Das Zeitalter der Extreme
Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Kein Ende in Sicht
Hubert Kraill, Wien, 11. Mai 2009
Rezension bezieht sich auf: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (Taschenbuch)
“Das Zeitalter der Extreme.” bildet gleichsam als Ergänzungsband einer dreibändigen Geschichte des Langen 19. Jahrhunderts, den vorläufigen Abschluss des Lebenswerks von Eric Hobsbawm (nach “Europäische Revolutionen. 1789 – 1848”, “Blütezeit des Kapitals. 1848 – 1875”, und “Das imperiale Zeitalter. 1875 – 1914”) und führt dem Leser – gnadenlos – vor Augen, dass die Geschichte ständig lehrt, aber keine Schüler findet (frei nach I. Bachmann).
Als Gegenwartsgeschichte steht dies Buch zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit und Zukunft, überbrückt es den Abgrund zwischen dem “hier und jetzt” seiner Abfassung, und der Gegenwart des Lesers mit seiner Erfahrung einer jüngsten Vergangenheit, welche dem Autor bei Niederschrift des Werks noch Zukunft war, sowie beider Vergangenheit (die des Autors in zeitgeschichtlicher Dimension), welche Ursprung sowohl dieses, als auch jenes, Gegenwart war. So reflektiert jede Rezeption dieses Buchs auch die Perzeption einer Geschichte zwischen der Gegenwart der Niederschrift und der Gegenwart des Lesens.
Oder auch: Es ist wie der, von einer Norne zur nächsten, gerade in Übergabe begriffene Faden.
Verfasst kurz nach der Epochenwende am Ende des “Kurzen 20. Jahrhunderts” (übrigens Untertitel der englischen Originalausgabe: “The short twentieth century, 1914-1991”, veröffentlicht engl. 1994, 1995 dt.), entblättert sich dem Leser ein Panoptikum von Blut, Schuld, Schande und Ausbeutung, worin eine versagende Aufklärung und der frühe Nationalismus mündeten, von welchen diese Weltgeschichte Hobsbawms den Ausgang nahm, und welches keine besseren Aussichten im Neonationalismus ethnisch zerbrechender Staaten nach dem Ende des Endes der Geschichte (Fukuyama, 1992) verheisst, das weiss der Leser im zeitlichen Respektsabstand beider Werke: Der Humanismus hat mit den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs und dem Nationalsozialismus abgewirtschaftet, nachdem die “Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen” zu den “Nürnberger Rassengesetzen” und der “Code Civil” zum “Volksgerichtshof” geführt haben, das teleologische Endstadium des politischen Liberalismus mit seiner geradezu chiliastischen Heilserwartung, war mit dem Jugoslawienkriegen ab 1991 und dem Vertrag von Maastricht 1992, dem Zerfall des Ostblocks und der Formung der “Festung Europa” durch ihre “ausschliessende Identitätspolitik” (Hobsbawm-Terminus), beendet.
“Das Ende der Geschichte” als Zukunft hat sich (wie immer, wie bisher) als Fortschreibung der Vergangenheit erwiesen: “In den Jahren nach 1989 fanden mehr militärische Operationen in mehr Gebieten von Europa, Asien und Afrika statt, als irgend jemand erinnern konnte, wenngleich nicht alle von ihnen auch offiziell als Kriege eingestuft wurden: [‘…] Ausserdem gab es, wie sich in den frühen neunziger Jahren auf dem Balkan zeigte, keine scharfe Trennlinie zwischen regionalen Vernichtungskämpfen und einem nach alter Art spezifizierbaren Krieg, zu dem sich solche Kämpfe schnell entwickeln konnten. Kurzum, die weltweite Kriegsgefahr war nicht gebannt. Sie hatte sich einfach nur verändert.” (Zitat).
Es antwortet Hobsbawm unmittelbar Fukuyama mit Hegels Blamage vor Klio: Schopenhauer bleibt en vogue.
Bezeichnend die Dreiteilung des Werks in: “Das Katastrophenzeitalter”, “Das Goldene Zeitalter” und “Der Erdrutsch”: Weltkriege, Diktaturen, Wirtschaftskrise, danach Nachkriegszeit, Demokratien, Prosperität, und zuletzt wieder das Ausschlagen des Pendels in die Gegenrichtung.
Faites vos jeux – Die Kugel rollt doch seit einiger Zeit (seit dem Erscheinen des Buchs) von neuem und die Richtung ist dem Gegenwartsmenschen, sofern wahrnehmbar oder von ihm wahrgenommen, beängstigend: Mit der Renaissance von Neokonservatismus, Neonationalismus, wirtschaftlichem Neoliberalismus, Rassismus (der ist nicht “Neo-“, das ist immer derselbe kalte Kaffee geblieben), religiösem Fundamentalismus, Ökonomisierung politischer, kultureller, und sozialer Agenden, Beschränkung bürgerlicher Freiheiten aufgrund politischer und medialer Schürung irrationaler Ängste, nebulose Xenophobien bedienend, Ignoranz von unmittelbar notwendig zu treffenden Umweltschutzmassnahmen, wie wider besseren Wissen fortgeführte Umweltzerstörung, steuert die Welt fröhlich zurück in’s 19. Jahrhundert. Eine weitere Ära geht jetzt, unmittelbar und schmerzhaft anhand der jetzigen Weltwirtschaftskrise vorgeführt, eine Generation nach dem Sterben des Sowjetkommunismus, zu Ende, nachdem der Postkommunismus zu einem drastischen Rechtsruck in den demokratischen Systemen Europas geführt hatte, und der wirtschaftliche Wind europaweit von Sozialwirtschaft auf Neoliberalismus drehte. Marx und Engels sind tot (oder lebten quasi nie), Hajek und Friedman sind endlich (hoffentlich für immer) auch tot. Hobsbawm meinte bereits 1994: “Das Scheitern des sowjetischen Modells bestätigte die Anhänger des Kapitalismus in ihrem Glauben, dass eine Wirtschaft ohne Börse niemals funktionieren könne. Das Scheitern des ultraliberalen Modells bestätigte die Sozialisten in ihrem schon eher gerechtfertigten Glauben, dass die Belange des Menschen wie der Wirtschaft viel zu wichtig seien, um allein dem Markt überlassen zu werden.” (Zitat).
Während Keynes heute (nicht nur nach damaliger Ansicht Hobsbawms) wieder im zuletzt immer tiefer gewordenem Grab zucken sollte: “Die Wirtschaftswunder des Goldenen Zeitalters hatten auf den steigenden Realeinkommen in den “entwickelten Marktwirtschaften” beruht, denn Massenkonsumwirtschaften brauchen Massenkonsumenten, deren Einkommen hoch genug ist, um die langlebigen High-Tech-Konsumgüter kaufen zu können.” (Zitat).
Die Realität des allerdings nun gesuchten Auswegs aus der gegenwärtigen Krise: Nachdem die Gewinne privatisiert wurden, werden die Verluste sozialisiert. Die Zeit der Prosperität kam einzelnen, managenden, überdimensional, der eigentlich wirtschaftenden Menge höchstens durchschnittlich zugute, die Zeit der Krise finanziert dagegen eine Mehrheit, deren Existenz geschmälert wird, während die Portfolios angehäuften Kapitals stiftungsgeschützt dem staatlichen Krisenmanagement entzogen bleiben. Das Motto scheint gegenwärtig zu lauten: Back to the roots! Weg von der Konsumwirtschaft der Masse, zurück zur Subsistenzwirtschaft des Einzelnen.
Das Scheitern von Aufklärung und Humanismus auf ethischer Ebene, Kommunismus und Kapitalismus auf sozialer und wirtschaftlicher, wird von Hobsbawm mit detaillierten Funktionalismen angeführt, sein Stil ist dabei immer leicht lesbar, selten trocken: “Je näher die Jahrtausendwende rückte, um so deutlicher wurde, dass es wirklich angemessener wäre, wieder an die Defekte zu denken, die dem Kapitalismus zu eigen sind, als sich an der Leiche des sowjetischen Kommunismus zu weiden. Doch welcher Veränderungen bedürfte es, um diese Defekte zu überwinden? Und wäre es danach noch dasselbe System?” (Zitat).
Gestern stand die Menschheit vor einem Abgrund, heute, 15 Jahre später, ist sie schon einen grossen Schritt weiter.
Aber nicht nur die Kritik der degenerierten Wirtschafts- und Sozialpolitik der “Ersten Welt”, auch deren politische Auswirkung auf die “Zweite” bis zur kulturellen der “Dritten” sind Gegenstand der Darstellung Hobsbawms, immer aufgelockert mit vergessenen Konflikten, verdrängten (Polit-)Morden, ignorierten Massakern. Absolut keine “Ereignisgeschichte” schreibend, erweckt Hobsbawm (mir) den Eindruck, Gegenwarts- und Zeitgeschichte ist nichts als eine Abfolge mehr oder weniger in Erinnerung gebliebener mörderischer Ereignisse und Bluttaten. Angst machend: Keine Bluttaten, die irgendwann, in einer einstigen, fernen Vergangenheit, von Troglodyten an ihresgleichen, irgendwo, auf weit entfernten Inselchen, jenseits des (Erkenntnis-)Horizonts begangen wurden, sondern Bluttaten, die am Höhepunkt einer prosperierenden Zivilisation, stolz auf kulturelle und soziale Errungenschaften, nach Jahrhunderten des mühsamsten geistigen und technischen Fortschritts, an gleichen, meist nicht einmal anderen, Menschen, quasi vor der Haustür, begangen wurden und werden (notabene: In Europa, in Rückschau, bereits von und an der Elterngeneration, oder am Balkan der eigenen), eine Folge der Hirnpest des 19. Jahrhunderts: dem “Nationalismus”, jede Gleichheit, jede Brüderlichkeit überwindend, nur sich die Freiheit herausnehmend, nach Gutdünken, nach Eigeninteressen zu schlachten, virulent in Gegenwart und Zukunft, das völlig irrationale Denken und Handeln der Massen, Medien, und Politik bestimmend. Es ist alles und alles wird sein wie es immer schon war: Das egozentrische Weltbild, projiziert auf, von verantwortungslos agierender Politik und skrupellos meinungsmachenden Medien quasiideologisch mobilisierten Menschenmengen, von Plebs und Mob bis selbsternannten oder mediengemachten Pseudoeliten, eingekesselt in geistigen, kulturellen, ethnischen und nationalen Grenzen, determiniert den geschichtlichen Prozess. Der einzig feststellbare Fortschritt, die den unsäglichen Nationalismus überwindende, freie Wirtschaft, hat dagegen, im Zuge der Globalisierung, Völker gegeneinander verschachert, jede Ungleichheit zementierend (siehe die Kapitel über die Dritte Welt). Man ist also “Fortgeschritten” in den letzten soundso vielen Jahren nach 1789, man fragt sich bei der Lektüre (wie beim Erleben, Erfahren) dieser Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, wohin: Fort von Idealen (zum Materialismus der Desillusion), von Humanität (zur egoethnischen Nabelschau), von Gemeinschaft (zur Gesellschaft), von sozialem Bewusstsein (zur Gewinnmaximierung), und von moralischer Kompetenz (zum Sendungsglauben und -willen von Seilschaften – wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, medialen “Männerbünden”).
Nestroy meinte in ” Der Schützling”, (1847 – auch nicht wirklich zufällig, dieses Entstehungsjahr): “Der Fortschritt ist halt wie ein neuentdecktes Land; ein blühendes Kolonialsystem an der Küste, das Innere noch Wildnis, Steppe, Prärie. Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel grösser ausschaut, als er wirklich ist.”
Die Welt wurde nicht besser, sie wurde nur moderner.
Aufgrund des hohen Alters und des an Erfahrungen und erlebter Geschichte reichen Historikerlebens, ist dieses Werk Hobsbawms persönlichstes und beinahe resignierendes: “Es wäre also töricht, dieses Buch mit Vorhersagen über die zukünftige Gestalt einer Landschaft zu beenden, die durch die tektonischen Erschütterungen des Kurzen 20. Jahrhunderts bereits zur Unkenntlichkeit verändert wurde und die von den zur Zeit stattfindenden Erschütterungen noch unkenntlicher gemacht werden wird. Es gibt weniger Anlass, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, als Mitte der achtziger Jahre, als der Autor seine Trilogie der Geschichte des “Langen 19. Jahrhunderts (1789-1914)” mit den Worten schloss: “Die Anhaltspunkte dafür, dass die Welt im 21. Jahrhundert besser sein wird als heute, sind keineswegs gering. Wenn es der Welt gelingt, sich nicht selbst zu zerstören (durch einen Atomkrieg), ist die Wahrscheinlichkeit dafür sogar sehr hoch.” Aber selbst der Historiker, dessen Alter dramatische Veränderungen zum Besseren während seiner verbleibenden Lebenszeit kaum erwarten lässt, kann vernünftigerweise nicht die Möglichkeit ausschliessen, daß die Dinge in einem Viertel- oder halben Jahrhundert vielversprechender aussehen könnten.” (Zitat).
Das sind also die Gedanken, welche Hobsbawm mit diesem gewaltigen Meisterwerk schönster Geschichtsschreibungsprosa und Panorama des Schreckens und Grauens hervorruft, – kein Buch für Optimisten.
Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Autor: Eric Hobsbawn
Übersetzer: Yvonne Badal
Taschenbuch: 784 Seiten
Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag (1. August 1998)
Sprache:Deutsch
ISBN-10: 3423306572: amazon
ISBN-10:3-423-30657-2: buch.ch (8. Auflage)
Interview mit Eric Hobsbawm
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