Kirchentreuer Denker
Persönliche Erinnerungen an Leo Kardinal Scheffczyk (1920–2005)
dessen Todestag sich am 8. Dezember zum fünften Mal jährt.
Von Erzbischof Alfons Nossol
Als ich mich – im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der Katholischen Universität Lublin – für eine Gastprofessur in Mainz aufhielt, erreichte mich im Jahre 1977 ein Anruf von Professor Leo Scheffczyk aus München. Er war damit beschäftigt, im Rahmen seiner Fakultät Gastvorträge zu organisieren, und war daran interessiert, mich für einen solchen Vortrag zu gewinnen. So begegnete ich in München Leo Scheffczyk erstmals persönlich; das Thema meines Vortrages war die zeitgenössische polnische Theologie, die ich sowohl in ihrer originalen Eigenständigkeit als auch in den Aspekten ihrer Abhängigkeit von der westlichen Theologie darzustellen versuchte. Ich hatte damals ziemlich viele Zuhörer, darunter auch nicht wenige Professorenkollegen. Die anschliessende Diskussion war weit ausgreifend. Scheffczyk hatte die Moderation, und ich staunte über seine Offenheit, über alles reden zu lassen. Da ich bei Leo Scheffczyk zur Übernachtung untergebracht war, hatte ich Gelegenheit, mich mit ihm bis tief in den Abend hinein zu unterhalten. Dabei fragte er mich auch nach gewissen Dingen, die bei der Diskussion angeklungen waren; er wollte wissen, wie ich dazu stehe.
Tradition ist nicht das Hüten der Asche
Bei dieser ersten Begegnung konnte ich mich davon überzeugen, dass Scheffczyks Denken sich durch grosse Festigkeit und Kirchentreue auszeichnete. Dies ging bei ihm aber in bemerkenswerter Weise zusammen mit einem dynamischen Traditionsbegriff: Tradition bedeutete für Leo Scheffczyk nicht das blosse Hüten von Asche; vielmehr ermöglichte aus seiner Sicht die Tradition, überhaupt vordringen zu können bis zur ursprünglichen “Glut des Feuers”. Scheffczyks Traditionsbegriff beinhaltete organische Entwicklung und war transparent für das Authentische und Ursprüngliche des Glaubensgutes. Dies hat mich damals sehr angesprochen und auch mein weiteres theologisches Denken mitgeprägt. Professor Scheffczyk freilich hatte darunter zu leiden, wenn man diese Aspekte seines theologischen Denkens verkannt hat, um ihn dann einseitig in eine konservative Ecke zu schieben, der er so eigentlich nicht angehörte. Dank seines ausgewogenen und zugkräftigen Traditionsbegriffes konnte Scheffczyk viel leisten für die Aufrechterhaltung der gesunden Lehre. Auch Leo Scheffczyks Veröffentlichungen nahm ich eingehend zur Kenntnis; zahlreiche davon liess er mir auch nach unserer ersten persönlichen Begegnung immer wieder zukommen. Als nach dem Tod Hans Urs von Balthasars der von diesem gegründete Johannes-Verlag (in dem auch ich unter Balthasars Aufsicht ein Buch publiziert hatte) aus steuerrechtlichen Gründen alte Bücherbestände loswerden musste und mir auf eigene Kosten viele Bücher zum Verteilen unter meinen Studenten zur Verfügung stellte, waren auch einige Publikationen von Leo Scheffczyk darunter. So konnte ich mich kontinuierlich davon überzeugen, dass Leo Scheffczyk ein grosser und tiefgreifender Theologe war. Ich bewunderte ihn vom ersten Augenblick an. Auch für meine Studenten bedeuteten die Bücher eine wertvolle und freudige Bereicherung. Gerade Scheffczyks Schriften (wie zum Beispiel sein Buch “Auferstehung“) wurde für manch einen zum Anlass, die deutsche Sprache gründlicher zu erlernen. Auf diese Weise hat Scheffczyk nicht wenig zur theologischen Bildung in Schlesien beigetragen. Während meiner Lehrtätigkeit in Lublin, die auch Tätigkeiten an der Universität Oppeln und an der Päpstlichen Theologischen Fakultät Breslau mit sich brachte, bekam ich von der Universität die Freiheit und auch die finanzielle Möglichkeit, verschiedene Theologen aus dem Westen – darunter auch namhafte Denker wie Karl Rahner oder Hans Urs von Balthasar – zu Gastvorträgen einzuladen. Mehrmals versuchte ich auch, Leo Scheffczyk dafür zu gewinnen, wozu er grundsätzlich auch bereit war, aber leider ist dies aus terminlichen Schwierigkeiten nie dazu gekommen. Meine Sprachenkenntnisse ermöglichten es mir, die Ausführungen der eingeladenen Theologen stets simultan ins Polnische zu übersetzen. Auf diese Weise bekam ich mit, wie die beiden eben genannten Theologen über Leo Scheffczyk dachten. In der Tat wurde Leo Scheffczyk allseits hoch geachtet. Hans Urs von Balthasar meinte einmal unverhohlen zu mir: “Was Scheffczyk schreibt, kann man ohne weiteres drucken lassen.” Auch Karl Rahner verbarg nicht seine Anerkennung. Ich habe noch sinngemäss in Erinnerung, was seine Meinung über Leo Scheffczyk war; sie kann etwa folgendermassen wiedergegeben werden: “Die Einstellung Scheffczyks wird allgemein als traditionell bezeichnet. Das will jedoch nicht besagen, dass er nicht auf der Höhe der Zeit sei. Scheffczyk ist ganz aktuell, und dies in tiefgehender, gründlicher und inhaltsreicher Auseinandersetzung. Aber er äussert es nicht auf jene Weise, wie es die meisten zeitgenössischen Theologen zu tun pflegen. Er hat seinen traditionellen Stil, aber er steht mitten in der modernen Theologie.” Angesichts solcher Einschätzungen konnte ich mich rühmen, in Leo Scheffczyk einen Dogmatiker von Rang vor mir zu haben, der zugleich mein Landsmann war.
Den Oberschlesier zog es in die Heimat
Doch zu einer weiteren persönlichen Begegnung mit ihm kam es erst, nachdem er zum Kardinal ernannt war. Im Rahmen eines Besuches in Oberschlesien im Herbst 2001 hielt er nämlich den Festvortrag zur Eröffnung des neuen akademischen Jahres an unserer Theologischen Fakultät in Oppeln. Das Thema war die zeitgenössische Ekklesiologie. Ich übersetzte die Ausführungen ins Polnische. Der Vortrag war herrlich, die Ausführungen inhaltlich sehr konzentriert. Es gelang Kardinal Scheffczyk, seine Hörer in das Herz des Geheimnisses der Kirche zu führen und ihnen die Freude am Kirche-Sein spürbar zu vermitteln. Die gut tausend Hörer fassende Aula war gefüllt. Unter den Zuhörern befanden sich auch etwa zweihundert Priesteramtskandidaten. Leider war es nicht möglich, länger mit Kardinal Scheffczyk ins Gespräch zu kommen, da sein Reiseplan zur Weiterfahrt in seine Heimatstadt Beuthen drängte. Es freute ihn aber, in seiner Heimat einer solchen Fakultät zu begegnen. Er interessierte sich lebhaft dafür, wie diese Einrichtung in einer ehemaligen preussischen Militärkaserne entstanden war. Man sah ihm die Freude an, wieder einmal in Oberschlesien sein zu dürfen. Irgendwie lebte in ihm – so mein Eindruck – die Erinnerung an seine Jugendzeit seelisch auf, kam er hier doch sozusagen zu den Quellen seiner eigenen Lebensgeschichte zurück. Ein gewisses Gefühl, in der “Heimat“ zu sein, war an ihm ablesbar. Es beruhte aber auch auf Gegenseitigkeit, denn allgemein hat man bei seinem Vortrag und bei den sonstigen Begegnungen gespürt: Scheffczyk ist einer von uns. Was Scheffczyk als Theologen und als Persönlichkeit auszeichnet, kommt mir von meinem eigenen wissenschaftlichen Werdegang her sehr nahe, da ich über die “cognitio Dei experimentalis“ bei Johannes Hessen promoviert habe. Schon vom ersten Augenblick an – und dann durchgehend bei der Lektüre seiner Schriften – spürte ich bei Scheffczyk, dass das Mysterium, welches er theologisch zu erfassen und zu artikulieren versuchte, ihn persönlich auch tief berührt hat. Dieser Grundausrichtung seines Denkens kam zweifellos seine Verwurzelung in der schlesischen Mentalität zugute, der Scheffczyk zeit seines Lebens treu blieb – einer Mentalität, die ja eine Brücke zwischen Ost- und Westeuropa darstellt. Schlesien wird oft als ein Land des denkenden Herzens und des liebenden Verstandes bezeichnet: Das hat auch Scheffczyk ganz und gar verkörpert, vielleicht ohne selbst sich dessen so recht bewusst zu sein.
Er lebte aus einer Gotteserfahrung, und insofern betrieb er, wie mir scheint, eine Art “Erfahrungstheologie”. Seine Geistesart war so, dass sie sich gemäss meiner Einschätzung nur in Mystik hätte fortsetzen können: Gemäss meinem Eindruck lebte Scheffczyk das, was Karl Rahner forderte, dass nämlich der Christ der Zukunft Mystiker sei oder es werde ihn überhaupt nicht geben. Scheffczyks Glaube war kein Glaube, den der Zweifel nährt. Bei vielen Theologen hingegen ergibt sich die Glaubenstiefe aus einem Sich-Durchkämpfen durch viele Zweifel. Doch bei Leo Scheffczyk war für den Zweifel kein Raum; an der Wurzel seines Denkens stand vielmehr eine innere Glaubenserfahrung. Dies führte zu einer Geradlinigkeit, die ihm freilich manche übel nahmen. Dieses Verwurzelt-Sein des äusseren theologischen Denkens im inneren gläubigen Leben verlieh ihm eine ungeheuere Überzeugungskraft. Zugleich konnte Scheffczyk deshalb auch sehr stabil sein in der Entwicklung seines Denkens; er war nicht angewiesen darauf, irgendwelchen Modeströmungen nachzulaufen oder sein theologisches Sprechen äusserlich attraktiv zu machen. Man merkte ihm an, dass das Erkenntnisorgan seiner Theologie der Glaube war. Theologie war für ihn einfach Glaubenswissenschaft, und als solche innig und unzertrennlich verbunden mit der sapientialen (gnadenhaft eingegossenen) Dimension einer “cognitio Dei experimentalis“, also einer inneren Gotteserfahrung, in der Scheffczyk, wie mir scheint, in besonderem Masse verankert war. Es zeigte sich bei ihm eine gläubige Intuition – das fiel mir sofort auf. So begegnete ich in Scheffczyks Theologie immer einem gewissen “Etwas“, das sie aus vielem Sonstigen heraushebt.
Zweifellos gehört Leo Scheffczyk zu den bedeutendsten Theologen der neueren Zeit.
Theologisches.net: Kardinal Scheffczyk
Obgleich man ob seiner “Einfalt” belächelt wird, finde ich die Worte von Bischof Nossol sehr treffend und zeigen die Verbundenheit sowohl des Kardinals Scheffczyk als auch des Bischofs Nossol zwischen Heimat und Glaube. Beide Begriffe sind heute aus der Mode.
“Scheffczyks Glaube war kein Glaube, den der Zweifel nährt.Bei vielen Theologen hingegen ergibt sich die Glaubenstiefe aus einem Sich-Durchkämpfen durch viele Zweifel. Doch bei Leo Scheffczyk war für den Zweifel kein Raum; an der Wurzel seines Denkens stand vielmehr eine innere Glaubenserfahrung. Dies führte zui einer Geradlinigkeit, die ihm freilich manche übel nahmen. Dieses Verwurzelt-Sein des äußeren theologischen Denkens im inneren gläubigen Leben verlieh ihm eine ungeheure Überzeugungskraft. Zugleich konnte Scheffczyk deshalb auch sehr stabil sein in der Entwicklung seines Denkens;er war nicht angewiesen darauf, irgendwelchen Modeströmungen nachzulaufen oder sein theologisches Sprechen äußerlich attraktiv zu machen. Man merkte ihm an, daß das Erkenntnisorgan seiner Theologie der Glaube war.”
Als ich einmal Kardinal Scheffczyk in Osnabrück traf, sagte er zu mir wie zu einem alten Bekannten: Sie müssen auch wieder einmal nach Beuthen O/S fahren und die Verbundenheit mit den Menschen unserer Heimat wahren.