Hoffnung für Levo

Nach dem Einmarsch der USA 2003 bricht im Irak das Chaos aus

Tagespost, 15.06.2011

Nach dem Einmarsch der USA 2003 bricht im Irak das Chaos aus. Schiiten und Sunniten bekämpfen sich. Tausende Christen flüchten vor dem islamistischen Terror in den Norden. In Armut und im Elend leben sie dort. Die Kirche will neue Hoffnung geben. Eine Reportage. Von André Stiefenhofer

Eine halb zerfetzte kurdische Fahne flattert auf dem Dach, der Wind pfeift über die mit roten Mohnblumen getupften grünen Wiesen, die Sonne scheint, es ist ein kalter Maitag. Afram Yokhanna steht mit einem versteinerten Gesicht vor seinem kleinen Haus im nordirakischen Dorf Levo und starrt in die Ferne. “Hier bin ich wieder.”

Fast unmerklich bewegen sich seine Lippen. “46 Jahre Bagdad und jetzt bin ich wieder hier.” Seine blaue Trainingshose schlackert wild um seine Beine. Er steht da wie angewurzelt. “Meine armen Kinder”, sagt er nach einer Weile. Dann geht er ins Haus. Dort ist es still, die Sonne malt gelbe Flecken auf das Sofa. Aus dem Hinterzimmer dringt ein Stöhnen, gefolgt von einem zärtlichen Flüstern. Hanna liegt gekrümmt auf einem Bett, ihr schmächtiger Körper verkrampft sich. Ihr Bruder sitzt auf dem Teppich neben ihr, ein Seil bindet seinen rechten Fuss an einen der Bettpfosten. Er steckt sich die ganze Hand in den Mund. “In Bagdad haben sie Medikamente bekommen.” Zärtlich streicht Afram seiner Tochter durchs Haar. “Hier gibt es nichts.”

Christen suchen Zuflucht in ihrer alten Heimat im Norden

Dieses Nichts teilen sich in Levo 156 christliche Familien. Die meisten von ihnen waren in den 1960er Jahren aus dem Nordirak nach Bagdad geflohen, weil die Zentralregierung damals einen blutigen Feldzug gegen die kurdische Bevölkerung des Nordens begonnen hatte. Doch seit dem Einmarsch der US-Truppen 2003 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg war es auch in der Hauptstadt mit der Sicherheit vorbei. Sunnitische und schiitische Milizen kämpften um die Vorherrschaft im Land. Bagdad und Mossul, die beiden grössten Städte des Irak, wurden zu Terroristenhochburgen. Separatisten, Fanatiker und einfache Kriminelle nutzten das Sicherheitsvakuum für ihre Zwecke. Die Christen suchten unter diesen Umständen wieder Zuflucht in ihrer alten Heimat, den Bergdörfern des Nordirak. Dort sorgen kurdische Milizen, die sogenannten “Peshmerga”, effektiv für Sicherheit.

Afram kam 2007 zurück nach Levo. “Ich habe meine Frau und die Kinder ins Auto gepackt und bin 14 Stunden durchgefahren”, erzählt er. Von seinem Ersparten hat sich der pensionierte Elektriker das kleine Haus gekauft, inzwischen lebt er von Almosen und den 50 Dollar, die ihm die kurdische Autonomieregierung monatlich für den Unterhalt seiner Familie zahlt. Er schläft auf dem Boden bei seinen beiden behinderten Kindern, seine Frau im Wohnzimmer auf dem Sofa. Eine Küche, ein Bad. Ein Zuhause.

Zuhair Daniel schluckt, als er Aframs Haus verlässt und schüttelt den Kopf. Zuhair war bis zu seinem Ruhestand Lehrer, heute erledigt er für die Diözese Zakho die Verwaltungsarbeit. Viele wichtige Angelegenheiten landen auf seinem Schreibtisch, denn die Diözese hat zurzeit keinen Bischof. Levo ist eine jener Pfarreien, die Zuhair meistens nur auf dem Papier zu sehen bekommt. “Das ist schockierend”, sagt er. “Erst habe ich mich gefreut, dass unsere Leute wieder zurückkommen. Aber was gibt es hier für sie?” 1961 war Levo ein blühendes Dorf gewesen, jeder hatte Arbeit. Doch damals gab es noch keine Traktoren. Heute beschäftigen die 3 500 Hektar fruchtbares Land rund um Levo gerade mal vier Familien. Der Rest sitzt fest, 20 Kilometer von der Bezirkshauptstadt Zakho entfernt. Und selbst dort ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch.

“Der soziale Druck in den Familien ist enorm”, erzählt Zuhair. “Es ist sehr schwer, die Menschen davon abzuhalten, aus ihrer Not heraus eine Dummheit zu machen.” Schmuggel, Diebstahl, Prostitution. Die Möglichkeiten für all diese “Dummheiten” sind in Zakho gegeben. Die Stadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in die nahe Türkei, kilometerlang säumen Lastwagen die Strasse von und zur Grenze. Zuhair winkt ab. “Die fahren alle nur durch. Und wenn sie Geld hierlassen, teilen sich das einige wenige Familien untereinander auf.” Familie: An diesem Wort hängt in Zakho alles – im Guten wie im Schlechten. “Vor vier Tagen haben Islamisten versucht, den Schnapsladen eines unserer Pfarreimitglieder anzuzünden”, berichtet Zuhair. “Wir wissen, wer es war und der Polizeichef weiss es auch, aber verhaftet wird niemand.” Warum? Familie. “Der Täter ist sein Neffe.”

Islamisten haben in Irakisch-Kurdistan im Vergleich zum Rest des Irak trotzdem einen schweren Stand. Sicherheit ist für die kurdische Autonomieregierung in Erbil die Währung, mit der sie Investoren ins Land holt. Gerade die vergleichsweise gut ausgebildeten christlichen Flüchtlinge will sie halten und siedelt sie vor allem in Grenzgebieten an. Ein guter Puffer für das neue Kurdistan gegen den arabischen Irak, die Türkei, den Iran. Im Gegenzug tut die Regierung alles, um für öffentliche Ordnung zu sorgen und Islamisten aus der Politik herauszuhalten. Zuhair bleibt skeptisch und hält alle islamischen Parteien für gefährlich. “Diese Fanatiker wollen uns Christen aus dem Irak vertreiben. Wenn uns die Regierung beschützen will, sollte sie weniger bewaffnete Wachen vor unsere Kirchen stellen, sondern lieber Arbeit und Wohnungen für unsere Familien schaffen!”

Die Diözese hilft und braucht doch selbst Unterstützung

200 Häuser wurden in Levo aus dem Boden gestampft, finanziert von der Zentralregierung in Bagdad. Doch jemand muss den Menschen dort Hoffnung geben. Zuhair und seine Mitarbeiter helfen, wo sie können, doch die Diözese ist selbst auf Unterstützung angewiesen. In Levo kam diese Hilfe vom katholischen Hilfswerk “Kirche in Not”. Es baute den Flüchtlingen eine Kirche und finanzierte einen Bus, damit die Kinder und Jugendlichen des Dorfes zur Schule nach Zakho fahren können. “Es ist so wichtig, dass die jungen Leute jeden Tag aus dem Dorf rauskommen”, sagt Pfarrer Jamal Yohanna. Der Pfarrer von Levo lebt in Zakho, denn von den neu gebauten Häusern im Dorf war für ihn keines reserviert. Pfarrer Jamal ist selbst ein Flüchtling aus Bagdad, erst im vergangenen Jahr wurde der ehemalige Ingenieur ordiniert. “Kirche in Not” hat versprochen, für ihn noch in diesem Jahr ein Priesterhaus zu errichten. “Wer baut, der bleibt”, sagt Pfarrer Jamal und lächelt, während er auf das Haus von Afram Yokhanna zugeht. Er hat ihm versprochen, zusammen mit seiner Familie zu beten. “Wenn die Menschen sehen, dass die Kirche in Gebäude, Fahrzeuge und Personal investiert, bekommen sie genau die Hoffnung, die uns hier fehlt.” Afram sieht den Pfarrer kommen und zum ersten Mal geht ein Riss durch seine steinernen Gesichtszüge. “Abuna”, sagt er, “Vater”. Pfarrer Jamal dreht sich noch einmal um. “Sehen Sie, was ich meine?”

Kirche.in.Not: Schweiz

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