Kein Platz für Mittelmässigkeit
Geistliches Amt mit Ausstrahlung leben
Papst Franziskus zeigt auf, was Hirtendienst heute bedeuten könnte.
Quelle
Die Tagespost, 09, Mai 2014, Von Andreas Schmidt
Es mangelt heutzutage nicht an professionellen Analysen zur kirchlichen Situation, zum Wandel der Strukturen und den damit verbundenen Herausforderungen für das priesterliche Amt. Solche Studien und Reflexionen haben sicherlich ihre Berechtigung. Häufig kann man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass hier oft nur sattsam Bekanntes wiederholt und selten wirklich Neues gedacht wird. Ganz anders die Worte, die Papst Franziskus an Priester und Seminaristen richtet.
Sie haben etwas Erfrischendes, aufrüttelnd Anderes. Manchen sind sie zu wenig intellektuell, andere tun sich schwer, weil sie kirchenpolitisch nicht klar genug eingeordnet werden können, wieder anderen sind sie zu direkt und scharf formuliert. Aber zweifelsohne übt der von Papst Franziskus angeschlagene Ton eine Faszination aus. Das Priesterbild, wie er es in seinen Ansprachen mal humorvoll, mal sehr eindringlich und ernsthaft skizziert, ist eine anspruchsvolle und mutige Vision. Sie ist eine prophetische Antwort auf das, was die Kirche und die Welt heute von einem Priester erwartet. Es lohnt sich zu fragen, was uns diese Vision speziell für den aktuellen deutschsprachigen Kontext zu sagen hat.
In seiner jüngsten Ansprache an die Seminaristen stellte Papst Franziskus die Radikalität der Christusnachfolge in den Mittelpunkt: “In der Nachfolge Jesu gibt es keinen Platz für Mittelmässigkeit!”
Er wies auf die Gefahr hin, dass Priester auf “halbem Wege” stehen bleiben, dass sie blosse Funktionäre und Bürokraten, statt wirkliche Hirten sind. Ähnliche Worte hatte er bereits in der Chrisammesse vor einem Jahr gefunden: “Der Zwischenhändler und der Verwalter ‘haben bereits ihren Lohn‘, und da sie ihre eigene Haut und ihr Herz nicht aufs Spiel setzen, empfangen sie keinen liebevollen Dank, der von Herzen kommt. Genau daher kommt die Unzufriedenheit einiger, die schliesslich traurig, traurige Priester, und zu einer Art Antiquitäten- oder Neuheitensammler werden, anstatt Hirten mit dem ‘Geruch der Schafe‘ zu sein.” Priestertum bleibt ein Torso oder gerät sogar zur Groteske, wenn es nicht in der radikalen Nachfolge Christi gelebt wird, des guten Hirten, der sein Leben hingegeben hat für die Seinen. Wenn ein Priester diese Radikalität der Nachfolge nicht annimmt und lebt, dann nimmt nicht nur das Volk Gottes Schaden, weil ihm der so notwendige Hirtendienst versagt bleibt, sondern auch der Priester selbst, denn er wird in seinem Dienst weder Erfüllung noch Freude finden.
Was sagen uns diese mahnenden Worte für die pastorale Situation im deutschsprachigen Raum? Allerorten werden die pastoralen Räume vergrössert, da das priesterliche Leitungspersonal schrumpft. Zu Recht wird angemerkt, dass damit die Zuwendung zum Einzelnen schwieriger wird: In einem Pastoralverband mit fünf Pfarreien, einer Reihe von hauptamtlichen Mitarbeitern und 15 000 Katholiken kann der Pfarrer nicht in derselben Weise den Einzelnen nachgehen wie in einer Einzelpfarrei mit 500 Katholiken. Es ist wahr: Die Gefahr ist gewachsen, dass Priester immer mehr zu Verwaltungsbürokraten werden und es scheint ihnen immer weniger möglich zu sein, sich als Hirten um die einzelnen Schafe zu kümmern. Viele Priester erleben diese Entwicklung als belastend – nicht nur aufgrund der Arbeitslast, sondern weil sie gut spüren, dass sie sich vom zentralen Auftrag ihrer Berufung entfernen. Aber hier wäre genauer nachzufragen: Ist es tatsächlich so, dass die Strukturen von selbst die Priester zu Bürokraten machen? Vielleicht ist es heute anspruchsvoller als noch zu anderen Zeiten (in denen es sich ein Pfarrer allerdings auch in seinem Pfarrhaus bequem machen konnte), aber Radikalität der Christusnachfolge und Hingabe im Hirtendienst sind heute nicht weniger möglich als zu allen Zeiten. Gerade in den aktuellen Herausforderungen kann und muss sich die Hirtensorge zeigen, indem sie diese mit ganzer Hingabe zum Wohl des Volkes Gottes angeht. Hirtendienst muss ja nicht immer Einzelseelsorge sein. Er zeigt sich auch und muss sich heute zeigen in der Sorge für die pastoralen Mitarbeiter und in der Begleitung der Laien, die selbst apostolische Dienste übernehmen. Deren Charismen zu entdecken, ihnen Aufgaben anzuvertrauen und sie in ihrem Apostolat zu begleiten, das wird in Zukunft sicher mehr als bisher einen ganz wesentlichen Teil des priesterlichen Hirtendienstes ausmachen. Damit wird auch ein einseitiges Verständnis des Priesteramtes überwunden, das schon das Konzil korrigieren wollte: als sei der Priester der alleinige Seelsorger und die Laien nur die zu Beseelsorgenden. Jesus selbst ist das Modell schlechthin für den guten Hirten. Als solcher wendet er sich zwar immer wieder persönlich den Einzelnen zu. Aber er verbringt auch viel Zeit damit, sich um seine Jünger zu kümmern, die er in seine Mission miteinbezieht. Das kann mutatis mutandis durchaus auf den priesterlichen Dienst übertragen werden. Die Einzelseelsorge bleibt ein wesentliches Element. Es muss Raum für persönliche Gespräche und insbesondere für die Beichte erhalten bleiben. Aber der Priester muss nicht bei allen pastoralen Aktivitäten selbst dabei sein. Er soll auch andere “aussenden” und dann diese (haupt- oder ehrenamtlichen) Mitarbeiter in ihrer Mission ermutigen und begleiten. “Das noch dazu?“, mag da mancher denken. De facto ist das tatsächlich die Erfahrung: Nicht nur grössere Räume mit mehr (auf dem Papier) Gläubigen, sondern auch noch mehr Mitarbeiter betreuen, scheint noch einmal eine zusätzliche Last zu sein. Aber auch hier gilt es genau hinzusehen. Das aktuelle Problem besteht ja nicht darin, dass uns die Leute Gottesdienste und Beichtstühle einrennen würden, so dass die Priester damit zeitlich überfordert wären. Das Problem ist auch nicht, dass wir zu viele engagierte Mitarbeiter für missionarische Projekte in den Pfarreien hätten, und die Priester mit der Begleitung nicht nachkommen würden. Das Problem besteht vielmehr darin, dass sich Gruppen, Strukturen und Gremien bisweilen verselbstständigen und die konsequente Ausrichtung auf den eigentlichen missionarischen Auftrag der Kirche verlorengeht. Hier muss die Hirtensorge wachsam sein. Es gilt je neu zu prüfen, ob die jeweilige Struktur dem missionarischen Grundauftrag dient oder nicht. Dementsprechend muss dafür Zeit und Kraft eingesetzt werden oder auch nicht – oder eben einmal der Mut zur Veränderung aufgebracht werden. So etwas scheint Papst Franziskus vorzuschweben, wenn er in seinem programmatischen Schreiben “Evangelii gaudium“ (Nr. 27) sagt: “Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient.“ Radikalität der Christusnachfolge im Hirtendienst wird sich heute in solch missionarischer Entschiedenheit zeigen. Papst Franziskus selbst demonstriert eindrucksvoll, wie man Arbeit an Strukturen (die Kurienreform), geistliche Unterweisung an viele (in Predigten und Katechesen) und punktuelle Hinwendung zu Einzelnen verbinden und so das geistliche Amt mit Ausstrahlung leben kann. Die Art und Weise, wie er sein universales Petrusamt lebt, ist inspirierend dafür, was Hirtendienst auch auf der lokalen kirchlichen Ebene bedeuten könnte.
Der Autor ist Spiritual des Priesterseminars in München
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