Können wir die Katastrophe denken?

Es geht ja auch schon so lange gut

Die Tagespost, 18.07.2011

Die USA stehen vor dem Staatsbankrott, der Euro taumelt, riesige Schuldengebirge türmen sich auf – und dennoch leben die Menschen auch in Deutschland so, als seien Einkommen, sozialer Status, Rente, Lebensversicherung, Urlaub und Konsum ewig garantiert. Es geht ja auch schon so lange gut. Können wir uns überhaupt vorstellen, dass es einmal nicht mehr so ist? Von Johannes Seibel

Die amerikanische Nation steht vor dem Bankrott ihres Staates. Die Überschuldung der europäischen Länder stürzt den Euro in die Krise. Nicht mehr nur notorische Untergangspropheten zeichnen eine ökonomische Weltkatastrophe an die Wand, auch seriöse Ökonomen und Politiker wirken ratlos. Sie versuchen, in gigantischen Computersimulationen und mit Hilfe sogenannter Stresstests, Szenarien durchzuspielen, bis an welche Grenze das globale Finanzsystem belastbar ist, ohne zusammenzukrachen. Anhand dieser Ergebnisse justieren sie ständig neu die Stellschrauben der globalen Ökonomie – immer aber blinkt nach jeder Reparatur grell die Meldung auf: Dringender neuer Reparaturbedarf.

Gleichzeitig meldet die Wirtschaft in Deutschland Wachstum wie lange nicht mehr. Die Arbeitsmarktlage ist entspannt – im Gegenteil: Es werden Fachkräfte händeringend gesucht. Die Supermarktregale sind gefüllt. Es wird geurlaubt wie eh’ und je. Die Freizeitindustrie entwickelt ständig neue Ideen. Und jeden Tag wird ein beträchtliches Vermögen weitervererbt, das sogleich in den Konsum fliessen kann – um die Wirtschaft weiter anzukurbeln. Der Einzelne liest und hört von drohendem US-Staatsbankrott und Eurokrise – aber er spürt sie nicht in seinem Alltag. Kann er sie so überhaupt denken? Und was passiert mit Menschen, die die reale Katastrophe ständig angekündigt bekommen, die Zeichen an der Wand sehen, aber dieses Katastrophengefühl nicht durch den Alltag gedeckt ist? Werden sie schizophren, ängstlich, tollkühn, fatalistisch – und so immer weniger fähig, mit der Katastrophe umzugehen, sollte sie eintreten? Oder ist das ständige Herbeireden der Katastrophe eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, weshalb es ganz gut ist, dass die Mehrzahl der Deutschen sich nicht aus der Ruhe bringen lässt – denn Wirtschaft ist Psychologie?

Die Folgen von 66 Jahren Frieden und Wohlstand

Die meisten heute lebenden Deutschen haben nicht mehr bewusst die Inflation in der Weimarer Republik nach dem “Schwarzen Freitag” im Oktober 1929, den kompletten Verlust der Ersparnisse, das sekündliche Wertloswerden des Lohnes, der Renten und Pensionen, das Emporschnellen der Arbeitslosenzahlen am eigenen Leib erlitten – sie kennen es allein vom Hörensagen. Das heisst: Die heutigen Deutschen und vor allem der Kern ihrer Entscheider erleben deshalb das von den dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geprägte Verhalten ihrer Eltern und Grosseltern als ein historisiertes: Sparen, beim Essen nichts wegwerfen, den Schimmel vom Brot kratzen, nur so viel ausgeben wie man einnimmt, ein Sparbuch anlegen und so weiter – das alles wird nach über 60 Jahren Wohlstand und finanzieller Sicherheit der Bundesrepublik nicht mehr als zwingend rationale Verhaltensweise verstanden, die als Reaktion auf eine Katastrophe vernünftig ist.

Die europäische Friedenszeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dauert nun schon 66 Jahre – solange wie noch keine andere Friedensepoche auf dem Kontinent. Seit 66 Jahren war Deutschland in keinen Krieg mehr verwickelt. Zwischen den deutschen Einigungskriegen 1866 und 1870/71 einerseits sowie dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 andererseits lagen rund 45 Jahre, zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges gerade einmal noch 21 Jahre. Das heisst: Der Krieg als reales Erleben, das in allen deutschen Familien gegenwärtig war und dann in der Bundesrepublik und der DDR nach 1945 weitererzählt wurde, verblasst immer mehr – und die letzten Zeitzeugen werden bald gestorben sein. Können wir Deutschen also die reale Katastrophe des Krieges denken, dessen Erfahrung die Politiker der jungen Bundesrepublik am eigenen Leib erlitten hatten – und sie deshalb so sensibel machte für den Wert der sozialen Marktwirtschaft, der konsensorientierten Demokratie und der europäischen Einigung? Wenn also für die Deutschen die Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkrieges zusehends zu einer historischen wird, müssen sie damit nicht zusehends den genuin politischen Sinn für die Legitimität von sozialer Marktwirtschaft, repräsentativer, parlamentarischer Demokratie und europäischer Einigung samt Einheitswährung verlieren? Es hat sozialpsychologische Folgen, wenn die nach 1945 geborenen Generationen nicht mehr die Katastrophe in diesem Sinne denken können.

Halt, lässt sich an dieser Stelle einwenden: Es stimmt ja gar nicht, dass Deutschland seit 66 Jahren in Frieden lebt. Es herrschte bis 1989 “Kalter Krieg”, die deutsche Teilung, und nach 1989 sind wieder deutsche Soldaten im Auslandseinsatz, töten dort und werden getötet, wurden auch im deutschen Namen Bomben auf Belgrad geworfen und der Kontinent in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Balkan von einem grausamen Krieg erschüttert – Europa kann sehr wohl die Katastrophe denken. Aber tut das Europa, tun das die Deutschen tatsächlich? War der Krieg auf dem Balkan im durchschnittlichen deutschen Bewusstsein der neunziger Jahre nicht genauso weit oder nah entfernt wie all’ die anderen Kriege im Fernsehen – und hatte herzlich wenig Folgen für das europäische Selbstverständnis, das in Brüssel, London und Berlin alltäglich gelebt wurde? Oder berührt der Tod von Bundeswehrsoldaten heute in Afghanistan wirklich das Bewusstsein der Mehrheit der Deutschen, sodass sie den Krieg wirklich denken können? Eher nicht – die Kriegserfahrungen, die Deutschland trotz 66 Jahren Friedens gemacht hat, werden heute höchstens punktuell wahrgenommen, allgemein verdrängt und bleiben politisch folgenlos, eben weil die reale Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkrieges verblasst ist.

Müssen somit die heute lebenden Generationen und gerade die jüngeren Geburtskohorten in Deutschland dies sich zum Vorwurf machen lassen, dass sie so lange und gut in Frieden und Wohlstand leben? Nein, denn dies hiesse, zu fordern, dass sie die ideengeschichtlich durchaus als vorrevolutionäre Krisensymptome deutbaren gegenwärtigen ökonomisch-politischen Probleme in Europa und weltweit zwangsläufig in einer Art Revolution, sei es rechtskonservativer oder linksemanzipativer Spielart, sich entladen lassen sollten – um solche Gedankenspiele geht es nicht, wenn die Frage gestellt ist, ob die Menschen heute überhaupt die Katastrophe denken können.

Das Zeichenhafte der Katastrophe verstehen

Es geht vielmehr darum, sich dieses Widerspruchs bewusst zu werden, von der Katastrophe zu reden und sie nicht mehr wirklich erfahren zu haben – und dies aus einem ganz anderen Grund. Der Verlust der katastrophischen Erfahrung im durchschnittlichen Bewusstsein korrespondiert nämlich mit dem Verlust des Sinnes für das Zeichenhafte der menschlichen Existenz. Der allein funktionalistische Umgang mit den allfälligen Krisen nämlich verhindert Erkenntnis. Der Euro “funktioniert” nicht, die Haushalte “funktionieren” nicht, die Kirche “funktioniert” nicht, das Sozialsystem “funktioniert” nicht, also muss irgendetwas in den Mechanismen dieser Regelkreise technisch verändert werden, damit sie wieder “funktionieren” – dieses Denken ist selbst Teil des Problems, nicht seine Lösung, wenn man fragt, ob wir die Katastrophe überhaupt denken können.

Die Religionen, auch und gerade die christliche, haben für das zeichenhafte Verstehen der Existenz angesichts von Katastrophen eine reiche Sprache entwickelt. Deshalb ist ja beispielsweise die Kirche nicht etwas, dessen einwandfreies Funktionieren, sondern deren Fähigkeit zur Sakramentalität das erste und und grundlegende ist. Gott kommuniziert mit dem Menschen auf vielerlei Art – auch durch die Sprache der Katastrophen. Nicht um ihn zu quälen, sondern um ihn aufzurütteln, ihn zur Umkehr zu rufen, ihn so zu erschüttern, dass er sein Verhalten, seine Prioritäten überdenkt, sich seiner Heils- und Erlösungsbedürftigkeit bewusst wird, die ihn wiederum freier und anders mit sich selbst, mit anderen und der ihm anvertrauten Schöpfung umgehen lässt. Die Bibel ist voll von diesen Geschichten. Es braucht wieder neu Menschen – nicht nur in der Kirche –, die die Katastrophe denken lernen, indem sie die “Zeichen der Zeit” wirklich als “Zeichen” lesen, ohne entweder ins eine Extrem von Esoterik und Spiritismus, das mit diesen “Zeichen” Hokuspokus treibt – solche gibt es auch in christlichen Kreisen –, oder ins andere des blossen funktionalistischen Denkens zu verfallen, das die “Zeichen” kleinrechnet.

Eine Antwort auf Können wir die Katastrophe denken?

  • maralkos:

    Geld entsteht durch Schulden, nicht durch Arbeit, siehe div. Aussagen von em. Prof. Senf.
    Die grossen Vermögen, die Firmen, Immobilien, sind aus Schulden gemacht, d.h. die Bank sagt ok bis zum Preis von xyz. Die Schulden entstehen durch einen simplen Buchungsvorgang in der Bank. Es wird “Geld” auf dem Konto des Schuldners gutgeschrieben, also auf der Aktivseite der Bank ins plus. Ja Geld das die Bank nicht hat, auch cash nicht auszahlen kann und auch nicht wird. Die Gegenbuchung auf der Passivseite im minus ist simpel der unterzeichnete Kreditvertrag, “Sicherheiten” etc. aber kein cash!
    Fragt bei Eurer Bank nach! Ihr werdet erstaunt sein, wie sie sich um eine Antwort winden werden. Es ist das Geheimnis der Bank, wie aus nichts Geld gemacht wird, verliehen und dazu Zinsen genommen werden! So sieht die moderne Sklaverei aus und alle denken, die Schweiz lebe von den Banken. Nein, alle füttern diese Riesenkraken!
    Könnte jeder nur mit seinem Geld kaufen, sähen die Preise beispielsweise von Häusern anders aus. Die Verschuldung ist gewollt, um die Menschen zu steuern und ihnen eine “Schuld” einzureden.
    Wer alles steuert? Gute Frage. In den 24 Protokollen der Weisen von Zion ist alles beschrieben. Wieso wird immer noch genau nach diesem Plan gearbeitet, wenn er doch eine Fälschung sein soll? Da ist Klärungsbedarf!

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