Banker und menschenfreundlicher Ökonom

Mikrokredite: Ein Weg aus der Armut
GEO-Nr. 10/06, von Jens Schröder

Die Grameen-Bank von Muhammad Yunus unterstützt in Bangladesch Hunderttausende arme Dorfbewohner mit fairen Krediten. GEO-Autor Jens Schröder porträtiert den Mann, der jetzt den Nobelpreis erhielt und lässt ihn in einem Audio-Interview im O-Ton zu Wort kommen

Sajeda Begum hat Schulden. Sie weiss nicht genau, wie lange schon. Vielleicht 16 Jahre. Oder 17? “Als ich den ersten Kredit aufgenommen habe, konnte meine Tochter gerade laufen”, erinnert sich die 45-jährige Reisbäuerin aus dem Dorf Delduar in Zentral-Bangladesch. “6000 Taka, fast 100 Dollar waren das damals. Ich war aufgeregt.” Seither war Sajeda Begum nie mehr schuldenfrei.

Muhammad Yunus ist reich. Die von ihm gegründete Grossbank mit Sitz in der Hauptstadt Dhaka arbeitet seit mehr als 20 Jahren profitabel. Sie verdient an den Zinsen, die Sajeda Begum und Hunderttausende andere arme Landfrauen jede Woche in windschiefen, selbst gebauten Blechverschlägen am Rande ihrer Dörfer an die Mitarbeiter der Grameen-Bank bezahlen müssen. Noch nie hat die Bank einer in Not geratenen Kundin ihre Schulden erlassen. Seit Jahren gilt Yunus als Anwärter auf den Nobelpreis. Für Wirtschaft? Nein, für Frieden. Sajeda Begum und Muhammad Yunus, die Bauersfrau und ihr Bankier, sind Teil einer kunstvollen Symbiose von knallhartem Geschäft und sozialem Fortschritt. Das Modell ist so erfolgreich, dass es weltweit kopiert wird. Und Yunus ist sein Erfinder.

Zauberformel “Mikrokredite”

“Mikrofinanzierung” heisst das anfangs viel belächelte Konzept des Ökonomie-Professors aus einem der ärmsten Länder der Erde. Eine Idee, die für konservative Betriebswirte noch heute so unfassbar scheint wie für Mechaniker die Quantenphysik: Yunus verleiht Geld an Menschen, die in anderen Banken schon an der Eingangstür abgewiesen werden. Er borgt ihnen Beträge, die so gering sind, dass andere Darlehensgeber dafür noch nicht einmal einen Bleistift aus der Schublade holen würden. Muhammad Yunus bevorzugt als Kunden Frauen, obwohl die in einem traditionell muslimischen Land wie Bangladesch nur selten über Berufserfahrung verfügen. Damit seine Kundinnen ihre winzigen Raten pünktlich zahlen, schickt er jede Woche Tausende Mitarbeiter mit Fahrrad-Rikschas, Mofas oder zu Fuss übers Land, um Zins und Tilgung persönlich bei den Schuldnern abholen zu lassen. Kann so etwas nach allen Regeln der Kreditwirtschaft funktionieren?

Glückliche Schuldnerin: Nazma Begum will in ihrem Heimatdorf Narayangonj Hühner züchten. Dafür hat ihr die Grameen-Bank Geld geliehen – und Vertrauen geschenkt.

Heute beschäftigt Muhammad Yunus 18000 Angestellte in 2000 Dorffilialen. Er macht Geldgeschäfte mit sechs Millionen Familien, die fast alle in Armut leben. Allein 2006 wird er mit insgesamt 800 Millionen US-Dollar Tausende von kleinen Hühnerfarmern und Reisbauern finanzieren, ihnen den Kauf von Nähmaschinen oder Teebuden am Rand lehmiger Feldwege in den Dörfern von Bangladesch ermöglichen. Und er bekommt 98,4 Prozent des verliehenen Geldes pünktlich und mit Zinsen zurück. “Die meisten Banken geben Kredite nur an Leute, die schon Geld besitzen und ihnen Sicherheiten bieten können”, sagt Yunus. “Sie gehen bei jedem Kunden vorsichtshalber davon aus, dass er mit ihrem Geld durchbrennen will. Wir nehmen einfach das Gegenteil an und liegen in 98,4 Prozent der Fälle richtig. Das ist doch viel effizienter.”

FAZnet:   Aus der Armutsfalle

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