“Sind Sie denn keine Menschen?”
3. Forum Weltkirche, Theologische Fakultät, Uni Freiburg
Die Tagespost, 30.11.2011, von Mariano Delgado
Im September 1510 kam die erste Kommunität von Dominikanern nach Amerika – nach Santo Domingo, dem heutigen Nachbarn Haitis. Am 4. Adventssonntag 1511 hielt dann Bruder Antón Montesino im Namen der Kommunität eine prophetische Predigt gegen die Ausbeutung der Indios. Der Beginn einer kirchlichen kolonialethischen Debatte. Die Theologische Fakultät der Universität Fribourg würdigt dies mit ihrem 3. Forum Weltkirche. Mit den Entdeckungsfahrten der Renaissance begann die erste Globalisierung als Europäisierung der Welt. “Tragbares Europa” nannte Baltasar Gracián (+1658) die Schiffe, die nach Übersee segelten. Sie transportierten die Ambivalenz unserer Kultur: den Drang zur Eroberung und Missionierung fremder Länder, aber auch die Fähigkeit zur Selbstkritik im Namen universaler Werte.
Mit der Bulle “Inter caetera” vom 4. Mai 1493 “schenkte, gewährte und übertrug” der Borgia-Papst Alexander VI. den spanischen Königen “für alle Zeiten” die neu entdeckten und neu zu entdeckenden Inseln und Festländer innerhalb einer bestimmten Demarkationslinie (der andere Teil galt den Portugiesen). Er verband dies mit dem Auftrag, die neuen Menschen im katholischen Glauben zu unterrichten und sie zu guten Sitten zu erziehen. Unter Berufung auf diese Bulle wurde die Herrschaft gewaltsam übernommen; und zur besseren Evangelisierung und Zivilisierung der “Indios” wurden diese als Arbeitskraft der Obhut der Spanier unterstellt.
Alsbald wurde daraus eine unbarmherzige Ausbeutung. Aber die humanistische Gelehrtenrepublik gab sich mit dem aristotelischen Argument des in Paris lehrenden schottischen Theologen John Major (+1550) zufrieden. 1509 sagte er, dass die Spanier über die Indios herrschen können wie “die Griechen über die Barbaren”. Da jene “Sklaven von Natur” seien, regiere sie rechtens “die erste Person, die sie erobert”.
Nachdenklich wurde man erst nach der Ankunft der Predigerbrüder der Dominikaner in Santo Domingo Ende 1510, der heutigen Dominikanischen Republik. Sie waren ausgebildet in einer lebensnahen (thomistischen) Theologie, die Fragen von Gerechtigkeit und Recht ernst nahm und so die prophetischen Traditionen Israels wach hielt; zudem loderte in ihren Herzen das Feuer der Nachfolge Jesu im Tun der Liebe, das heisst die Suche nach dessen Antlitz “in den Armen und Leidenden” (Mt 25, 35–40). Die Unterdrückung der Indios durch “Christen” war für sie “noch schlimmer als die der Kinder Israels unter dem Pharao”. Am vierten Adventssonntag 1511 stellte daher Bruder Antón Montesino die entscheidenden Fragen von der Kanzel: “Mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in solch grausamer und entsetzlicher Knechtschaft? Sind sie etwa keine Menschen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben”. Wie so oft musste das Evangelium zunächst und vor allem “in der Kirche” gepredigt werden. Bei diesem Ereignis, einem der spirituellen Gipfel der Weltgeschichte, meldet sich die Stimme des christlichen Gewissens mit Sensibilität für das Unrecht und Mitgefühl mit fremdem Leid zu Wort. Die von diesen Fragen ausgelöste kolonialethische Kontroverse lässt sich anhand der Argumente von Francisco de Vitoria (+1546), Juan Ginés de Sepúlveda (+1573) und Bartolomé de Las Casas (+1566) am besten darlegen.
Vitoria äussert sich nur, weil die Sache eine umstrittene sei und man sie “nicht allein den Rechtskundigen” überlassen dürfe; da es um die Instanz des Gewissens gehe, sei sie vielmehr “Aufgabe der Theologen”. Vitoria, ein subtiler Scholastiker, behandelt sie im Stil einer Quaestio, bei der man die verschiedenen Argumente sorgfältig abwägt. Im ersten Teil seiner Vorlesung De Indis (Über die Indios) 1539 demontiert er die angeblichen legitimen Gründe für Eroberungskriege und zivilisatorische Obhut der Spanier, einschliesslich der päpstlichen Konzession, die nur als Evangelisierungsauftrag verstanden wird, nicht als Herrschaftsübertragung. Denn für die guten Scholastiker hatte der Papst keine direkte Gewalt über die Ungläubigen. Im zweiten Teil erläutert Vitoria die Gründe für ein humanitäres Interventionsrecht – nicht zuletzt um die Faktizität der seit mehr als vierzig Jahren stattgefundenen Expansion zu rechtfertigen und die Krone zu beruhigen. Die wichtigsten sind die Verletzung des Migrations- und des Missionsrechts der Spanier durch die Indios.
“Sklaven von Natur aus”
Ausgehend vom Vernunftpostulat, dass am Anfang der Welt es jedem erlaubt gewesen sei, überall hinzugehen, und dass seitdem das Menschengeschlecht eine universale Republik, gleichsam eine “Kommunikationsgemeinschaft” bilde, fordert Vitoria für die Spanier – modern ausgedrückt – die freie Ein- und Auswanderung, das Recht auf Niederlassung, den freien Handel, die freie Ausbeutung der Naturressourcen und das Einbürgerungsrecht. Die Spanier dürfen dieses Migrationsrecht beanspruchen, sofern ihre Präsenz den Indios keine Nachteile oder Schäden bringe. Aber wer bestimmt das? Dass die Spanier die Interpretationshoheit behalten, geht aus diesem Schluss hervor: Wenn die Indios die Spanier angreifen, auch nachdem diese ihnen bedeutet haben, dass sie keinen Nachteil oder Schaden hätten, so dürfen die Spanier Gewalt anwenden, “weil es erlaubt ist, Gewalt mit Gewalt abzuwehren”. Sogar Schüler Vitorias wie Melchior Cano und Domingo de Soto (von Las Casas zu schweigen) mussten betonen, dass die Spanier nicht als Wanderer, sondern als Invasoren auftraten: “Kämen die Franzosen so nach Spanien, würden die Spanier das nicht dulden.” Ähnlich verhält es sich mit dem Missionsrecht. Aus dem Sendungsbefehl Christi und aus dem Evangelisierungsauftrag des Papstes leitet Vitoria ein mehrstufiges Interventionsrecht ab, “bis sich Gelegenheit und Sicherheit zur Verkündigung des Evangeliums (und zum Schutz der Bekehrten) einstellen”.
Seine Beteiligung an der Kontroverse rechtfertigt Sepúlveda mit der eitlen Bemerkung, er durfte nicht schweigen, “wenn so viele redeten”. Mit seinem Werk Democrates secundus (1544) will er “andere Gründe für einen gerechten Krieg gegen die Indios” ins Spiel bringen, ” die nicht so oft zur Anwendung kommen, aber als sehr gerecht gelten und dem natürlichen sowie dem göttlichen Gesetz” entsprechen. Diese sind die aristotelische Lehre der Sklaven von Natur, die Sünde des Götzendienstes, die Befreiung von Unschuldigen aus dem sicheren Tod in Menschenopfern, und schliesslich die Erleichterung der Evangelisierung.
Wie einst Major, aber viel ausführlicher, stuft Sepúlveda alle Indios als “Sklaven von Natur” ein, während die Spanier die Griechen der Renaissance sind, denen die Führung der Welt zustehe. Wenn die Indios sich nicht fügen, können sie daher “wie wilde Tiere” gejagt werden.
Sünden wider die Natur wie Sodomie und Menschenopfer, Folgen des “teuflischen” Götzendienstes, rechtfertigen den Krieg, weil sie bei den Indios von ihren Gesetzen gutgeheissen werden, das heisst als öffentliche, strukturelle Sünden zu betrachten sind. Hatte Augustinus geschrieben, ein Krieg sei nur als Antwort auf erlittenes Unrecht gerecht, so meint Sepúlveda, dass es hier um das Unrecht gegen Gott gehe, “das ja auch am meisten der Rache würdig ist”.
Die Befreiung der Unschuldigen ist für ihn, wie für Vitoria, ein Gebot der Nächstenliebe, zu dem man vom Naturrecht verpflichtet sei. Sepúlvedas Akzent liegt darin, dass er – den Berichten von Hernán Cortés Glauben schenkend – von über 20 000 Menschen spricht, die allein in Mexiko den Götzen jährlich geopfert wurden. Die Menschenopfer gewinnen damit den Charakter einer “Massenvernichtungswaffe”, die man schnell aus der Welt schaffen müsse.
Auch die präventive Herrschaftsübernahme zwecks Erleichterung der Christianisierung ist für Sepúlveda eine Folge des Liebesgebots, damit eine unendliche Zahl von Menschen, die “in der gefährlichen Finsternis” umherirrt, “auf dem nächstgelegenen und kürzesten Weg zum Licht der Wahrheit” angezogen wird.
Sepúlveda ist ein Humanist, kein Scholastiker. Das merkt man nicht nur an seinem eleganten Latein, sondern auch an der Art und Weise, wie er mit theologischen Argumenten (Unglaube, Missionsrecht, Spanier als Vollstrecker des Zornes Gottes) umgeht.
Las Casas war seit 1502 ein Augenzeuge der Expansion. Er hatte die von den Hunden und den Waffen der Spanier zerfleischten Leiber der Indios mit einem mitleidigen Herzen wahrgenommen. Die Schrecken des Krieges beschreibt er daher mit einer empathischen Feder, die Mitgefühl mit den Opfern und Entsetzen über das Wüten von “Christen” wecken möchte. Und diese Feder hat die Schärfe eines Schwertes!
Las Casas klagt einen Perspektivenwechsel ein. Er fragt sich, ob ein John Major so sprechen würde, “wenn er selbst ein Indio wäre”. Während man seit Sokrates unter Apologie die Verteidigung der eigenen Position versteht, schreibt Las Casas 1551 seine Apologia zur Verteidigung der anderen. Dass sie manchmal idealisierende Züge trägt – so zum Beispiel, wenn er von den Indios der Bahamas sagt, sie seien so einfältig, gelassen und friedfertig, dass es scheine, “Adam habe in ihnen nicht gesündigt” –, darf nicht verschwiegen werden.
Die Indios seien keine Sklaven von Natur, sondern zivilisations- und glaubensfähig wie wir. Ihre Kulturen seien nicht barbarisch, sondern in ethischer Hinsicht besser als die meisten der Antike. Ihre Religionen seien als redliches Verlangen nach dem wahren Gott zu verstehen. Selbst die Menschenopfer seien Ausdruck davon, wenn auch durch das Fehlen des Glaubenslichtes ein irregeleiteter. Wenn die Indios nach wiederholter Ermahnung Menschenopfer beibehielten, könnte man sie unter Anwendung eines gemässigten Zwangs daran hindern, sie aber nicht dafür bestrafen oder ihnen Herrschaft und Güter wegnehmen; und zuvor sollte man abwägen, ob die Zahl der unschuldigen Opfer aufgrund der Intervention grösser wäre als die Zahl derer, die man vor dem ungerechten Tod zu retten beabsichtige. Las Casas‘ Apologie gipfelt in einem Manifest der Einheit des Menschengeschlechts: “Alle Menschen sind, was ihre Schöpfung und die natürlichen Bedingungen betrifft, einander ähnlich”, das heisst vom Schöpfer ausgestattet mit Verstand und freiem Willen. Ein solches Menschenbild ist die Bedingung der Möglichkeit einer partnerschaftlichen Weltordnung, wie sie heute intendiert wird.
Besonders die vier von Sepúlveda angeführten Gründe wurden seitdem immer wieder bemüht, um gewaltsame Interventionen humanitär zu rechtfertigen. Immanuel Wallenstein hat sie auf den Punkt gebracht: “die Barbarei der anderen, das Unterbinden von Praktiken, die universelle Werte verletzen, die Verteidigung Unschuldiger inmitten der grausamen anderen sowie die Schaffung der Möglichkeit, universelle Werte zu verbreiten”.
Wechsel der Perspektive
Mit seinem Perspektivenwechsel und seiner Apologie der Wahrheit der anderen stand Las Casas, den Gabriela Mistral “eine Ehre für das Menschengeschlecht” genannt hat, seiner Zeit weit voraus. Er wäre aber kein Kronzeuge des moralischen oder legalen Relativismus, denn auch er wollte Europas Kultur und Religion universalisieren, wenn auch sanft und friedlich, wie es der göttlichen Weisheit (Weish 8,1) entspricht, das heisst mit Vernunftgründen und gutem Lebensbeispiel. Seine Sicht konvergiert vielmehr mit denjenigen, die nach mehr Sensibilität für unsere Fehler und mehr Offenheit für die Werte anderer Kulturen rufen, nach mehr Beteiligung aller Betroffenen am Aufbau einer neuen Weltordnung. Dazu brauchen die Europäer heute gewiss Nachdenklichkeit und Selbstbescheidung – aber auch Selbstbewusstsein.
Info
Der Autor ist ord. Professor für Kirchengeschichte an der Universität Fribourg und derzeit Dekan der Theologischen Fakultät. Gerade ist sein Buch “Stein des Anstosses. Bartolomé de Las Casas als Anwalt der Indios” (St. Ottilien 2011) erschienen. Vom heutigen Donnerstag bis zum kommenden Sonntag findet zum Thema ein Symposium in Fribourg mit Titel ” ,Sind sie keine Menschen?‘ Evangelium und Prophetie – 500 Jahre nach der Adventspredigt von Antón Montesino” statt. Dabei spricht unter anderem Kurt Kardinal Koch, Präfekt des Rates für die Einheit der Christen. Das Programm steht im Internet unter
Quelle
Uni.Freiburg
Bulle: Inter Caetera, 4. May 1493 englisch
Kloster St. Domingo
Kardinal Kurt Koch
Bartolomé de Las Casas
Bestellung: Mariano Delgado: Stein des Anstosses – Bartolomé de Las Casas Anwalt der Indios
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