Der neokoloniale Blick

Wer Afrika helfen will, sollte sich Gedanken machen, wie er über Afrika redet

Sonst produziert er eine endlos sich wiederholende Schleife von Wörtern, die jeder eh’ schon mit dem Kontinent verbindet – ohne Erkenntnisgewinn. Von Johannes Seibel

Die Tagespost, 25.11.2011 

Unterentwicklung, Korruption, Armut: Solche Worte tippt am europäischen Schreibtisch schnell in den Computer, wer über Länder und Menschen Afrikas schreibt. Dazu die entsprechenden Kennzahlen aus diversen Statistiken nachschlagen, ein bisschen im Internet soziologisches Material, Verlautbarungen und Journalistenberichte suchen, fertig ist die Analyse, die vorgibt, informiert zu sein und zu informieren – als sei damit die Wirklichkeit des heutigen Lebens auf dem Kontinent angemessen beschrieben oder gar ausgeschöpft.

So werden im Gestus der objektiven Analyse und des Aufklärens die bekannten Missstände nochmals und nochmals benannt, in Europa sitzende “Experten” und Organisationen damit zitiert und die entsprechenden Vokabeln von einer Zeitungsmeldung über einen Radiobeitrag über eine Vorlage für Sitzungen politischer Gremien vervielfältigt, bis feststeht: Die Sache ist klar. Wir verstehen Afrika, wir können die Ferndiagnose stellen, wir die Therapie verschreiben, wir, die Deutschen, die Franzosen, die Europäer.

Das kann in bester Absicht erfolgen. Es kann auch Routine von Journalisten und Funktionären und damit Gedankenlosigkeit sein. Und es kann ein neokolonialer Blick sein, der die physische Nähe zu denjenigen verweigert, über die mit den Worten Unterentwicklung, Korruption, Armut geredet wird, also die Distanz aufrechterhält und (unterbewusst?) die Botschaft aussendet: Hier sprechen die Entwickelten, die Unbestechlichen, die Reichen über die Unterentwickelten, die Korrupten, die Armen, nicht mit ihnen. Und es kann alles drei zusammen sein.

Wer nun die Distanz zum Objekt dieser Rede von Unterentwicklung, Korruption, Armut überwindet und in Afrika selbst, etwa jüngst auf der Reise von Papst Benedikt im westafrikanischen Benin, den Afrikanern begegnet, für den zerbröseln diese Worte Unterentwicklung, Korruption, Armut schnell. Das Bild einer Strasse in Cotonou, der Wirtschaftsmetropole des Landes, die eine Sandpiste ist, an der Wellblechhütten stehen, in denen Frauen in Garküchen Essen kochen und verkaufen, in Büdchen mit Telefonkarten handeln oder mittels alter Motorenteile aus Europa Mototaxis reparieren, legt der europäische Blick in den Ordner Unterentwicklung ab. Die beninische Frau in der Garküche, der Motorenteilhändler, die Telefonkartenverkäuferin selbst aber erleben sich als Menschen mit Arbeit, die sich und ihre Familien ernähren, für deren Produkte und Dienstleistungen genügend Nachfrage besteht und die, wenn sie es wollen, ihr Geschäft vergrössern können. Darauf sind sie stolz. Ihr Bild von sich selbst und der Strasse, in der sie leben, ist in ihrem Erfahrungshorizont das einer durchaus entwickelten Umgebung, auch wenn es in europäischer Perspektive lediglich eine Art Subsistenzwirtschaft ist. Was die Bewohner dieser Strasse empfinden, sprechen ihnen die abstrakt und pauschal und akademisch distanziert in Europa geprägten und in Umlauf gebrachten Worte Unterentwicklung und Armut dagegen ab. Sie verfehlen nicht allein das Konkrete und Individuelle dieser Situation, sondern schätzen Lebensleistung gering.

Die Menschen dieser Strasse müssen also gefragt werden, wie sie vor Ort ihre Lage einschätzen, welche Hilfe sie brauchen – ein Fall des alten katholischen Prinzips der Subsidiarität der Soziallehre. Und genau das ist ja auch die Vorgehensweise beispielsweise der kirchlichen Hilfswerke aus Deutschland, deren Mitarbeiter nach Afrika reisen, um dort im Gespräch mit den Einheimischen, im Leben mit ihnen Projekte für die Entwicklung zu realisieren – was natürlich nicht Strasse für Strasse passieren kann, sondern komplexerer, institutionalisierter Formen bedarf. Aber vom Prinzip her kann das nur so funktionieren.

Der neokoloniale Blick sollte endgültig der Vergangenheit angehören.

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