“Ein existenzielles Vertrauen auf Gott”
Europäisches Jugendtreffen in Berlin
Ein Gespräch mit Frere Alois, dem Prior der Gemeinschaft von Taizé
Tagespost, 28.12.2011 von Thomas Steimer
Frere Alois, in Berlin hat das Europäische Jugendtreffen der Gemeinschaft von Taizé begonnen. Sind Sie mit dem Verlauf der Vorbereitungen zufrieden gewesen?
Wir sind sehr zufrieden. Seit September waren Brüder unserer Communauté mit einer Gruppe von Jugendlichen in Berlin, um das Treffen vorzubereiten. Wir sind dankbar, dass sowohl die Kirchen als auch die Stadtverwaltung sofort offene Türen signalisierten, als wir angefragt haben, ob das Treffen in Berlin möglich ist. Viele Jugendliche sind in Gastfamilien untergebracht. Über diese Gastfreundschaft freuen wir uns besonders. Die Gastfreundschaft ist ein wichtiges Zeichen, um zu signalisieren, dass die Jugendlichen heute eine offene Gesellschaft wollen.
Wie kamen Sie auf Berlin? Nur circa 30 Prozent der Einwohner Berlins sind Christen, 60 Prozent dagegen konfessionslos. Weshalb findet dieses Treffen in einer weitgehend nichtchristlichen Metropole statt?
Eine ähnliche Situation finden wir ja in vielen Teilen Europas vor. Der eigentliche Grund für die Wahl Berlins sind aber zunächst die vielen deutschen Jugendlichen, die nach Taizé kommen. Nach den Franzosen stellen die Deutschen den grössten Anteil der Taizé-Besucher. Das stellt uns vor die Frage: Was bedeutet es, dass so viele zu uns nach Burgund kommen? Und: Wie können wir die Jugendlichen auch in ihrem Alltag begleiten? Das Treffen soll ausserdem auch deutlich machen, dass Christen in Deutschland und in Berlin das gesellschaftliche Leben mittragen – nicht zuletzt in unzähligen sozialen Initiativen.
Auf dem Jugendtreffen erleben die jungen Christen Gemeinschaft unter Gleichgesinnten. Wieder zuhause erfahren sie als Christen oft Gleichgültigkeit, Spott oder sogar Anfeindungen. Wie sollen junge Christen mit einer zunehmend christenfeindlichen Umgebung umgehen?
Es braucht heute eine Vertiefung des Glaubens, auch des Glaubenswissens. Vor allem muss man ein persönliches tiefes Glaubensleben führen. Heute wird Glauben nicht einfach durch Tradition weitergegeben, die man äusserlich mitträgt, ohne die Inhalte zu verstehen oder zu vertiefen. Nötig ist ein existenzielles Vertrauen auf Gott und nicht nur ein Ausüben von Religion. Und dazu braucht es wiederum Gruppen und Orte, die das ermöglichen. Aber ich denke, dass heute auch eine neue Offenheit für den Glauben wächst. In den schwierigen wirtschaftlichen Problemen, denen wir heute gegenüberstehen, stellen immer mehr Menschen und vor allem Jugendliche die Frage: Was ist der Sinn des Lebens, was kann ich aus meinem Leben machen? Wo finde ich Erfüllung? Und immer mehr Menschen spüren auch, dass diese Erfüllung nicht im Materiellen zu finden ist, sondern dass die Sinnfrage viel tiefer gehen muss. Und ich meine, dadurch wird auch ein neuer Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden möglich.
Ihren Brief zum Jugendtreffen haben Sie mit den Worten “Auf dem Weg zu einer neuen Solidarität” überschrieben. Nun kann man sich unter dem Begriff “Solidarität” sehr vieles vorstellen. Was verstehen Sie speziell im christlichen Sinn unter “Solidarität”?
Vom christlichen Hintergrund her hat dieses Wort eine tiefe Bedeutung, denn alle Menschen sind unterschiedslos und voraussetzungslos von Gott geliebt. Diese Liebe verleiht jedem menschlichen Leben Würde und einen unendlichen Wert. Christus ist schliesslich deswegen gekommen und am Kreuz gestorben, um uns diese Wahrheit nicht nur zu sagen, sondern als Erbe zu hinterlassen. Seine Liebe verbindet uns und schafft sozusagen eine neue Solidarität unter uns. Wenn wir uns das klarmachen, finden wir zu einem neuen Elan und sind wieder gewillt, danach zu handeln und zu leben.
Sie erwähnten die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Ohne Zweifel durchlebt Europa im Moment eine schwierige Zeit. Vielen Jugendlichen drohen Arbeitslosigkeit oder gar Armut. Ist Solidarität in dieser Situation nicht ein utopischer Wunsch? Besteht nicht vielmehr die Tendenz, nur an die eigene Zukunft zu denken, anstatt Solidarität mit anderen zu üben?
Nicht nur Europa durchlebt eine schwierige Zeit. Viele Länder und Regionen erleben das schon viel, viel länger und in weitaus grösserem Masse. Für Europa ist es neu, dass wir plötzlich vor Schwierigkeiten stehen, an die wir noch vor einigen Jahren gar nicht gedacht hatten. Und natürlich denken wir alle unwillkürlich zunächst nur an unsere eigene Zukunft. Dieser Reflex hat ja auch etwas Gesundes. Wir können das nicht einfach überspringen oder ausblenden. Aber wenn wir weiter nachdenken, sehen wir ein, wie kurzsichtig es ist, zu meinen, man könne alleine überleben. Sei es als Personen oder Gruppe oder auch als Land in Europa: Wir brauchen einander. Und in unserer globalisierten Welt sind die gegenseitigen Abhängigkeiten inzwischen so gross, dass ein individualistischer Weg unmöglich ist. Sicherlich müssen wir allerdings auch lernen, in Zukunft mit einem begrenzten materiellen Wohlstand zufrieden zu sein. Wir müssen lernen, Lebenserfüllung nicht in immer noch mehr Materiellem zu suchen, sondern in unseren menschlichen und sozialen Beziehungen.
Was wünschen Sie sich persönlich als Frucht des Jugendtreffens?
Dass möglichst viele Menschen im Vertrauen gestärkt werden. Vertrauen in die Zukunft, Vertrauen in das eigene Leben und Vertrauen auf Gott. Dass wir es wagen, Gott Vertrauen zu schenken, an seine Nähe und Liebe zu glauben und darauf unser Leben aufzubauen.
Taizé-Treffen in Berlin mit 30000 Teilnehmern eröffnet
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