Aachen: Tief bewegt!

Schlussbetrachtung zur diesjährigen Heiligtumsfahrt

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Wer nach Aachen zur “Heiligtumsfahrt” pilgerte, um Wunder zu erleben, musste zwangsläufig enttäuscht werden. Oder doch nicht? Schlussbetrachtung zur diesjährigen Heiligtumsfahrt.

Von Michael Hesemann

Aachen, kath.net, 01. Juli 2014

Wer nach Aachen zur “Heiligtumsfahrt” pilgerte, um Wunder zu erleben, musste zwangsläufig enttäuscht werden. Oder doch nicht? Nein, behauptet wurde nun wirklich nichts, was den Bischof der Karlsstadt, Dr. Heinrich Mussinghoff, oder das Domkapitel kompromittieren könnte.

Fast schien es, als würde die Frage nach der historischen Authentizität der Reliquien sogar bewusst vermieden, um sich nicht angreifbar zu machen. Denn selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sie 2000 Jahre alt sind, lässt sich nun mal wirklich nicht beweisen, welche Frau das “Marienkleid”, welches Kind die “Windeln Jesu” und welcher Gekreuzigte das “Lendentuch Jesu” getragen hat oder wessen Haupt einst in das “Enthauptungstuch Johannes des Täufers” gewickelt war. Darum geht man auf “Nummer sicher” und betont, es handle sich eben doch nur um Symbole. Das erlaubt jedem, an ihre “Echtheit” zu glauben oder auch nicht. Die Aufgabe der Kirche ist es, den Glauben an Jesus Christus zu vermitteln, nicht, historische Fragen zu beantworten. Und auch “Wunder” sind Geschenke an den Gläubigen; nur der Schamanismus glaubt an die Zauberkraft von Dingen.

Und doch: Wer in den letzten zehn Tagen nach Aachen kam, wurde Zeuge eines Wunders. Er erlebte, wie lebendig und kraftspendend Kirche sein kann. Er erahnte, wie wahr und aktuell die Worte Jesu, “wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” (Mt 18,20) auch heute noch sind.

Die Aachener Heiligtumsfahrt 2014 war, vor allem anderen, eine heilsame Erfahrung gelebten christlichen Glaubens. Eine Glaubenserfahrung, wie sie in dieser Intensität auf Katholikentagen und katholischen Kongressen selten ist. Vielleicht, weil es hier nicht um den Menschen oder die Kirche ging, sondern um den Anfang und das Ende allen Seins: um Jesus Christus.

So lag von Anfang an ein Segen auf der Aachener Heiligtumsfahrt, die mit mindestens 125.000 Pilgern (andere Schätzungen gehen von bis zu 150.000 aus) ihre letzten Vorgänger (2000: 90.000 Pilger; 2007: unter 90.000 Pilger) weit übertroffen hat. Und sie alle machten die eine Erfahrung: Veni, vidi, credidi (Ich kam, ich sah und ich glaubte)! Nicht unbedingt an die “historische Authentizität”, ganz gewiss aber an die Segenskraft der Heiligtümer. Denn die ganzen Tage über lagen Freude und Heiterkeit, Gemeinschaft und Aufbruchsstimmung in der Aachener Luft. Selbst das Wetter spielte, von den letzten beiden Tagen einmal abgesehen, mit. Grabenkämpfe, ein beliebter Sport unter Katholiken, blieben nahezu aus. Hier standen Modernisten und Traditionalisten, Biker und Grabesritter, Couleur –Studenten und KjGler, Reformkatholiken und Piusbrüder, aber auch orthodoxe und koptische Christen harmonisch in der langen Warteschlange, um, ausnahmsweise ohne Hektik, die Reliquien verehren, ihre Andachtsgegenstände anrühren und ihre Gebete sprechen zu können. Wenn die netten Domschweizer vor das Portal traten und sich entschuldigten, dass es wieder einmal länger mit dem Einlass dauerte, gab es dafür sogar Applaus. Kein Gedränge, keine Ellbogen, keine Hektik, sondern Harmonie und Andacht – das war das Wunder von Aachen!

Das Geheimnis des Erfolges dieser Heiligtumsfahrt war ein Programm, das nicht etwa vom Wesentlichen ablenkte (wie man es sonst gerne versucht), sondern hinführte: konzentriert, stringent und von geradezu atemberaubender Sinnlichkeit. Selten wurden Pilgermessen ausserhalb der Papstreisen in Deutschland durch so herrliche Kirchenmusik bereichert, von der Schola des Aachener Domes – Deutschlands ältestem Domchor! – bis hin zu einem hinreissenden Kantor, von Posaunenklängen, wie sie zur Krönung der deutschen Kaiser nicht herrlicher erschollen bis zum subtilsten Orgelspiel, wenn zum Abschluss der Komplet das “‘Guten Abend, gut Nacht'” von Brahms erklang, das gut tausend Gläubige mitsummten.

Zehn Tage lang wurde Aachen zum Treffpunkt der Weltkirche, drückten sich die Kardinäle Turkson, Koch, Gomez, Stella, Marx und Meisner, Nuntius Eterovic sowie die Bischöfe und Erzbischöfe Borsch, Hegge, Wiesemann, Trelle, Becker, Overbeck, Koch und Ackermann gewissermassen die Klinke in die Hand, um – jeder von ihnen! – die Gläubigen mit der Hauptreliquie, dem Lendentuch Jesu, zu segnen. Da gab es Gottesdienste für ökologisch angehauchte Fahrradpilger ebenso wie für Biker in schwarzer Lederkluft, eine ökumenische Taufgedächtnisfeier unter Teilnahme der Griechisch-Orthodoxen und der Protestanten, einen “Tag der Kinder” und eine “Nacht der Jugend”, ja sogar einen Gottesdienst für russisch-orthodoxe Pilger aus Georgien. Gleich drei Karlsausstellungen am Platz sorgten dafür, dass auch die Geschichtsfreunde unter den Pilgern “auf ihre Kosten kamen”, drei Konzerte, ein Musical, ein Film- und ein Theaterabend rundeten das Angebot für die Kunstfreunde ab. Was dagegen wohltuenderweise völlig fehlte, war der sonst so unvermeidliche Klamauk unter dem Motto “liturgische Tänze für Schwangere”. Die Heiligtumsfahrt in Aachen war abwechslungsreich, aber nie peinlich, bemüht, ein breites Publikum in die Kirche zu holen, aber nie platt. Das allein schon muss den Veranstaltern, allen voran Bischof Mussinghoff, Domprobst Poqué und Wallfahrtsleiter Vienken hoch angerechnet werden. Selbst das Wallfahrtslied “Zieh in das Land, das ich dir zeigen werde” war ein Hochgenuss und hätte es verdient, in die nächste Auflage des “Gotteslob” aufgenommen zu werden.

Ein Glück und ein Segen, denn im Vorfeld war durchaus auch Besorgnis zu hören gewesen. So wurde befürchtet, das Wallfahrtsmotto “Zieh in das Land, das ich Dir zeigen werde” könne auch als Signal für einen kirchenpolitischen Aufbruch in das Neuland des Zeitgeistes missverstanden werden. Auch das Wallfahrtsbuch “Glaubensstoff. Das Reisebuch” war nicht ganz unumstritten. Schwammige Aussagen (“Wahrscheinlich unecht, aber antik – und voller Lebendigkeit” etwa zum Sudarium von Kornelimünster), gewöhnungsbedürftige Bildvergleiche (Marienbild neben Nackter mit Baby) und mehr als fragwürdige Kunstinterpretationen (“Das biblische Abendmahl ist durch seine liturgische Gestaltung mit der Zeit inhaltsleer geworden”) klangen eher nach Ausverkauf denn nach Erneuerung des Glaubens. Da waren wohl die vier Autoren, allesamt Religionspädagogen, ein wenig über das Ziel hinausgeschossen! Wie gut, dass von solcher Provokation während der Heiligtumsfahrt wenig zu sehen war. Selbst als die Jugend nach einer schönen Lichterprozession zum “Sit in” in den Dom geholt und dort ferienparkmässig animiert wurde, war zumindest die Ausleuchtung des karolingischen Oktagons so atemberaubend, dass der Kontrast zwischen der selbstverständlichen Erhabenheit des Gebäudes und der zwanghaften Lockerheit der Animateure umso unerträglicher erschien; man sehnte sich unwillkürlich nach “Nightfever”!

So verspürte jeder, der am Sonntagabend an der Abschlussandacht teilnahm, auf der ein letztes Mal die vier Heiligtümer “gewiesen” und verehrt wurden, eine tiefe Wehmut – und den festen Wunsch, in sieben Jahren wieder dabei zu sein.

Umso glücklicher, wer am Sonntagabend noch den Weg ins benachbarte Herzogenrath fand, wo, ebenfalls zum Abschluss der Heiligtumsfahrt, der geniale Romancier Martin Mosebach von Pfarrer Guido Rodheudt zur einem vorgerückten “Montagsgespräch” geladen war. Mosebach hatte am Tag zuvor im Aachener Dom die Reliquien verehrt und das Wallfahrtsgeschehen beobachtet. Doch nicht von ihnen wollte er sprechen, sondern vom greifbaren Wunder der katholischen Kirche, von Mirakeln und Mysterien, denen er speziell in Rom und Neapel begegnen konnte. Weil er damit die Heiligtumsfahrt in einen grösseren Kontext stellte, trug sein Vortrag “der geerdete Himmel” wiederum zu ihrem Verständnis bei.

“Es geht bei der Reliquienverehrung nicht um einen Totenkult, sondern um das Leben”, stellte Mosebach fest: “Sie ist der Versuch, den Heiligen zur himmlischen Sphäre zu folgen”. Was ihn an den Aachener Reliquien am meisten beeindruckte, war ihre ergreifende Einfachheit: Uralte Stofffetzen, unübertreffbar in ihrer kernhaften Schlichtheit, die in prachtvollen goldenen Reliquiaren verwahrt und in einem Haus aus farbigem Glas verehrt werden. Zur Frage der historischen “Echtheit” meinte Mosebach: “Wir müssen der Tradition vertrauen. Es kann sein, es spricht nichts dagegen”. Würden die Evangelien sonst alles Überflüssige in ihrer ornamentlosen Prosa vermeiden, sei es geradezu auffällig, dass Tücher wie die Windeln Jesu oder das Grabtuch erwähnt würden – für Mosebach ein Indiz, ja eine Anspielung darauf, “dass man sie hatte”. Ein Kernthema des Christentums sei die Dinglichkeit der Erlösung, die materielle Berührung mit Gott. Schliesslich war das Neue dieser Religion nicht etwa Jesu Lehre, die man ähnlich auch in den Schriften der Propheten fand, sondern eben der Eintritt Gottes in das Materielle der Menschheitsgeschichte. Jeder Versuch, das Christentum zu spiritualisieren oder sich “von der Last der Geschichte zu befreien”, habe unweigerlich in die Häresie geführt, die Trennung vom Heilsereignis. Statt zur “Veredelung des Christentums” sei es dabei zu einer “Herauslösung aus dem Greifbaren“ gekommen. Dabei sei doch gerade auch im christlichen Glaubensbekenntnis mehr von der Geschichte als von der Lehre Jesu die Rede, was uns schon erahnen lässt, welche Priorität die Apostel und Kirchenväter gehabt hätten. Eine noch intensivere Anschaulichmachung der Menschwerdung Gottes sei in der Reliquienverehrung zu finden, gewissermassen als Fortsetzung der Evangelien mit anderen Mitteln. Hat denn der Reliquienkult nicht auch etwas Fetischistisches an sich? “Man kann auch aus einem Wort einen Fetisch machen”, erwiderte Mosebach. Und was die Wunder betrifft: “Katholisch ist die Familiarität mit dem Übernatürlichen!”

Wer übrigens keine sieben Jahre warten möchte, hat im September noch einmal die Möglichkeit, an einer Heiligtumsfahrt teilzunehmen; nicht in Aachen freilich, sondern in Kornelimünster. Vielleicht war es auch unserem Bericht “Die vergessene Wallfahrt” zu verdanken, dass zwar insgesamt keine 10.000 Pilger in das pittoreske Voreifelstädtchen mit der 1200jährigen Abtei kamen, dafür aber seine Kirche am Sonntagnachmittag aus allen Nähten platzte. Aus Wettergründen hatte man die Abschlussfeier der siebentätigen Juni-Wallfahrt nicht, wie geplant, im Freien abhalten können. So hatten einige hundert Pilger die Chance, das Schürztuch Jesu, sein “Grabtuch” und sein “Sudarium” genanntes, grossflächiges Muschelseidentuch aus nächster Nähe zu verehren. Während man in Aachen am Montagmorgen die Reliquien schon für 2021 versiegelte, wurden sie in Kornelimünster nur weggeschlossen. Vom 14. bis 21. September, zur Korneli-Oktav, findet dort der zweite Teil der lokalen Heiligtumsfahrt statt.

Historiker Michael Hesemann im Interview: „Aachener Reliquien historisch ‘authentisch’?

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