“kopflos”, aber “lebendig”

Diskussion der Medizin und der Philosophie über die Gültigkeit der Hirntod-Theorie

Auf Einladung des Deutschen Ethikrats diskutierten in dieser Woche Mediziner und Philosophen die Gültigkeit der Hirntod-Theorie. Dabei machten sowohl Kritiker als auch Befürworter der Theorie deutlich, wie berechtigt die Zweifel daran sind, dass für hirntot erklärte Menschen auch tatsächlich tot sind.

Die Tagespost, 23.03.2012, Von Stefan Rehder

Unmissverständlicher hätte die Politik ihr Desinteresse an der Frage, ob ein für hirntot erklärter Organspender vor der Entnahme seiner Organe auch tatsächlich tot ist, kaum dokumentieren können.

Da diskutierte zunächst am Mittwochabend der Deutsche Ethikrat, der Bundesregierung und Parlament in bioethischen Fragen beraten soll, in Berlin vor mehr als 400 Zuhörern im prall gefüllten Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter der Überschrift “Hirntod und Organentnahme – Gibt es neue Erkenntnisse zum Ende des menschlichen Lebens?” das Für und Wider der Hirntod-Theorie. Und keine zwölf Stunden später “debattierten” die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in Erster Lesung einen von allen Parteien unterstützten Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes (TPG) und versicherten sich gegenseitig, wie wichtig es sei, die Zahl transplantierbarer Organe zu steigern; gerade so, als gäbe es überhaupt keine Zweifel daran, dass ein für hirntot erklärter, künstlich beatmeter Mensch, der auf eine Organspende vorbereitet wird, auch tatsächlich tot sei.

Dabei hatte der Ethikrat nicht irgendeinen der in den letzten Jahren immer zahlreicher gewordenen Kritiker gebeten, die Argumente, die aus ihrer Sicht gegen die Hirntod-Theorie sprechen, darzulegen, sondern ihren Meister persönlich. Der US-amerikanische Neurologe Daniel Alan Shewmon, Professor für Neurologie und Pädiatrie der David Geffen School of Medicine der Universität von Kalifornien in Los Angeles und Autor zahlreicher Studien zum Hirntod, hatte 1998 in einer dieser Publikationen 175 Fälle aufgelistet, in denen Patienten, bei denen der Hirntod nachgewiesen wurde, länger als eine Woche überlebt hatten. Dabei betrug die “Überlebenszeit im Hirntod”, die Shewmon beobachten konnte, in einigen Fällen Monate und in einem ganz aussergewöhnlichen Fall sogar ganze 14 Jahre. Viele Verfechter der Hirntod-Theorie, für die mit dem Tod des Gehirns auch der Tod des Menschen einhergeht, halten dies bis heute für unmöglich.

Der Grund: Weil nach der Hirntod-Theorie allein das Gehirn dasjenige Organ ist, das die Integration der verschiedenen Teile des Organismus zu einem Ganzen steuere, gibt es nach dem Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen nichts mehr, das eine solche Integration noch zu leisten vermag. Folglich müsste die Desintegration des Organismus mit dem Hirntod einsetzen und der Organismus in seine Einzelteile zu zerfallen beginnen. Andere haben die Fälle, die Shewmon, der früher selbst ein Anhänger der Hirntod-Theorie war, zusammengetragen hatte, darunter von Patienten, die er persönlich kannte, restlos überzeugt oder zumindest zu Korrekturen veranlasst. So sah sich etwa das “President’s Council on Bioethics”, das Experten-Gremium, das den US-amerikanischen Präsidenten in bioethischen Fragen berät, im Jahr 2008 veranlasst, ein sogenanntes “White Paper” mit dem Titel “Controversies in the Determination of Death” zu veröffentlichen. Darin räumen die Experten schwarz auf weiss ein, dass angesichts der wissenschaftlichen Daten, wie sie unter anderem von Shewmon erbracht worden seien, nicht mehr behauptet werden könne, dass der Organismus mit dem Hirntod jedes Mal in seine Einzelteile zerfalle.

In Berlin erklärte Shewmon nun in einem hochwissenschaftlichen Vortrag, warum dies so sei. Dabei unterschied er zu Beginn mehrere Stufen und Typen von Integration. Wie er im Verlauf seiner Ausführungen darlegte, sei die Integration, welche das Gehirn für den Gesamtorganismus leiste, zwar bedeutsam; anders als die des Herz-Kreislauf-Systems stelle sie jedoch keine das Leben konstituierende dar und könne inzwischen durch Medizintechnik und Pflege soweit ersetzt werden, dass ein menschlicher Organismus auch nach dem Verlust sämtlicher Hirnfunktionen noch als ein integriertes Ganzes fortbestehen könne. Die nachweisbaren “physiologischen Instabilitäten”, die mit dem “akuten Hirntod” einhergingen, resultierten dabei “nicht aus dem Verlust gehirnvermittelter Integration”, sondern aus der “direkten oder indirekten Schädigung multipler vitaler Organe“. Solche “Instabilitäten”, die, wenn sie gravierend seien, zum Tode führten, dauerten “jedoch nicht ewig” an. “Auch wenn viele (hirntote) Patienten früh sterben, die, die überleben, und zwar mehr als einige wenige Tage, erholen sich allmählich”, so Shewmon.

Laut dem Neurologen müssen Hirntote deshalb auch trotz des Funktionsausfalls sämtlicher Hirnfunktionen weiterhin als Lebende betrachtet werden. “Die unwiderrufliche Bewusstlosigkeit ist nicht der Tod”, so Shewmon. Patienten, bei denen der Hirntod festgestellt worden sei, seien nicht bloss nur “grossartige Zellkulturen”, wie die Verfechter der Hirntod-Theorie glauben machen wollen, sondern “bewusstlose menschliche Wesen”.

Dass der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen nicht mit dem Tod des Menschen zusammenfalle, machte Shewmon am Beispiel der Vollnarkose anschaulich. Man könne heute “eine Narkose so hoch dosieren, dass sie sämtliche Funktionen des Gehirns unterdrückt”. Aber niemand würde einen solchen Patienten deswegen “für tot erklären”. Und noch ein zweites, auch für medizinische Laien nachvollziehbares Argument hatte Shewmon, dessen Ausführungen ansonsten für Nicht-Neurologen eher schwer verständlich gewesen sein dürften, in Berlin parat. Eine der wichtigsten Funktionen, die das Hirn für den Organismus wahrnehme, sei die Steuerung der Atmung. Sie wird bei Schwersthirngeschädigten durch einen Respirator ersetzt, der für die künstliche Beatmung der Patienten sorgt. Träfe die Hirntod-Theorie zu, dann müsse man sich, so Shewmon, den Respirator als einen “Ventilator” vorstellen, “der ein Herz in einem Leichnam schlagen lässt”. Eine selbst für Technik-Freaks absurd anmutende Vorstellung.

Dem hatte Stefanie Förderreuther offenbar nicht viel entgegenzusetzen. Denn in ihren Ausführungen ging die Neurologin am Klinikum der Universität München, die vor dem Ethikrat die Gültigkeit der Hirntod-Theorie zu verteidigen sucht, auf so gut wie keines der von Shewmon gegen die Gültigkeit der Hirntod-Theorie ins Feld geführten Argumente ein. Lediglich den Vorwurf Shewmons, dass es den Befürwortern der Hirntod-Theorie an jeglicher Evidenz für ihre Thesen mangele, wusste die Münchner Neurologin zu parieren. Es sei nun einmal schlicht unmöglich, “randomisierte Doppel-Blind-Studien” mit Hirntoten durchzuführen. Randomisierte Doppelblind-Studien sind Studien, bei denen die Wirksamkeit einer Arznei durch die zufällig verteilte Gabe diese Mittels und eines Placebos nachgewiesen wird. Dabei wissen weder die Patienten noch die Mediziner, welches Präparat der jeweilige Patient erhält. Der Vergleich sämtlicher Ergebnisse gibt den Ärzten im Nachhinein Aufschluss darüber, welche Wirkungen tatsächlich durch die Arznei verursacht worden sein müssen und welche nicht.

Ansonsten beschränkte sich Förderreuther darauf, den Anwesenden zu versichern, dass sich der Hirntod sicher nachweisen lasse. So sei nicht nur eine Verwechslung von Hirntod und Wachkoma klinisch unmöglich. Die Hirntod-Diagnostik erfolge auch nach derart strengen Kriterien, dass der irreversible Ausfall aller Gehirnfunktionen sicher ermittelt werden könne. “Da ist nichts mehr”, zeigt sich Förderreuther überzeugt. In der anschliessenden Diskussion führte Förderreuther dann jedoch zur Überraschung vieler dieses “Nichts” näher aus. Sie bestreite gar nicht, dass auch bei Hirntoten die anderen Organe “noch arbeiten” und dass alles “sehr lebendig aussieht”. Auch Hirntote hätte noch “spinale Reflexe”, die über das Rückenmark vermittelt werden, und könnten deshalb “noch Dinge reflektorisch bewegen”. Das sei manchmal “ein bisschen gruselig”.

Dabei spielte die Münchner Neurologin offenbar auf verschiedene Berichte an, denen zufolge hirntote Patienten noch auf dem OP-Tisch einzelne Körperteile bewegten, was nicht nur das OP-Personal regelmässig erschüttert, sondern auch die Gefahr birgt, dass der Transplanteur die Organe, die er entnehmen soll, unabsichtlich verletzt und damit unbrauchbar macht. Um beides zu vermeiden, ist es daher heute üblich, Hirntote vor der Organentnahme zu narkotisieren.

“Die Frage sei”, so Förderreuther weiter, “macht dies ein menschliches – ein hoch entwickeltes menschliches – Lebewesen aus?” Um dann ebenso erhellend wie unmissverständlich anzufügen: “Ich denke, es macht es nicht aus. Und ich weiss nicht, was jemand gewinnen sollte, der nach Feststellung des Hirntodes über Monate oder gar Jahre weiter beatmet wird und in einem Bett liegt. Der ist kopflos. Ich weiss wirklich nicht, was es demjenigen bringen soll.”

Aber darum, was es dem Hirntoten “bringt”, bewusstlos und künstlich beatmet “über Monate oder gar Jahre” in einen Bett zu liegen, geht es ja gar nicht. Denn auch die seriösen Kritiker der Hirntod-Theorie gehen keineswegs davon aus, dass ein Patient, bei dem der Hirntod korrekt diagnostiziert wurde, noch einmal in ein bewusstes Leben zurückkehren könne. Was sie bestreiten ist lediglich, dass bei einem solchen Patienten der eingetretene Tod schon sicher festgestellt werden kann, weshalb die Entnahme seiner lebenswichtigen Organe auch keine “postmortale” Organspende sei, sondern eine “Lebendspende”, die den tatsächlichen Tod erst herbeiführt.

Der Philosoph Ralf Stoecker, Professor für Angewandte Ethik an der Universität Potsdam, machte im zweiten Teil des Abends deutlich, dass es “kein überzeugendes Argument für die Gültigkeit des Hirntod-Kriteriums” gebe. Die Hirntod-Theorie basiere, wie Stoecker darlegte, auf zwei Prämissen. Die erste besage, dass wenn das Gehirn nicht funktioniere, einem Menschen “all diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten” fehlten, die ihn “als Person” ausmachten – “Wahrnehmung, Sprechen, Denken, Fühlen, zielgerichtetes Handeln und soziale Kontaktaufnahme. Die zweite besage, dass ein Mensch, dem diese “personalen Charakteristika” fehlten, tot sei. Folglich würden Hirntote, denen diese Fähigkeiten abhanden gekommen seien, als tot betrachtet. Laut Stoecker, der die erste Prämisse als “einleuchtend” bezeichnete, sei das Problem, dass die zweite Prämisse jedoch unhaltbar sei. Denn Embryonen und anenzephale Neugeborene, die entweder noch gar kein Gehirn oder nur ein völlig unzureichendes ausgebildet hätten, seien “sicher nicht tot”. Folglich könne die “Hirntod-Konzeption” auch nicht mit “dem fehlenden Innenleben” hirntoter Menschen gerechtfertigt werden.

So klar der Philosoph die zweite Prämisse der Hirntod-Theorie widerlegte, so wenig leuchtete Stoeckers eigene Theorie ein. Denn letztlich plädierte der Potsdamer Ethiker, zwischen Leben und Tod ein Drittes einzuführen. “Aus ethischer Perspektive“ seien, so Stoecker, Hirntote “weder einfach tot”, noch seien sie “einfach am Leben”. Weil sie noch “keine Leichen” seien, “sei es richtig, sie im alltäglichen Umgang, in der Pflege so zu behandeln, wie andere, bewusstlose Patienten auch”. Weil man ihnen aber “kein Leid mehr antun” und sie “keiner Zukunft mehr berauben” könne und weil “auf der anderen Seite die Organempfänger erheblich von der Transplantation profitieren”, dürfe man ihnen “Organe entnehmen, und das, obwohl es dazu führt, dass sie ihren Zustand zwischen Leben und Tod beenden und aus den hirntoten tote Menschen werden”.

Dem hielt Michael Quante, Professor für Philosophie an der Universität Münster, zu Recht entgegen, dass die Frage, wie der Tod definiert werden müsse, jedoch keine ethische, sondern eine metaphysische sei. Um sie zu beantworten, bedürfe es eines Dialogs zwischen Naturwissenschaftlern und Naturphilosophen.

So lange will die Politik nicht warten. Wie die berühmten drei Affen, die sich selbst Augen, Ohren und Mund verschliessen, immunisieren sich die Volksvertreter seit Jahren ziemlich erfolgreich gegen die bislang unwiderlegten Argumente, die Wissenschaftler gegen die Hirntod-Theorie ins Feld führen. Insofern wunderte es denn auch nicht, dass in der mehr als einer Stunde dauernden “Debatte” am Donnerstag alle Redner den Gesetzentwurf, mit dem die geltende “erweiterte Zustimmungslösung” durch eine “Entscheidungslösung” ersetzt werden soll (DT vom 15. März) in höchsten Tönen lobten, kein einziger aber – und sei es in einem Nebensatz – auch auf die Kritik an der Hirntod-Konzeption zu sprechen kam.

DeutscherEthikrat

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