Ausstieg aus dem Phantomleben

Leben oder gelebt werden von Walter Kohl

4.02.2011, Rezension von Chritian Geyer faz.net

Beklemmend und fair: Walter Kohl, der Sohn Helmut Kohls, hat mit sehr viel Takt seine Leidens- und Befreiungsgeschichte geschrieben. In einer einzigartigen Mischung aus Autobiographie und Seelenführer legt er in seinem Buch die Karten auf den Tisch.

Es gibt ein Kapitel in diesem Buch, auf das der Verlagslektor zunächst lieber verzichten wollte. “Vielleicht sollten wir das weglassen, damit verwirren Sie den Leser, Herr Kohl – so sein erster Rat.” Doch der Autor bestand auf diesen Text, einem Kapitel, “das für mich von zentraler Bedeutung ist”. Es heisst Opferland?!“ und liest sich in der Tat als ein Schlüsseltext zum Verständnis des ganzen Buches, einer einzigartigen Mischung aus Autobiographie und Seelenführer – einzigartig, weil dem Genre der psychologischen Lebenshilfe hier eine unbedingte, persönlich beglaubigte Autorität zuwächst. Diese Autorität wird vom Autor mit sehr viel Takt ausgeübt, mit einem Höchstmass an Reflexion und Subjektivität.

Das hat Folgen für die Lektürehaltung: Man fühlt sich auf keiner Seite in die Voyeursposition gedrängt. Man staunt, wie es dem Autor gelingt, zu seinem heiklen Stoff eine Position einzunehmen, die sich nichts Bitteres oder auch nur Verdruckstes erlaubt. Ja, man sieht sich als Leser mehr als einmal vor die Frage gestellt, womit man das Vertrauen verdient, diese Leidens- und Befreiungsgeschichte erzählt zu bekommen. Denn diese Geschichte ist im Laufe von Jahren offenkundig so gründlich durchgearbeitet worden, das sie nun nicht zur Abrechnung gerät. „Ich will ehrlich sein, aber nicht verletzend. Ich will die Karten auf den Tisch legen, aber nicht nachkarten.“ Das Buch trägt nicht auftrumpfend einen Generationenkonflikt aus, es ist kein nachholendes Attentat auf den übermächtigen Vater, keine Sammlung von Indiskretionen – es nimmt ruhig und kraftvoll in den Blick, was es für Walter Kohl bedeutete, sich lange Jahre nur als „Sohn vom Kohl“ zu wissen. Es ist, so schreibt der Autor, der letzte Schritt einer Ichwerdung.

Falsche Erwartungen an den Vater

“Durch das Schreiben begann ich, meinen langjährigen Irrtum zu akzeptieren, dass ich Ansprüche an meinen Vater anzumelden hätte. Heute glaube ich, dass es keinen anhaltenden Anspruch auf einen Vater gibt. Ein Kind kann sich einen Vater wünschen, doch es kann keine Ansprüche emotionaler Art einklagen. Hier ist das Leben grausam.” Heute hat sich der Sohn mit der Szenerie seiner Kindheit versöhnt: mit dem physisch abwesenden oder auf Besuch in Oggersheim hereinschneienden, aber an den Belangen seines Sohnes kaum interessierten Vater. Man muss diese fast unheimliche Art der späten Abgeklärtheit, der therapeutischen Übererfüllung Walter Kohls mit eben dem Kapitel in Verbindung bringen, das über “Opferland” handelt.

Opferland ist eine Zone, in die der Autor partout nicht mehr zurückfallen will, “ein innerer Zustand der Selbstaufgabe. Man gibt sich selbst auf, indem man sich in die Rolle eines Opfers begibt, sich darauf zurückzieht, wie die Schildkröte sich in ihren Panzer verkriecht.” Es ist ein gänzlich reaktives, passives Leben, nur scheinbar übersichtlich und geschützt, in Wirklichkeit ein Hort des Unfriedens und der Knechtschaft, der Abhängigkeit, der Ohnmacht und der Fron. Vor jedes dieser schlimmen Worte sollte man eigentlich immer ein “gefühlt” setzen. Denn Opferland befindet sich letztlich immer nur in unserem Innern, ausschliesslich. Deshalb die Selbstanklage des Sohnes, mit falschen Erwartungen an seinen Vater durchs Leben gegangen zu sein. Es mögen die natürlichen Erwartungen eines Kindes an seinen Vater gewesen sein. Aber es hätten nicht die Erwartungen an einen Vater Helmut Kohl sein dürfen.

Der Wert seines Lebens: Fünf Millionen Mark

Vielleicht ist der Lektor einem professionellen Instinkt gefolgt, als er “Opferland” aus dem Buch kegeln wollte. Vielleicht hat er das Risiko gesehen, das mit diesem Kapitel verbunden ist: das Risiko, das darin liegt, die differenzierte Analyse auf ein paar psychologische Kategorien herunter zu kochen. Aber die enge Verzahnung mit dem biograpischen Material macht dieses Risiko dann doch berechenbar, man hat nicht den Eindruck, es mit psychologischen Allgemeinplätzen zu tun zu haben, wenn man die Phänomenologie der Opfer-Existenz liest: “Opferland überrascht mit einem angenehm ausgeglichenen Klima, ohne eine grosse Schwankungsbreite in der gefühlten Temperatur. Und man darf sich sicher vor unangenehmen Überraschungen fühlen, die das Leben nur immer wieder auf den Kopf stellen. Alles ist in sich stimmig, die Welt ist erklärbar, die Menschen berechenbar. Immer sind es die anderen oder die Umstände, die für den eigenen Schmerz und die Misere verantwortlich zeichnen. Ja, in Opferland hat man’s leicht, auch wenn man’s schwer hat: Man sitzt einfach nur auf dem Beifahrersitz und lässt sich als Zuschauer des eigenen Lebens durch den Alltag chauffieren.”

Der Weg heraus aus Opferland war lang und beschwerlich. Beklemmend die Schilderungen einer Kindheit unter lückenloser Bewachung von Sicherheitsdiensten, als in den ideologisch aufgeheizten siebziger Jahren der RAF-Terror allgegenwärtig war. Walter bezog als “Sohn vom Kohl” in der Schule ein ums andere Mal Prügel, die Eltern schickten ihn in eine unmögliche Normalität (“Keine Extrawürste”), die für ihn nur Isolation bedeutete. An der härtesten Stelle des Buches wird dem Dreizehnjährigen von der Polizei eröffnet, dass er im Falle einer Entführung freigekauft würde – allerdings nur bis zu einer Höhe von fünf Millionen Mark Lösegeld. Da er diesen Tarif mit seinen Eltern abgesprochen wähnte, verstand Walter die Welt nicht mehr.

Fixiert auf die Rolle als “Sohn vom Kohl”

Und weil sein Vater ihn mit den permanenten Bedrohungsgefühlen alleine lässt, jedes Gespräch darüber verweigert, ist Walter froh, bei einer zufälligen Begegnung Hanns Martin Schleyer sein Herz ausschütten zu können – der dann wenig später selbst Opfer eines Anschlags wurde. Nach dem Freitod seiner Mutter – das Buch liefert das erschütternde, liebevoll gezeichnete Psychogramm einer sich selbst zutiefst entfremdeten Frau – plante auch Walter, seinem Leben ein Ende zu setzen – getarnt als Tauchunfall, um die Lebensversicherung nicht aufs Spiel zu setzen. Das Gefühl für seinen kleinen Sohn hielt ihn ab, die Tat zu begehen. Heute ist er, in zweiter Ehe verheiratet, in der Autozulieferindustrie tätig.

Natürlich liest man dieses Buch auch als ein Buch über Helmut Kohl. Insbesondere die Kapitel “Meine Eltern” und Versöhnung mit dem “Sohn vom Kohl”  zeichnen ein eindringliches Porträt – desavouierend und fair zugleich. Hier finden sich Passagen wie diese: “Erst seit ich aufgehört habe, die Verantwortung für unsere Probleme miteinander einseitig meinem Vater anzulasten, fühle ich mich freier. Ich muss einfach akzeptieren, dass mein Vater sich von mir genauso ungerecht behandelt fühlte – und wahrscheinlich noch heute fühlt. Aufgrund meiner negativen Fixierung auf die Rolle als “Sohn vom Kohl” hatte ich schlicht und einfach nicht den Blick für seine Befindlichkeit. Der Stress, den es bedeutet, sich jahrzehntelang in der politischen Welt zu bewegen und zu behaupten, schien mir unbeachtlich. Das hat mein Vater mit Sicherheit als Mangel an Wertschätzung meinerseits empfunden. Nicht zu Unrecht, aus seiner Sicht. “Aus seiner Sicht sorgte er nach besten Kräften für seine Familie.“

Schmerzen in Kauf nehmen

Auf der anderen Seite steht die Drastik der Darstellung Helmut Kohls als machtfixiertem Kontrollmenschen, persönlich von einer “tief greifenden Unsicherheit” geprägt: “Der Kohlianer war für meinen Vater die lebenserhaltende Spezies für seinen eigenen Kosmos – da machte er keinen Unterschied zwischen Privatsphäre, Politik und öffentlichem Leben. Sein Misstrauen und seine Angst, dass sich Dinge ausserhalb seiner Kontrolle entwickeln könnten, trieben ihn permanent an, durch sein Revier zu streifen, nach dem Rechten zu sehen und Hinweise der Bestätigung seiner Souveränität zu finden.”

Walter schildert das Verhältnis zu seinem Vater als eine unendliche Geschichte vorsichtiger Annäherungen und brüsker Zurückweisungen. Das Tischtuch sollte zerschnitten sein, als der Sohn es wagte, vor zwei Jahren ein gemeinsames Interview mit Lars Brandt und Sven Adenauer zu geben. Eigene Interviews zu geben gehört sich für den “Sohn vom Kohl” nicht, befand der Vater – ganz unabhängig vom unanstössigen Inhalt. “Mein Vater”, heißt es am Schluss des Buches, “hat sich inzwischen vollständig von mir losgesagt. Auf meine direkte Frage: “Willst du die Trennung?”, antwortete er mir knapp mit “Ja!” – damit waren für mich alle weiteren Interpretationsmöglichkeiten ausgeschlossen.”

Der Untertitel des Buches “Leben oder gelebt werden” heisst “Schritte auf dem Weg zur Versöhnung”. Über Seiten wird dieses Problem der biographischen Versöhnung – mit sich selbst und den Umständen, in denen man steckt – als die einzige Chance eines Lebens traktiert, das leben und nicht gelebt werden will. Das Buch enthält den Rat, für den Ausstieg aus dem Phantomleben wenn nötig einen hohen Preis zu zahlen, Schmerzen in Kauf zu nehmen. Der Friede, den Walter Kohl gefunden hat, kann vom erklärten Trennungswunsch seines Vaters nicht mehr zerstört werden. “Denn es geht nicht um meinen Vater, es geht um mich.” Hier hat jemand Jahrzehnte gebraucht, um diesen Satz aufschreiben zu können.

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