe er im Juni 1920 zum Nuntius ernannt werden konnte. Ihm wie schon Valfre di Bonzo war längst klar geworden, dass die Forderungen der “Reformer” weit tiefere Wurzeln hatten als blosse Unzufriedenheit mit kirchlichen Verhältnissen. Sie waren vielmehr Ausdruck einer mehr und mehr um sich greifenden Glaubenskrise, ja einer Abfallbewegung.

Zu derselben Einsicht war man auch in Rom gekommen, wie die Eindeutigkeit und Entschiedenheit zeigen, mit welcher sowohl das Heilige Offizium als auch der Papst selbst auf die tschechischen “Reformer” antworteten. Die Erkenntnis hatte sich durchgesetzt, dass diese durch Verhandlungen nicht mehr zu gewinnen waren. Sie hatten die Grundlagen des katholischen Glaubens, ja des Christentums überhaupt, verlassen.

Wie einzig richtig diese nicht durch pragmatisch-politische Überlegungen bestimmte, sondern allein an der Wahrheit des Glaubens orientierte Handlungsweise des Heiligen Stuhles war, zeigten nicht nur die schon genannten Volkszählungen, sondern auch die Massenkundgebung Hunderttausender anlässlich der Weihe des Olmützer Erzbischofs Stojan am 3. April 1921, die zu einer eindrucksvollen Demonstration der Treue zu Papst und Kirche wurde.
Mit freundlicher Erlaubnis durch S. Em. Walter Kardinal Brandmüller

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