Unwiderruflich sind Gnade und Berufung

Wort zum Dies Judaicus

Chur, 1. Januar 2011

Dieses Bischofswort ist auf den Zweiten Fastensonntag, den 20. März 2011, abgestimmt und kann auf diesen Tag hin in der Presse veröffentlicht werden.

Brüder und Schwestern im Herrn

Mit dem zweiten Fastensonntag, dem 20. März 2011, führt die Schweizer Bischofskonferenz den Dies Judaicus, den Tag für das jüdische Volk, ein. Dieser Tag hat einen doppelten Zweck. Er soll uns an die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens erinnern. Er soll ebenso die besondere Verbundenheit der Christen mit dem jüdischen Volk bewusst machen.

Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens

Die erste Lesung des zweiten Fastensonntags bezieht sich in allen drei Lesezyklen auf die Gestalt Abrams oder Abrahams (Gen 17,5). Abraham ist der Vater des Glaubens, Abraham ist der Vater des Volkes Gottes Israel. Mit ihm schliesst Gott den Bund der Beschneidung. Von ihm stammt Isaak, der Sohn der Verheissung, ab. Dessen Sohn Jakob ist der Vater des Zwölfstämmevolkes. Aus diesem Grund ist der Zweite Fastensonntag für die Rückbesinnung auf den jüdischen Ursprung des christlichen Glaubens sehr geeignet. Die Heilsgeschichte nimmt bei den Patriarchen ihren besonderen Anfang. Der christliche Glaube beruht auf diesem jüdisch-altbundlichen Ursprung und lässt sich nur von diesem Ursprung her verstehen und deuten. Im jüdischen Glauben liegt das Fundament des christlichen Bekenntnisses. Darauf macht uns der heilige Paulus in eindrücklicher Weise aufmerksam, da er auf die Vorzüge des Volkes des Sinaibundes hinweist: “Sie sind Israeliten, damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheissungen” (Röm 9,4). Aus diesem Volk stammt Maria, die jungfräuliche Gottesmutter. Von ihr und aus ihr nimmt unser Herr Jesus Christus die menschliche Natur an.

Die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk

Führt uns die erste Zielsetzung des Dies Judaicus in die Vergangenheit zurück, zum Zwölfstämmevolk und zum Ursprung des christlichen Glaubens, will uns die  Tatsache der Verbundenheit mit dem jüdischen Volk an die bleibende, immer aktuelle Verantwortung der Kirche dem jüdischen Volk gegenüber erinnern. Insbesondere die schrecklichen Übergriffe auf dieses Volk während des Zweiten Weltkrieges haben die Kirche neu in diese Verantwortung genommen und zu jenen Aussagen geführt, welche wir im Konzilsdokument Nostra Aetate 4 nachlesen können: “Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgend welcher Zeit und von irgend jemand gegen die Juden gerichtet haben.” Diese Erklärung ist heute neuerdings aktuell. Darauf muss die Kirche daher neuerdings zurückgreifen.

Die brennende Sorge heute (1)

Vor der Tatsache, dass sich der Antisemitismus eben in den vergangen Jahren wiederum stark ausgebreitet hat, sieht sich die Kirche in unserem Land von neuem herausgefordert, die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk in Erinnerung zu rufen. Angesichts der Ängste und Nöte vieler jüdischer Religionsangehöriger sieht sie sich neuerdings in die Pflicht genommen, sich entschieden “gegen alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus” zu stellen und zum Frieden und zur Versöhnung, aber auch zum Respekt und zur Achtung vor jedem Menschen, auch vor den jüdischen Mitbürgern aufzurufen. Sie möchte zudem darauf hinwirken, dass politische Meinungsverschiedenheiten und Standpunkte nicht zu pauschalen Verurteilungen führen, schon gar nicht zu einer Stimmungsmache in unserem eigenen Land.

(1) Nach dem Titel der Enzyklika Pius IX.”Mit brennender Sorge” vom 14. März 1937, welche den Nationalsozialismus anprangert.

Das bleibende Geschenk der Gnade

Hervorheben möchte ich an dieser Stelle das Wort des heiligen Paulus, welches sich auf unsere jüdischen Brüder und Schwestern bezieht: “Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt” (Röm 11,29). Ist bei Gott Gnade und Berufung unwiderruflich, kann dies nur bedeuten, dass der Gott und Vater aller Menschen seinen Heilsplan für Israel weiterführt. Gott verfolgt sein Ziel mit dem auserwählten Volk auch heute. Er lässt dieses Volk nicht fallen. Er geleitet es auch in unseren Tagen, da er das Heil aller Menschen beabsichtigt: “… er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen” (1 Tim 2,4).

Wir wollen daher dafür beten, dass diese unwiderrufliche Gnade und Berufung auch in unseren Tagen Frucht bringe, Gerechtigkeit und gegenseitige Achtung fördere, ja, sich schliesslich auf die Einheit und den Frieden aller Völker auswirke.

Mit dem Wunsch des Psalmisten “Friede wohne in deinen Mauern” (Ps 121[122],7), Friede wohne in den Mauern Jerusalems, Friede wohne in jeder menschlichen Gemeinschaft, in unserem Lande und in unserer Heimat, grüsse ich Euch herzlich verbunden mit meinem bischöflichen Segen.

Vitus Huonder
Bischof von Chur
Delegierter der SBK in der jüdisch-katholischen Gesprächskommission der Schweiz

Nostra-aetate: Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen
Mit-brennender-Sorge: Enzyklika Papst Pius XI. 1937

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